Titelbild Osteuropa 5-6/2004

Aus Osteuropa 5-6/2004
Teil des Lesepaket Internationale Beziehungen

Grenzen des Projekts Europa
Von der Expansionsdynamik zur abgestuften Integration

Georg Vobruba

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Abstract

Die Entwicklung der EU wurde bisher durch Wechselwirkungen von Integration und Erweiterung bestimmt und folgte dem Muster konzentrischer Kreise mit einem Wohlstandskern und einer teilintegrierten Peripherie. Diese Entwicklung stößt jedoch an ihre Grenzen. Denn je weiter die Expansion der Europäischen Union geht, um so höher werden die Integrationskosten. Erweiterung und Vertiefung der Integration treten zunehmend in Widerspruch zueinander. Als Konsequenz wendet sich das Muster konzentrischer Kreise nach innen: Tatsächlich nehmen die Anzeichen für die Entwicklung einer abgestuften Integration innerhalb der EU zu, selbst wenn dies politisch nicht gewollt ist.

(Osteuropa 5-6/2004, S. 61–75)

Volltext

Die Erweiterungskrise der Europäischen Union ist mit dem Vollzug der ersten Runde der Osterweiterung keineswegs gelöst. Im Gegenteil, nun zeichnet sich noch deutlicher ab, daß das dominante Entwicklungsmuster der EU zunehmend in ein Dilemma führt: Einerseits fordert und fördert der spezifische Integrationsmodus der EU ihre sukzessive Expansion. Andererseits aber bringt die weitergehende Expansion der EU Probleme, die ihre Integrationsfähigkeit zunehmend in Frage stellen. Damit stellt sich die Frage, wie lange das gegenwärtige Entwicklungsmuster die Expansion und Integration der EU noch bestimmen wird. Und es stellt sich die Frage, was danach kommt. Die Expansionsdynamik der EU läßt die Grenzen Europas unscharf werden. Es wird uneindeutig, welche Länder in welchem Sinn noch als Teile Europas bezeichnet werden können. Zwar sind geographische Grenzen als unmittelbares Expansionshindernis zweitrangig, doch spielen sie eine Rolle, da sie wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede markieren: Die weitere Expansion der EU bringt eine exponentielle Zunahme von Unterschieden innerhalb der EU mit sich. Eine entscheidende Konsequenz ist, daß die Expansionsdynamik des Projekts Europa immer höhere Integrationskosten verursacht. Damit treten Expansion und Integration der EU zueinander zunehmend in Widerspruch. Zeichnen sich in der EU institutionelle Antworten auf dieses Problem ab? Ich werde zuerst die Mechanismen darstellen, welche die Integration und Expansion der Europäischen Union antreiben. Anschließend werde ich Grenzen der Wirksamkeit der Mechanismen von Integration und Erweiterung analysieren. Dann werde ich diese Überlegungen auf die Konflikte um den EU-Beitritt der Türkei zuspitzen. Schließlich werde ich Überlegungen zu einer abgestuften Integration der EU nach dem Ende ihrer Expansionsdynamik zur Diskussion stellen. Die Dialektik von Integration und Expansion Der politische und wirtschaftliche Einflußbereich der Europäischen Union ist nach dem Muster konzentrischer Kreise strukturiert. Im Zentrum befindet sich ein politisch stabiler Bereich materiellen Wohlstands. Außerhalb dieses Bereichs nimmt der Wohlstand mit zunehmender Entfernung vom Zentrum immer mehr ab. Zwischen den einzelnen Zonen unterschiedlichen Wohlstands existieren Grenzen mit unterschiedlicher Durchlässigkeit; die Durchlässigkeit der Grenzen nimmt von der Peripherie zum Zentrum hin ab. Daraus ergibt sich, daß die wohlhabende Kernzone zweifach abgesichert ist. Es gibt für den Eintritt von außen sowohl graduell abnehmende Anreize als auch graduell zunehmende Hindernisse. Die