Titelbild Osteuropa 4/2004

Aus Osteuropa 4/2004
Teil des Dossiers Religion im Konflikt

Liberale Tendenzen in der russischen Orthodoxie
Ein Problemaufriß

Aleksandr Kyrležev

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Abstract

Im Gegensatz zum konservativen Milieu sind liberale Strömungen in der Russischen Orthodoxen Kirche von Wissenschaft und Publizistik weitgehend unbeachtet geblieben. Das hat methodische Gründe und liegt auch an strukturellen Besonderheiten, die dem liberalen Denken inhärent sind. Die Betonung der Freiheit und Individualität ist der Bildung einer liberalen Schule abträglich. Unter Verweis auf den Liberalismus als politische Idee werden im vorliegenden Aufsatz Elemente liberalen kirchlichen und theologischen Bewußtseins rekonstruiert. Die Analyse zeigt, wo liberale Tendenzen existieren oder nur durch Fremdzuweisungen konstruiert werden.

(Osteuropa 4/2004, S. 83–92)

Volltext

In einem[1] seit über zehn Jahren währenden freien gesellschaftlichen Diskurs, der nicht nur in der säkularen Kultur sondern auch in kirchlichen und kirchennahen Kreisen geführt wird, haben sich verschiedenste ideologische Richtungen mit einem Spektrum aller nur denkbaren Positionen herausgebildet und entwickelt. Der Bankrott der sowjetischen Ideologieherrschaft hat verständlicherweise einen Impuls zur Herausbildung von ideellen Konzepten gegeben, die geeignet sein würden, das berüchtigte ideologische Vakuum auszufüllen, d.h. Konzepte, die sich durch einen totalitären Charakter auszeichneten, also mit einem allumfassenden Deutungsanspruch auftraten. Selbstverständlich konnten diese Rolle weder die utilitaristische Ideologie mit ihrem Konzept vom „Wohlstandsstaat“ noch rechtsstaatliche Bewegungen ausfüllen. Nur eine Ideologie religiöser Prägung, die also auf einem gewissermaßen „eingegrenztes Fundament“ ruht, würde es mit der kommunistischen Scheinreligion aufnehmen können. Da es in der russischen Tradition jedoch keine Entsprechungen zu den in den USA entstandenen, sogenannten „säkularen Religionen“ gab, konnte sie sich nur aus einer Religion im eigentlichen Sinne, wie eben der russischen Orthodoxie herausentwickeln.

Allerdings ist das „russische Christentum“ (um einen Ausdruck von Anton Kartašev zu verwenden) in den vergangenen zwei Jahrhunderten außerordentlich reich und vielfältig an geistigen Strömungen gewesen. Es bietet ein breites Spektrum unterschiedlicher Positionen, die von den frühen Slavophilen und der bekannten uvarover Triade von „Rechtgläubigkeit – Autokratie – Volkstümlichkeit“ über den „Gefangenen der Freiheit“ Nikolaj Berdjaev und die christlichen Sozialisten vom Schlage eines Georgij Fedotov bis zu den kirchlichen Erneuerern der 1920er Jahre mit dem Leitspruch von  „Christus als erstem Kommunisten“ reicht. Selbst die sogenannten religiösen Dissidenten der spätsowjetischen Zeit, die sich zwar alle gemeinsam auf der Seite jenseits des Stacheldrahts befanden, vertraten unterschiedlichsten Positionen, die von rechtsstaatlich-ökumenischen bis hin zu nationalistisch-etatistischen Einstellungen reichten.

In der postsowjetischen Gesellschaft hat eine zunehmende Differenzierung ideologischer Positionen, die sich im kirchlich orthodoxen Raum nach und nach herauskristallisiert haben, stattgefunden. Mitte der 1990er Jahre kam es zu einer Polarisierung zwischen einer rechtsnationalistischen Ausrichtung fundamentalistischer Prägung einerseits und einer in Analogie zur gesellschaftspolitischen Kategorie als liberal zu bezeichnenden Ausrichtung andererseits. Erstere hat sich in den darauffolgenden Jahren aktiv entwickelt und dabei immer deutlichere Formen angenommen. Dieser ideologischer Entstehungs- und Entwicklungsprozeß ist von Aleksandr Verchovskij in seinem Buch „Politische Orthodoxie. Die russisch-orthodoxen Nationalisten und Fundamentalisten 1995-2001“ ausführlich dargestellt worden. Das andere Ende des Spektrums hingegen ist bisher praktisch nicht untersucht und beschrieben worden. Allerdings ist eine Beschreibung aus guten Gründen nicht ganz unkompliziert.

