Titelbild Osteuropa 5-6/2004

Aus Osteuropa 5-6/2004

Editorial
Kräftemessen

Manfred Sapper, Volker Weichsel, Agathe Gebert

(Osteuropa 5-6/2004, S. 5–8)

Volltext

Alles neu macht der Mai? Der Rauch der Feuerwerkskörper ist verzogen, die Festreden sind verklungen wie die Klagen über verlorene nationale Souveränität. Ein bißchen Angst ist immer dabei. Und manchmal sogar Hoffnung. Alltag Europa. Die einen feierten mit den neuen – neuen? – Nachbarn, die anderen begingen ihre Mai-Rituale wie eh und je. Und da keine Süd- oder Westerweiterung zu begehen war, wurden aus Madrid, Paris oder Londons Straßen auch keine Freudenfeste vermeldet. Gleichwohl besteht kein Zweifel. Der 1. Mai 2004 markiert eine Zäsur für Europa. An diesem Tag hat die EU die größte Erweiterung ihrer Geschichte vollzogen. Doch nicht das macht sie zu einem historischen Ereignis. Vielmehr finden in diesem Vorgang drei Phasen ihren Abschluß und machen einem neuen Entwicklungsstrang Platz: Die erste umfaßt mehr als ein halbes Jahrhundert. Die Ordnung von Jalta ist überwunden, die den Kontinent geteilt und die Menschen in der einen Hälfte Europas gezwungen hatte, in Unfreiheit und Repression zu leben. Die zweite umfaßt mehr als ein viertel Jahrhundert. Die Idee der Menschenrechte, Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit ist diffundiert und in weiten Teilen Europas zum unhintergehbaren Gemeingut geworden. Diese Idee, fixiert in der KSZE-Charta von Helsinki, war der moralische, „anti-politische“ Bezugspunkt für die Havels, Michniks, Konráds und Sacharovs. Selten ist die subversive Kraft einer Idee so deutlich geworden. Sie half, die verlogene Stabilität der autoritären Regime zu erschüttern, ehe die kommunistische Parteiherrschaft in jenem annus mirabilis kollabierte. Plötzlich war ein kommunistischer Kaiser nach dem anderen nackt. Das Jahr 1989 markiert den Beginn der dritten Phase. Die anderthalb Jahrzehnte seither sind von einem Umbau der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und mitunter sogar der territorialen Ordnung geprägt, dessen Ausgang unklar war. Es gehört zu den Phänomenen historischen Denkens, daß die Einschätzung weit verbreitet ist, das Faktische sei das Normale. Doch es gilt daran zu erinnern, daß dieser heikle Neuaufbau, für den die Geschichte als /magistra vitae /leider keine Blaupause gezeichnet hatte, keineswegs zu einem Erfolg führen mußte. Kontrafaktisches Denken schärft die analytische Kraft. Warum zerfiel die multinationale Tschechoslowakei nicht nach dem jugoslawischen Szenario? Warum konnte der Autokrat Mečiar die Slowakei nicht in eine ähnliche Isolation führen, wie es einem grobschlächtigen Kolchosvorsitzenden namens Lukašenka nach seinem Aufstieg zu einem veritablen Diktator mit Belarus gelang? Und warum konnte in den 1990er Jahren aus der Verarmung breiter Bevölkerungskreise, aus der sozialen Spaltung unter instabilen politischen Bedingungen keiner der Populisten von rechts und links politisches Kapital schlagen? Monokausale Antworten sind Unsinn. Aber eines ist sicher: Der Beitritt zur EU als Ziel des internen Wandels und ihre Rolle als externer Stabilitätsanker sind kaum zu überschätzen. Am Ende dieser Phase steht die politische Einbindung konsolidierter Demokratien mit Marktwirtschaften, die bereits weitgehend mit der europäischen und globalen Wirtschaft verflochten sind. Trotzdem läßt sich all das, was politisch, gesellschaftlich und institutionell mit diesem historischen Ereignis verbunden ist, nicht auf einen Tag verdichten. Die appellativen Worte von Bundeskanzler Gerhard Schröder bei den Feiern am 1. Mai in Zittau sind legitim: „Die Spaltung des Kontinents und die Trennung seiner Bürger ist endgültig überwunden.“ Dies ist das Geschäft des Politikers. Analytisch sei jedoch Skepsis angemeldet, weil diese Sicht ahistorisch anmutet. Gerade aus der ersten „Osterweiterung“, der deutschen Einigung, wissen wir, daß die Überwindung der Trennung keine Sache eines Beitritts oder eines Vertragswerkes ist. Blühende Landschaften stellen sich auch nicht par ordre du Mufti ein – und mag er noch so gewichtig sein. Die Spaltung Europas wird erst in dem Augenblick überwunden sein, wenn die Wohlstands- und Entwicklungsunterschiede in Europa beseitigt sind. Überdies gilt auch nach dieser Erweiterungsrunde: Europa ist mehr als die Europäische Union. Es entspricht dem Selbstverständnis von Osteuropa, nicht aktualistisch verkürzt auf ein Datum zu zielen und auf Öffentlichkeitseffekte zu schielen, sondern die strukturellen Trends zu analysieren und das systematische – mitunter auch der vorherrschenden Meinung widerständige – Moment zu erfassen. Dieser Überzeugung sind das Konzept und der irritierende Umfang des Heftes geschuldet. Wir legen es bewußt in dem Augenblick vor, in dem die feierliche Rhetorik verhallt ist, um zur Reflexion über den Tag hinaus einzuladen: /Die Einigung Europas: Zugkraft und Kraftakt /ist Rückblick und Ausblick auf das Bündel der Herausforderungen zugleich, mit dem das neue Europa konfrontiert ist. Wo steht Europa? Und bieten seine Gestalt und seine Gestaltungskraft Anlaß zur Sorge oder zur Zuversicht? Frappierend unterschiedlich fallen die Bewertungen aus. Bronisław Geremek und György Konrad, zwei Mitgestalter des Umbruchs im Osten und unkorrumpierbare Beobachter der Zeitläufte, betonen den Erfolg des Unternehmens. In Geremeks Worten verdient die Einigung „Gelassenheit, vielleicht auch allgemeine Zufriedenheit und außerdem ein wenig Freude.