Expansionsdynamik der EU läuft auf die Absicherung des wohlhabenden Kerns der EU durch kalkulierte Einbeziehung ihrer Peripherie zu akzeptablen demokratischen und rechtsstaatlichen Bedingungen hinaus. Wodurch gewinnt die Expansion der EU ihre Dynamik? Die beiden folgenden Mechanismen sind dafür verantwortlich: Erstens: Zwischen der EU und ihrer Peripherie bestehen starke Wohlstandsgefälle. Wohlstandsgefälle bergen auch für ihre wohlhabendere Seite Probleme, da zahlreiche Probleme der ärmeren Seite die Tendenz haben, auf die reichere auszustrahlen (Migration, grenzüberschreitende Umweltbelastungen, politische Instabilität). Darum ist die wohlhabende Kernzone der Europäischen Union an der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer armen Peripherie interessiert. Die sich daraus ergebende Dynamik wirkt tendenziell auf einen Abbau des Wohlstandgefälles hin. Wohlstandssteigerungen im ärmeren Land bedeuten aber nicht nur eine Verkleinerung des Wohlstandsgefälles gegenüber dem wohlhabenden Kern, sondern auch eine Vergrößerung des Gefälles gegenüber noch ärmeren Nachbarn. Mit der Integration der vormals peripheren Regionen in den wohlhabenden Kern verschiebt sich also das Wohlstandsgefälle nach außen. Dadurch ist in dieses Muster eine beständige Expansionstendenz eingebaut. Denn jedes dem wohlhabenden Kern neu angelagerte Vollmitglied der Europäischen Union entwickelt seinerseits ein Interesse an einem sicheren und prosperierenden Vorfeld, an einer Pufferzone. Wenn die jeweils äußeren Regionen die prosperierende Kernzone der Europäischen Union von externen Störungen abschirmen sollen, dann dürfen sie selbst keine allzu gravierenden politischen und ökonomischen Probleme haben. Das ist die Erklärung dafür, daß „die Erweiterung für die EU […] nicht ein einmaliges, abschließend behandelbares Thema, sondern ein andauernder Prozeß ist“. Folglich ist jeder Erweiterungsschritt der Europäischen Union ein Grund für ihre weitere Expansion. Zweitens: Die Vertiefung der Integration der Europäischen Union modifiziert ihre Außenverhältnisse. Der generelle Effekt besteht darin, daß der wohlhabende Kernbereich mit zunehmender Vertiefung der Integration immer direkter von dem berührt wird, was an seiner Peripherie stattfindet. Dadurch entwickeln sich im Kern unmittelbare Interessen an der Sicherung der gemeinsamen Außengrenze und an den ökonomischen und politischen Verhältnissen der umliegenden Regionen. Je tiefer die Länder der Europäischen Union integriert sind, je weniger Binnendifferenzierungen sie also aufweist, um so deutlicher wird ihr gemeinsames Interesse an der Außengrenze und an den politischen und sozialen Verhältnissen jenseits der Grenze. Aus diesem Interesse ergeben sich zwei Politikmuster: Grenzschließung und Erweiterung. Die Politik der Erweiterung läuft auf kalkulierte Inklusion der Peripherie hinaus, Grenzschließung auf Abschottung der EU von Außeneinflüssen. Im Zusammenwirken von beiden reproduziert sich das Muster konzentrischer Kreise auch jenseits der Grenzen der EU. Grenzschließung und Erweiterung werden in unterschiedlichen Kombinationen realisiert. Grenzschließung Daß innerhalb einer wohlhabenden Kernzone grenzüberschreitende Prozesse als Bedrohung wahrgenommen werden, ist um so wahrscheinlicher, je ungleicher der Nutzen und die Kosten dieser grenzüberschreitenden Prozesse verteilt sind und je geringer die Möglichkeit und die Bereitschaft ist, die Kosten zu tragen. Die klassische Reaktion darauf ist der Ruf nach Grenzschließung. Dies läßt sich insbesondere beim Thema Migration