Erstens: Wird bei der Betrachtung der verschiedenen Lager das Paradigma von Konservatismus und Liberalismus zugrunde gelegt, können verschiedene Positionen im Hinblick auf das ideologische Material und die entsprechenden Strukturen nicht symmetrisch übertragen werden. Konservative setzen sich für den Erhalt und Schutz bis hin zum „Einfrieren“ (Konstantin Leont’ev) des historisch gewachsenen soziokulturellen „Körpers“ und „Aufbaus“, also gewissermaßen eines Monolithen ein, aus dem sie auch ihre eigene Sicherheit ableiten. Mit anderen Worten: Die konservative Ideologie hat einen positiven, verbindenden Inhalt; ihr Pathos bezieht sich auf bereits bestehende und aktive Wertvorstellungen. Im Gegensatz dazu treten die Liberalen, die das Pathos von Freiheit und einer durch genau diese Freiheit bedingten Entwicklung eint, als Transformatoren und Verbesserer einer als Erbe übernommenen Realität auf. Die Freiheit, das für sie höchste Gut, besteht vor allem in der individuellen Freiheit, deren Umsetzung jedoch eher mit Entfremdung als mit einem Zuwachs an Sicherheit verbunden ist: die Gemeinsamkeit entsteht allein durch das liberale Prinzip an sich. Da also die Struktur des liberalen Lagers weitaus schwächer ausgeprägt ist als die des konservativen Lagers, erfordert dessen systematische Darstellung auch weitaus größere Anstrengungen. Die Position und das Handeln eines Einzelnen bedeuten hier so manches Mal mehr, als das Handeln einer ganzen Gruppe von Gleichgesinnten am anderen Ende des Spektrums.

Ist jedoch die Rede von einer konservativen Richtung in der orthodoxen Welt von heute, kommt als „zu bewahrendes Objekt“ nur die kirchliche Tradition in Betracht, die als Fortsetzung der vorrevolutionären Tradition in einer durch die Sowjetzeit beschnittenen Form überliefert worden ist. Andere historisch verlorengegangene Elemente eines „ganzheitlichen“ ideologischen Komplexes müssen rekonstruiert und an das religiöse Gebilde „angebaut“ werden. Gleichzeitig weisen im Kontext dieser Ideologie einige der für die sowjetische Zeit charakteristischen Merkmale eine Geistesverwandtschaft mit Elementen der russischen Tradition auf, so daß das geistige Erbe der jüngsten Vergangenheit in die Religion reintegriert und in ihr bewahrt werden kann, (beispielsweise Kollektivierung als Sobornost’, Stalins Reich als  Reich der russischen Orthodoxie, sowjetische Nationalhelden als russische Heilige, usw.).

Zweitens: Von einer liberalen Richtung oder einem liberalen Flügel in der russischen Orthodoxie unserer Tage zu sprechen ist nur unter gewissen Bedingungen möglich. So muß zunächst geklärt werden, in welcher Bedeutung und auf welcher Grundlage es überhaupt angebracht und berechtigt ist, diese Bezeichnung in Bezug auf ein religiöses oder religiös-orientiertes Bewußtsein zu verwenden. Dazu ist es notwendig, eine vergleichende Analyse liberaler Ideologie einerseits und den Strukturen christlichen Denkens in den eigentlichen Doktrinen, aber auch in den angewandten, religiös-gesellschaftlichen Bereichen andererseits, durchzuführen.

Der Blick in die Geschichte macht deutlich, daß die europäische Reformation einen gewissen Einfluß auf die Entstehung des Liberalismus als einem Komplex aus Ideen und Prioritäten ausgeübt hat und in gewisser Hinsicht selbst eine protoliberale Revolution auf dem Gebiet der Religion gewesen ist. Es waren die Reformatoren, die den Glauben des Einzelnen in den Vordergrund rückten und einen Anstoß zur freien Erforschung und Ausdeutung der Heiligen Schrift und Kirchengeschichte gaben, was im folgenden zur Entstehung einer kirchenhistorischen Wissenschaft und Bibelkritik führte. Sie waren es auch, die einen Pluralismus religiöser Positionen legitimierten. Ein Ergebnis dieser Vorgänge war die auf ein Vielfältiges angewachsene Zahl der protestantischen Konfessionen und Glaubenszugehörigkeiten, infolgedessen Anfang des 20. Jahrhunderts ein Umkehrprozeß, d.h. die ökumenische Annäherung der Kirchen, an dem die russisch-orthodoxe Kirche von Anfang an, die katholische Kirche erst später mitwirkte, einsetzte. Besonders die Protestanten lehnten die kirchliche Auslegung und die streng hierarchisch aufgebauten kirchlichen Institutionen ab, setzten statt dessen ihre Hoffnungen auf die Kraft und Fähigkeit der freien theologischen Vernunft des Individuums und schufen andere kirchliche Versammlungsformen, die als „Gemeinschaft von Gleichen“ verstanden wurden.

