Editorial
Erinnerung, Mobilisierung und Nation
Manfred Sapper, Volker Weichsel, Agathe Gebert
(Osteuropa 12/2004, S. 312)
Volltext
Selten ist die Sicht so klar: Menschen demonstrieren mit blau-gelben Fahnen vor einem Denkmal. Ihr Protest im Dezember 2004 richtet sich gegen manipulierte Wahlen und Pseudodemokratie in der Ukraine. Dank seiner ungewöhnlichen Perspektive gibt das Photo auf der Titelseite gleichzeitig den Blick frei auf das Programm dieses Heftes: Erinnerung, Mobilisierung und Nation. Zu sehen ist das „Denkmal an die Opfer des Holodomor“ in Kiev. Die Vernichtung von sechs bis sieben Millionen Menschen in der Ukraine 1932/1933, also während der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Etablierung des Stalinismus in der UdSSR, ist integraler Bestandteil des Jahrhunderts der Massenvernichtung, wie das 20. Jahrhundert zu Recht genannt wird. Die erste schriftliche Erwähnung der Hungerkatastrophe findet sich 1932 in dieser Zeitschrift. Otto Auhagen schreibt in Osteuropa von „dem furchtbaren Elend“, „das kein Berichterstatter verschweigen darf“. Doch das Verschweigen wurde zur Methode. In der UdSSR war der Holodomor ein Tabu. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Erinnerung an die Opfer und die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit entfalteten dann aber in der Unabhängigkeitsbewegung während der Perestrojka eine ungeheure nationsbildende Kraft. Heute ist der Holodomor für das nationale Selbstverständnis der Ukraine ähnlich bedeutsam wie die Vernichtungserfahrung des Holocaust für das Selbstverständnis Israels. Nun ist es wieder Osteuropa, die den neuen empirischen Befunden der Holdomorforschung ein ganzes Heft widmet. Neben der Annäherung an die historische Wahrheit dient das Heft einem zweiten Ziel: den Holodomor in den Fokus einer vergleichenden Erforschung von Genoziden und anderen Formen der Massenvernichtung zu rücken. Welche hohen analytischen Hürden zu nehmen sind, ehe der Vergleich oder die Kontrastierung neue Erkenntnisse bringen, zeigt Egbert Jahn in seinen Überlegungen zum Holodomor in der Phänomenologie der Massenvernichtung. Dieser Kontrastierung stellen wir durch Illustrationen eine zweite hinzu. Die Lüge und das Verschweigen des Holodomor in der Stalinschen Sowjetunion gingen Hand in Hand mit Glorifizierung und Propaganda. Photographie und bildende Kunst kamen ohne Bezug auf die Symbolik der Nahrung nicht aus. Mit Erntemotiven arbeiten Kazimir Malevič (1928/29) oder Aleksandr Rodčenko/Boris Ignatovič (1929) während des ersten Fünfjahresplans. Und in der Spätphase des Stalinismus erhielt Tatjana Jablonskaja für ihr Gemälde /Brot/ (1949) den Stalin-Preis. Die Bildsprache erinnert an paradiesisches Heil. Milch wird in Strömen fließen, Manna vom Himmel regnen und Nahrung grenzenlos vorhanden sein. Leben ist Überfluß, Sattheit und Glück. Die Realität war eine andere. Wasser und Brot sind die elementaren Bedingungen menschlichen Lebens. Der Entzug von Wasser und Brot zerstört das Leben. Es gehört zur List der Geschichte, daß sich aus dem vorsätzlichen Entzug und dem Mangel, der zu millionenfachem Verdursten und Verhungern führte, die Idee der Ukraine als Nation und als Staat speist.