“ Einiges spricht dafür: Was die Gesellschaften Ostmitteleuropas an Reformfähigkeit bewiesen haben, ist bemerkenswert, mitunter bewundernswert. Die Heranführung an die EU ist gelungen. Die neuen Mitgliedsländer haben das bisher ereichte Niveau an Integration ohne Abstriche übernommen. Erst jüngst betonte dies Günther Verheugen: „Zum ersten Mal in der Geschichte der EU-Erweiterung haben wir einen Erweiterungsvertrag, der den Vertrag nicht schwächt, sondern vollständig aufrechterhält. Es gibt keine Ausnahmen vom europäischen Gemeinschaftsrecht. Das erste Mal gibt es keine englischen oder dänischen Lösungen.“ Nur aus dieser Leistung ist die ungebremste Anziehungskraft zu erklären, welche die EU auf die Türkei, Staaten des Westbalkan oder relevante politische Kräfte in der Ukraine und anderen Staaten Osteuropas ausübt. Doch es sei dahingestellt, ob die Zugkraft der Union ausreichen wird, die erforderlichen Reformen in jenen Ländern anzuregen. Über das Ausmaß des Kraftakts, den die EU auch im Inneren zu bewältigen hat, um politisch und institutionell der Erweiterung gewachsen zu sein, bestehen keine Illusionen. Anders ist nicht zu erklären, weshalb eine intime Kennerin der europäischen Integration wie Barbara Lippert ungeachtet aller Erfolge des vergangenen Jahrzehnts ihre Bilanz, welche Rückwirkungen die Osterweiterung auf die EU gehabt hat, eher in Moll stimmt. Nach dem gescheiterten Verfassungsgipfel im Dezember 2003 diagnostiziert sie einen „europapolitischen Katzenjammer“ als Ausdruck des „Krisengefühl[s] einer Gemeinschaft, der das Vertrauen in die Fortschreibung der Integrationsgeschichte als Auf und Ab von Krisen und Reformen verloren zu gehen scheint.“ Gibt es dazu einen Anlaß? Das vorliegende Heft von Osteuropa gibt darauf mehr als eine Antwort. Voraussetzung dafür ist die Zusammenführung der Integrationsforschung und der Osteuropaforschung gewesen, die durch die unterschiedlichen Entwicklungslinien der beiden Räume während des Ost-West-Konflikts kaum Berührungspunkte hatten und de facto die politische Spaltung des Kontinents institutionell und akademisch reproduzierten. Spätestens jetzt ist es vorbei, daß Vertreterinnen und Vertreter beider scientific communities/ es sich leisten können, die Fragestellungen, Methoden und Erkenntnisse der jeweils anderen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das Ergebnis dieser Integration komplementärer Expertise ist ein Kompendium über die Implikationen der Osterweiterung für das neue Europa. Dabei wechseln die Perspektiven und Zugänge. Den Auftakt machen Versuche, den status quo historisch und sozialwissenschaftlich in die longue durée der strukturellen Entwicklung und der Integrationsmodi einzuordnen. Der zweite Teil ist einer Analyse der politischen und institutionellen Implikationen der Erweiterung der EU auf 25 Mitglieder gewidmet: Hier geht es um die fundamentalen Fragen jeder politischen Ordnung: Um Souveränität und Herrschaft, um Legitimität und Regieren, Solidarität und Konflikte, Subsidiarität und Regionen. Im dritten Teil steht die europäische Gesellschaft im Mittelpunkt. Den Abschluß bilden empiriegesättigte Fallstudien, welche Auswirkungen die Osterweiterung auf die europäischen Politikfelder hat, die von bürokratischen Prozessen und Verfahren derart geprägt sind, daß das Politische und die Entwicklungslogik mitunter kaum mehr zu erkennen sind. Doch ist die Bedeutung von Bürokratie ebenfalls kaum zu unterschätzen. Elmar Rieger bringt diese Sicht in seiner luziden Studie über die Agrarpolitik auf den Punkt: „Wie lange für die Landwirtschaft der Marsch nach Europa tatsächlich ausfällt, entscheiden nicht Werte und Kultur, sondern die Zertifizierung von Zahl-, Verwaltungs- und Bevorratungsstellen, die Einrichtung von Kontroll- und Inspektionssystemen, der Aufbau von Handelsmechanismen und Grenzkontrollen. Diese verwaltungstechnischen Probleme sind für den Erfolg der Osterweiterung sehr viel wichtiger als die vieldiskutierten Fragen einer neuen Machtbalance und Führungsstruktur der Union.“ Ob es um Makro- oder Mikroanalysen geht, ist in einer Hinsicht bedeutungslos: Die hier vermessenen Kräfte sind allgegenwärtig. Die Verschiebungen im Spannungsfeld von ökonomischer Asymmetrie und Anspruch auf politische Gleichberechtigung, von gemeinsamen Werten und kultureller Differenz sind am 1. Mai teils symbolisch bestätigt, teils erst politisch in Kraft gesetzt worden. Klar ist, daß der Kraftakt Europa politisch und intellektuell in Zukunft nicht mehr ohne die Ostmitteleuropäer zu bewältigen sein wird. Nicht ohne ihr Gewicht und nicht ohne ihre Muskeln.