Im Protestantismus des 19. Jahrhunderts stand die sogenannte liberale Theologie, die jedes Dogma ablehnte und sich auf das religiöse Gefühl berief (Pietismus) im Zentrum der Entwicklung. Zusammen mit der christlichen Wissenschaft, die sich der historisch-kritischen Methode bedient, wirkt sich ihr Einfluß auch auf die katholische Kirche aus, in der eine Modernisierungsbewegung entsteht, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Vatikan als „Synthese aller Häresie“ bezeichnet wird. Die Wende von der Reaktion hin zu einer Anerkennung einiger liberaler Werte (eine moderne politische Struktur, Religionsfreiheit und Menschenrechte, ökumenischer Austausch und ein interreligiöser Dialog) vollzieht sich in der katholischen Kirche erst in den 1960er Jahren auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil.

Bei einer Betrachtung der liberalen Tendenzen in der russischen Orthodoxie müssen zwei unterschiedliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden: Das, was im eigentlich religiösen Bewußtsein, auch der Theologie, liberal genannt werden kann. Und das Verhältnis dieses Bewußtseins zum Liberalismus an sich, d.h. zu seiner politischen, wirtschaftlichen und philosophisch-weltanschaulichen Ausprägung.

Soll versucht werden, diesen Sachverhalt zu erklären, müssen zunächst die konstituierenden Merkmale des Liberalismus dargestellt werden. Meiner Meinung nach sind dies der Vorrang der individuellen Freiheit oder ganz allgemein der charakteristische Diskurs über Freiheit und ein dem entsprechender prinzipieller Individualismus; der Egalitarismus und das mit ihm verbundene Weltbürgertum aus dem folgt, jeder Mensch ist vor allen Dingen Mensch und als solcher allen menschlichen Individuen ebenbürtig, eine Haltung, die auch als Anthropozentrismus bezeichnet werden kann; und die Ausrichtung auf eine aktive Umgestaltung der Realität in Übereinstimmung mit der fortschreitenden Dynamik des historischen Entwicklungsprozesses: die Freiheit, zu der der Mensch verurteilt ist, muß in Handlungen umgesetzt werden, welche zu einer Verbesserung der individuellen und gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit führen.

Der „säkulare“ Liberalismus zielt seiner Natur nach auf das Diesseits. Das bedeutet nicht, daß er gegen Gott oder eine Religion gerichtet ist. Die Religion und ihre Ansprüche auf Gotteserkenntnis fallen einfach nicht in den Zuständigkeitsbereich des Liberalismus. Andererseits stärkt der Liberalismus gerade dadurch, daß er nicht beansprucht, eine totalitäre Weltanschauung oder Religion zu sein und sich auf die Freiheit des menschlichen Individuums und dessen unveräußerliche Rechte auf maximale Verwirklichung seiner Stärken und Fähigkeiten konzentriert, die religiöse und weltanschauliche Freiheit, denn die historische Grundlage für Rechte und Freiheiten des Menschen ist bekanntlich die Gedankenfreiheit, jedoch nur als private Angelegenheit „des Menschen und Bürgers“. Denn eigentlich sorgt der Liberalismus zunächst für das Private und erst dann für das Allgemeine.

Und hier liegt der Grundkonflikt zwischen kirchlichem Bewußtsein und liberaler Ideologie. Genauer gesagt, im Verständnis der Freiheit des Menschen, im Verhältnis zur Tradition und vor allem in der Frage der freien Anwendung der rationalen Fähigkeiten des Individuums.

Es ist nicht möglich, die „Ideologie“ des neuen Testaments, wie auch die des alten Testaments, ohne das Pathos der Freiheit richtig zu verstehen. Christus als Gott frei anzunehmen, also den Glauben anzunehmen, ist die Voraussetzung für einen Eintritt in die Kirche. Getreu der alten Regel, wonach man als Christ nicht geboren wird, sondern erst wird. Gleichzeitig ist ein Mensch, dem Gott von Anfang an unveräußerliche Freiheit zubilligt hat, in seinem irdischen Dasein ein Sklave seines Seins und infolgedessen auch der Sünde. Der Glaube befreit ihn aus dieser geistigen Gefangenschaft und gibt ihm die Möglichkeit, in der Wahrheit, d.h. in Gott zur Freiheit zu gelangen. Mit anderen Worten: Die Realisierung der Freiheit ist kein Ziel an sich, denn diese kann sowohl positive als auch negative Züge tragen und erreicht dann das Stadium der Selbstverleugnung.

Der grundlegende Unterschied zwischen liberalen und kirchlichen Auffassungen liegt also auf der Hand. Letztere besitzen einen absolut gesetzten Positivbegriff, aus dem sich ein teleologisch zu deutender Freiheitsbegriff ergibt. Für erstere gilt die Priorität der Freiheit, die allerdings im Grunde genommen über keine Grundlage verfügt und statt dessen funktional aufgefaßt wird und nur das Mittel zum jeweiligen diesseitigen Zweck ist, also den voluntaristischen Zwecken des Individuums dient.

Der Liberalismus ringt mit der Macht der Autorität, zu der auch Traditionen gerechnet werden. Im besten Falle beschäftigt er sich mit der freien Erforschung der Wahrheit und greift dabei auf beliebige Quellen und Mittel zurück; im schlimmsten Fall ist er an allen nichtpragmatischen Wahrheiten desinteressiert. In der Kirche werden Überlieferungen nicht nur bewahrt sondern auch gelebt, da für sie die Offenbarung der Wahrheit, die sich an die Gemeinschaft der Gläubigen richtet, entscheidend ist. Tradition ist das, was die kirchliche Gemeinschaft im Laufe der Geschichte immer weiter gibt. Autorität der Tradition bedeutet daher nicht „Herrschaft der Unbeweglichkeit“ sondern steht für ein verbindliches Zeugnis über den Weg zum Heil.

Auch die Vernunft, die ebenfalls eine von Gott verliehene Gabe des Menschen ist, wird dementsprechend in und von der Kirche weniger als Instrument der individuellen Erkenntnis, sondern vielmehr als dezentralisiertes Mittel eingesetzt, dessen Sammlung es erlaubt, die rationalen Fähigkeiten des Einzelnen zu verbinden, um gemeinsam zu einem tieferen Verständnis der Offenbarung Gottes zu gelangen.

Was also könnte in der Kirche „liberal“ genannt werden?

Aus den bereits dargelegten schematischen Ausführungen zum Liberalismus geht hervor, daß liberale Tendenzen im kirchlichen Bewußtsein dort zu finden sind, wo bestimmte Akzente gesetzt werden: wenn es um den freien Vollzug des Glaubens geht; wenn es um den vollwertigen geistigen und innerkirchlichen Status eines Christen vor allem in seiner Eigenschaft als Laie geht; wenn es um die legitime Anwendung der Kritikfähigkeit der Vernunft in den Grenzen kirchlicher Überlieferung, die natürlich ebenfalls verschieden ausgelegt werden kann, geht; wenn die Kirche als ökumenische Gemeinschaft von Christen angesprochen ist, also die Zugehörigkeit des Menschen zur Kirche und nicht zu irgendeiner bestimmten Gemeinschaft im Mittelpunkt steht, denn immerhin wurden doch auch die Christen in der alten Liturgie der „Apostolischen Beschlüsse“ buchstäblich Kosmopoliten, also Weltbürger genannt; wenn es darum geht, alle Christen als Kirchenmitglieder dazu aufzurufen, die trägen Formen ihres historisch gewachsenen Seins nicht um jeden Preis mit zu tragen und einstweilen danach zu streben, daß die Kirche im hier und jetzt ihrem ureigensten Wesen treu bleibt. Denn die Kirche hat im Lauf ihrer Geschichte zufällige und überflüssige Elemente in sich aufgenommen, die zuweilen ihre wahre Natur und Bestimmung verschleiern.

An dieser Stelle stellt sich natürlich die Frage, weshalb diese Akzente unbedingt als liberal zu bezeichnen sind? Nur darum, weil sie in ihrer Intention mit den Grundzügen des säkularen Liberalismus zusammenfallen? Darum, weil der Liberalismus ein Diskurs über Freiheit, über den Widerstand gegen eine äußere Autorität, die universale Gleichheit der Menschen und das historische Engagement für eine dauerhafte Verbesserung der sich herausbildenden Lebensformen ist?

Sicher sind die genannten Akzente in erster Linie Gemeinplätze des modernen theologischen, auch des orthodoxen Denkens. Zwischen Konservatismus und Liberalismus vollzieht sich die Polarisierung des kirchlichen und kirchlich-gesellschaftlichen Bewußtseins gerade unter Einbeziehung der beschriebenen Tendenzen. Diejenigen, die sich selbst als Konservative bezeichnen, erkennen die Vertreter am anderen Ende der Skala fast ausnahmslos und sozusagen am Geruch als fremdartig, als Gegner und bezichtigen sie eines kirchlichen Liberalismus. Das Zentrum ist eine Leerstelle, obwohl es doch zumindest formal durch die institutionelle Kirchenführung besetzt ist. Diese Führung hält jedoch einstweilen vor allem die Balance zwischen den beiden Polen, wobei sich Annäherung und Entfernung gleichermaßen die Waage halten und bietet dabei weder eine ausgewogene noch eine tiefgründende theologische Position an. Ein Beispiel für diesen Balanceakt sind die „Grundlagen für eine Sozialkonzeption der RIC“, die vom Bischofskonzil im Jahre 2000 verabschiedet wurden.

Wenigstens zwei Ursachen dieser Situation sollten genauer betrachtet werden.

Erstens: Das Niveau der theologischen Bildung und der Theologie an sich ist immer noch ziemlich niedrig. Wie oben bereits kurz dargestellt, zeigt eine Analyse der Wechselbeziehungen zwischen säkularem Liberalismus und dem theologischen Selbstverständnis der Kirche sowohl grundsätzliche Widersprüche als auch bekannte Parallelen auf. Die fundamentalen Dogmen liberaler Überzeugungen, also Priorität von Freiheit, Individualismus, Kosmopolitismus, Verbesserung der Welt etc. können von einem christlichen Standpunkt aus als extrem negativ aber auch als extrem positiv bewertet und interpretiert werden. Es ist also absolut möglich, sich theologisch prinzipiell von dem abzugrenzen, was nicht „kompatibel“ ist und gleichzeitig das anzunehmen, was Parallelen mit der christlichen Tradition aufweist, selbstverständlich nach einer entsprechenden Auslegung. Letzteres ist möglich, da der europäische Liberalismus selbst in der christlichen Kultur wurzelt und deutliche Spuren dieser Verwandtschaft in sich trägt.

Auf eine detaillierte Analyse, die weitaus mehr Platz beanspruchen würde , soll an dieser Stelle verzichtet werden, und statt dessen nur ein Beispiel angeführt werden. Die Tatsache, daß im Zentrum des Liberalismus das menschliche Individuum, Descartes’ „denkendes Subjekt“, das Subjekt der Freiheit steht, hat mit der Zeit bekanntlich zur Stärkung des Individualismus und einer Reihe von damit verbundenen negativen Konsequenzen geführt. Dazu zählen insbesondere die Geringschätzung des Wertes der Gemeinschaft und der Idee des Gemeinwohls, Erscheinungsformen eines ethischen Nihilismus, ganz abgesehen einmal vom „Tod Gottes“. Gleichzeitig ist offensichtlich, daß die Genese des europäischen Individuums der Moderne mit der christlichen Auffassung der Persönlichkeit verbunden ist und ohne diese undenkbar wäre. Nach dieser Auffassung gilt die Persönlichkeit als etwas, das absolut einmalig, vernunftbegabt, prinzipiell frei und in allen Erscheinungsformen dem eigenen Willen verantwortlich ist, das zur aktiven Selbstverwirklichung und vor allem zum ewigen Leben berufen ist. Darüber hinaus ist die Persönlichkeit, als eine von allem außerhalb des ihr Vorherbestimmten vollständig abgetrennte Einheit ihrer Bestimmung nach ein Seinszustand, der dem anderen gegenüber offen ist oder ein Seinszustand in der Gemeinschaft. Sie besitzt einen hohen Status, weil sie, weil jedes menschliche Individuum die Möglichkeit zu einer Begegnung mit dem persönlichen Gott von Angesicht zu Angesicht in sich trägt. Natürlich sind christliche Personalisierung bzw. das religiös-biblische Menschenkonzept, wie sie beispielsweise in der Philosophie von Emanuel Levinas dargestellt wird, ganz und gar nicht daßelbe wie ein säkularer Individualismus. Es ist aber auch klar, daß es zwischen beiden viele Gemeinsamkeiten gibt, die sowohl eine Möglichkeit zum Dialog und als auch zur fruchtbaren Kritik bieten.

Ein Dialog setzt jedoch ernsthafte Arbeit, Denkarbeit, voraus, deren Konsequenz eine Herausarbeitung bedeutungsschaffender Strukturelemente sein muß, als Voraussetzung für die Beschäftigung mit einem soziokulturellen und gesellschaftlich-politischen Entwurf wie dem des Liberalismus, aber auch dem kirchlichen Bewußtsein. Bleibt diese aus, treten ideologische Fragestellungen in den Vordergrund und mit ihnen die entsprechenden notorisch antiliberalen Kräfte, die den Anspruch erheben, im Namen der Kirche zu sprechen. Sie werden sich kaum mit einem dialektischen Ansatz und den Paradoxien der evangelischen Glaubensauffassung, mit denen sich christliche Theologen und Philosophen von Paulus über Kierkegaard bis Berdjaev auseinandergesetzt haben, befassen. Statt dessen konstruieren sie in sich abgeschlossene Ideologien, in denen sich Elemente aus Glaubenslehre und sozialpolitischen Doktrinen mit historiosophischen, geopolitischen und verschwörungstheoretischen Theorien der Autoren in widerspruchsfreier Weise miteinander verbinden. Genau das findet am rechten Ende der Skala statt, wo sich christliches Pathos mit dem Pathos bestimmter Ideologien vermischen, wobei sich Letzteres bestimmend ist..

Darin liegt die zweite Ursache für die aktuelle Lage der Dinge im religiösen Paradigma von Konservatismus und Liberalismus. Im liberalen Lager der Kirche finden sich diejenigen wieder, die sich aus diesen oder jenen Gründen den Konservativen nicht verbunden fühlen, und die allein deshalb niemals Konservative genannt werden könnten, weil ein „guter“ Konservativer immer zum Zentrum neigt und sich einem Dialog und Austausch mit den „guten“ Liberalen in allgemeinen Bereichen, so wie beispielsweise zur Zeit der Westler und Slavophilen, nicht verweigert. Allerdings scheint es im Krieg nicht angebracht, von Guten zu sprechen. Liberale Kirchenkreise werden nur von den radikalen Rechten als solche charakterisiert und von diesen in einen Topf gesteckt, wohingegen die Liberalen selbst keine Partei bilden, keine wie auch immer strukturierte Bewegung darstellen. Die dieser Gruppe zuzurechnenden Vertreter des Klerus und kirchlichen Laien können unterschiedlichste Positionen zu bestimmten Fragen theologischer oder kirchlich-gesellschaftlicher Natur vertreten, ihre persönliche Weltanschauung kann ganz unterschiedlich beschaffen sein. Sie erheben allerdings keinerlei Anspruch auf die Schaffung von in sich geschlossenen Konzepten mit absoluten Deutungsabsichten. Darüber hinaus existieren in Rußland bislang leider noch keine anderen theologisch-philosophisch argumentierten Konzepte, die auch nur entfernt dem gleichen würden und im Niveau vergleichbar wären mit dem, was von den russischen Religionsphilosophen vor und während der Revolution geschaffen wurde,.

Davon ausgehend fällt es relativ schwer, konkrete Beispiel für das Vorhandensein liberaler Tendenzen in der russischen Orthodoxie anzuführen. Vieles von dem, was aus einem antiliberalen Blickwinkel als Liberalismus wahrgenommen wird, ist nur das Ergebnis theologischer Erkenntnisse und dem Verständnis von gesellschaftlichen Realitäten der Gegenwart.

Gleichzeitig ist unbestritten, daß die Tradition religiös geprägten Denkens in Rußland, die bis zu Vladimir Solov’ev als dem „unabhängigen Denker“ zurückreicht im Vergleich mit der alten akademischen innerhalb der Kirche vertretenen Theologie in gewissem Sinn als liberal –frei- bezeichnet werden kann.. Obwohl auch das nicht immer vollständig zutrifft. In diesem Zusammenhang sei an Michail Taresov, einem Professor an der Geistlichen Akademie Moskau erinnert, der fast ein klassischer Liberaltheologe war; oder an einige Merkmale der Theologie des Metropoliten Antonij (Chranovickij), einem an sich äußerst konservativen Vertreter der Kirche.

Der russische religiöse Liberalismus zeigte sich am deutlichsten im Phänomen des sogenannten neuen religiösen Bewußtseins zu Beginn des letzten Jahrhunderts, vor allem in Diskussionen, die im Rahmen religiös-philosophischer Versammlungen stattfanden, auf denen sich dem Christentum zugewandte Angehörige der Intelligencija (Schriftsteller, Dichter und Publizisten) und Kirchenvertreter trafen. Dies muß jedoch vor allem als eine Erscheinung außerhalb der Kirche betrachtet werden und ist daher der Kulturgeschichte russischer Intellektueller und Künstler zuzurechnen.

Wird aber an eine innerkirchliche Erscheinung wie die der „Phase der Erneuerung“ in den 1920er Jahren gedacht, so ist hier nicht so sehr von Liberalismus als vielmehr von Radikalität zu sprechen: die Versuche einer Erneuerung durch Umgestaltung der orthodoxen Liturgie, die affektierte Exaltiertheit des verheirateten Metropoliten und Verkünders Aleksandr Vvedenskijs und die religiös-politisch motivierten Spekulationen im Geiste einer sozialistischen Revolution gingen weit über die Grenzen „liberaler Tendenzen in der russischen Orthodoxie“ hinaus, wenngleich das ursprünglich Pathos der kirchlichen Erneuerer und besonders ihrer vorrevolutionären Vorgänger mit voller Berechtigung liberal genannt werden kann.

Aus Sicht der orthodoxen neuen Rechten gelten fast alle Philosophen und Theologen der russischen Diaspora als Liberale. Vor allem bekannte Vertreter der sogenannten Pariser Schule zählen dazu, also diejenigen, die mit dem theologischen Heilig-Sergievskij Institut in Paris verbunden waren, obwohl hier keine Schule im Sinne einer einheitlichen Lehre vertreten wurde; vielmehr handelte es sich um einen Ort, an dem eine große Vielfalt an Meinungen zu theologischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen existierte. In diesem Fall wird unter Liberalismus offensichtlich die Freiheit der akademischen wissenschaftlich-theologischen Forschung, d.h. die Konsequenz aus dem wissenschaftlichen Paradigma der europäischen Moderne, aber auch die aktive Beteiligung der emigrierten Kirchenvertreter an den ökumenischen Kontakten jener Zeit verstanden. Daher wird auch Vater Aleksandr Men’, der sich viel mit Bibelwissenschaft beschäftigte, der die Tradition russischen religiösen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert erforschte und fortsetzte und darüber hinaus ein überzeugter Anhänger der Ökumene war, dieser Gruppe zugeordnet.

Sehr viel schwieriger verhält es sich mit den religiösen Dissidenten der Sowjetzeit, von denen hier bereits die Rede war. Schon allein die Berufung auf das in der UdSSR formal festgeschriebene Recht auf Gewissens- und Glaubensfreiheit galt bereits nicht nur als praktizierter Antisowjetismus sondern auch als theoretischer Liberalismus. Kann andererseits Aleksandr Solženicyn ein orthodoxer Liberaler genannt werden, nur weil er 1972 mit einer an den Patriarchen gerichteten, kritischen Botschaft zur Fastenzeit auftrat? Oder kann Aleksandr Ogorodnikov, der wegen seiner Forderung nach echter Glaubensfreiheit in der UdSSR viele Jahre im Gefängnis verbracht hat, heute jedoch absolut strengreligiöse Ansichten vertritt, ein orthodoxer Liberaler genannt werden? Die orthodoxe Welt, in der gewendete Mitarbeiter der Sicherheitsdienste in höherem Ansehen stehen als hartnäckige Vertreter einer antisowjetischen Haltung, tut sich in diesem Bereich sehr schwer. Auch wenn einer der führenden orthodoxen neuen Rechten, Vladimir Osipov seinerzeit sogar die Lagerökumene praktiziert hat, so diskreditiert ihn das heute in den Augen der Gleichgesinnten nicht im mindesten.

Was die seit Beginn der 1960er Jahre in Wellen stattfindende Hinwendung der Intelligencija zur Orthodoxie und Kirche betrifft, so unterschieden sich deren Vertreter ideologisch bereits damals, zu sowjetischer Zeit und im weiteren werden sich ihre Wege abhängig von ihren individuellen Vorlieben und Schicksalen noch weiter verzweigen.

Mittlerweile gelten bereits irgendwelche Reform- oder geringfügigen Änderungsversuche und -vorschläge für den orthodoxen Gottesdienst z.B. für seine Sprache als liberal, mögen sie sich dabei auf missionarische, theologische oder kirchengeschichtlichen Argumentationen berufen; in diesem Fall sind die antiliberalen Kräfte buchstäblich Bewahrer der heute praktizierten Liturgie. Dazu gehören auch alle Gespräche über eine Reform der kirchlichen Verwaltung und einer damit verbundenen Aufwertung der Rolle der Laien in der Kirche, über die Wählbarkeit des Klerus und des Bischofs durch die Gemeinde, obwohl eine solche Reform bereits auf der Gutsbesitzerversammlung 1917-1918 durchgeführt wurde.

Als das Phänomen eines kirchlichen Liberalismus par excellence, das häufig als Verrat an der Orthodoxie bezeichnet wird, gelten ökumenische Absichten und Ansichten, d. h. die Bereitschaft, freundschaftliche und brüderliche Kontakte mit den Vertretern anderer christlicher Konfessionen in Rußland und im Ausland in die Praxis umzusetzen. Es ist bekannt, daß die russisch-orthodoxe Kirche solche Kontakte offiziell gepflegt hat, genauso, wie sie an theologischen Dialogen teilgenommen und sich an der eigentlichen Arbeit ökumenischer Organisationen seit Beginn der 1960er Jahre beteiligt hat. Heutzutage hat sie diese Kontakte auf Druck von unten minimiert und hat, zusammen mit anderen orthodoxen Kirchen, sogar scharfe Kritik am Weltkirchenrat geübt. Während allerdings die offizielle Beteiligung der orthodoxen Kirche an der ökumenischen Bewegung immer geknüpft war an das Bekenntnis zu ihren theologischen Positionen und an deren kompromißlose Verteidigung, stützt sich eine rechte Kritik an dieser Beteiligung auf die Wahrnehmung von Ökumene als der „Häresie des 20. Jahrhunderts“ und als „Synthese aller Formen der Häresie“, so daß jeder Austausch mit andersgläubigen auf kirchlichem Niveau unausweichlich als „geistige Entweihung“ bewertet wird..

Wenn wir uns schließlich den außerhalb der Kirche liegenden Dingen zuwenden, werden alle mit dem Liberalismus verbundenen Ideen und Werte als feindlich aufgefaßt. Dies sind in erster Linie die Menschenrechte und die rechtsstaatliche Situation selbst, und vor allem, die Religionsfreiheit, die einen religiösen Pluralismus in der Gesellschaft legitimiert und unterstützt, sowie ein moderner demokratischer Staatsaufbau, ein freier Markt, kulturelle Postmoderne usw. usf., also die Gegenwart als solche.

Orthodoxe Gläubige, die Anhänger demokratischer Werte und Freiheiten sind, gelten als liberal, obwohl sie gleichzeitig als Christen einen im säkularen Liberalismus weit verbreiteten moralischen Relativismus und Nihilismus konsequenterweise streng ablehnen. Dabei können sie durchaus eine harte Haltung in der Frage der Marktregulierung durch den Staat einnehmen oder die die Einführung einer konstitutionellen Monarchie in Rußland verfechten oder sich gar dafür einsetzen, der russisch-orthodoxen Kirche den Status einer Staatskirche zu verleihen. Alle diese und weitere Besonderheiten ihrer Ansichten und Überzeugungen bleiben bei ihrer Einordnung als Liberale unberücksichtigt, da bereits ein Merkmal liberaler Prägung ausreicht, um der entsprechenden Seite der Skala zugeordnet zu werden. So erweist sich die Bezeichnung „kirchliche Liberale“ als Sammelbegriff, besser gesagt, als Label, mit dessen Hilfe die Mitglieder der einander gegenüberstehenden Flügel ihre ideologischen Feinde auf dem orthodox-religiösen und gesellschaftlich-religiösen Schlachtfeld bezeichnen. Die Liberalen selbst formieren sich ihrem Wesen nach ungern zu Haufen, da sie die Freiheit des Einzelnen und die Macht der Vernunft achten. Die kirchlichen Liberalen beziehen sich auf die Grundlage ihrer Botschaft, die unabhängigen Liberalen auf die allgemeinen Grundlagen des Christentums. Daher setzt die Analyse des orthodoxen Liberalismus auch die Darstellung und den Vergleich verschiedener religiöser Richtungen im Bereich des liberalen Flügels des russischen Christentums voraus.

Liberale Tendenzen der russischen Orthodoxie in der Vergangenheit und heute verlangen eine spezielle Untersuchung. Nicht nur als eine Erscheinungsform, sondern auch, weil ein unvoreingenommener Betrachter heute, bei der Anwendung des Paradigmas Konservatismus-Liberalismus ein deutliches Ungleichgewicht feststellen kann, das im kirchlichen Bewußtsein existiert. Gleichzeitig muß eingeräumt werden, daß dieses Paradigma kaum eine sinnvolle Strukturierung des religiösen Felds erlaubt. Hierzu bedarf es anderer Ansätze und Einteilungsmaßstäbe.

Darüber hinaus ist es notwendig, Parallelen zur Situation der Religionen weltweit zu ziehen und sich dabei nicht nur auf die christliche Welt zu beschränken. Angesichts der globalen Herausforderungen tragen die nationalen Probleme, auch die religiösen ein anderes Gesicht als noch vor hundert oder sogar fünfzig Jahren. Das Schicksal des Liberalismus in seiner klassischen Gestalt, (und wir neigen in der postsowjetischen Zeit gerne dazu, uns den klassischen Abschnitten dieser oder jener europäischen Phänomene zuzuwenden und vergessen darüber ihre Entwicklungsphasen und den aktuellen Zustand) ist ebenso problematisch, wie das Schicksal der antiliberalen Richtungen und Wertesysteme. Gleichzeitig spielt der religiöse Faktor in intellektuellen Kreisen, gesellschaftlichen und politischen Bereichen eine deutlich wachsende Rolle.

 

 

 

 


[1]Aleksandr Kyrlež (19xx), 

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