beobachten. Eine Politik, die auf Grenzschließung hinausläuft, wird von den niedrig qualifizierten Arbeitskräften und wirtschaftlich schwachen Unternehmen in weniger wettbewerbsfähigen Branchen innerhalb einer reichen Ökonomie angetrieben. Sie bilden miteinander Schutzallianzen gegen offene Grenzen, fordern teils Importrestriktionen, teils Immigrationsbeschränkungen. Ihre Interessen und Forderungen sind zwar nicht deckungsgleich, konvergieren aber darin, daß sie den Nationalstaat als Bollwerk gegen bedrohliche Außeneinflüsse sehen und nutzen wollen. Solche Interessenkonstellationen prägten schon die Auseinandersetzungen um den Abschluß des North American Free Trade Agreement (NAFTA) zu Beginn der 1990er Jahre und nun den Präsidentschaftswahlkampf in den USA im Jahr 2004 . Anschauungsmaterial dafür findet sich auch im Verhältnis der Europäischen Union zu den neuen Reformstaaten im Osten. Entgegen ihrem programmatischen Anspruch sind alle Arten von Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Staaten Ostmittel- und Osteuropas nicht asymmetrisch zugunsten, sondern zu Lasten dieser Staaten. Die Paradoxie, daß die Europäische Union gerade mit ihrer Exklusionspolitik gegen ihre arme Peripherie starke Integrationsinteressen dieser Länder schafft, trägt wesentlich zur Expansionsdynamik des Projekts Europa bei. Seit Jahren gibt es eine starke Tendenz zur technischen Aufrüstung der gemeinsamen EU-Außengrenze. Parallel dazu wurden, insbesondere durch das Konzept des „sicheren Drittlandes“, Abschiebungsketten installiert. Die deutsch-polnische Grenze ist ein gutes Beispiel. Zum einen wurde in neue Kontroll- und Fangtechnologien investiert. Zum anderen wurde das Kontroll- und Abschiebeproblem durch Rückführungsverein-barungen von der deutschen Ostgrenze an die polnische Ostgrenze verschoben. Als Resultat der Rückführungsvereinbarung zwischen Deutschland und Polen hat die polnische Regierung ihrerseits Verträge mit der Tschechischen Republik, der Ukraine, der Slowakischen Republik, mit Rumänien und Bulgarien abgeschlossen und damit die rechtlichen Voraussetzungen für ein internationales Ab- und Durchschiebesystem geschaffen. Damit werden zugleich die politischen Kosten der Exklusionspolitik vom Zentrum auf die Peripherie abgewälzt. Es ist das Dilemma der polnischen Regierung, einerseits EU-Mitglied werden zu wollen und andererseits ihre ökonomischen Interessen und gutnachbarschaftlichen Kontakte mit den östlichen Nachbarländern pflegen zu müssen. Der sogenannte kleine Grenzverkehr und die grenzlandspezifische Ökonomie – die nicht immer ganz legal ist – an den Ostgrenzen der neuen EU-Mitglieder haben in jüngerer Vergangenheit zu Verbesserungen dieser traditionell unterentwickelten Regionen auf beiden Seiten der Grenze beigetragen. Werden diese EU-Außengrenzen den Schengen-Kriterien entsprechend gestaltet, besteht die Gefahr, daß diese Entwicklung unterbrochen wird. Die Regionen nahe der neuen EU-Außengrenzen zählten schon bisher zu den ärmsten ihrer Länder und der EU. Sie werden durch die Schengen-Grenze zu Verlierern der Erweiterung. Dies trägt zur Zunahme der regionalen Disparitäten in den neuen Mitgliedländern bei, die in Folge ihres Beitritts zur EU zu erwarten sind. Kalkulierte Inklusion Grenzen lassen sich nicht völlig dicht machen. Manche grenzüberschreitenden Prozesse lassen sich nur mit unverhältnismäßig hohen Kosten aufhalten, bei manchen ist dies systematisch unmöglich. Die Erfahrung oder die Einsicht, daß der Erfolg von Exklusionspolitik also begrenzt ist, führt zu politischen Strategien, die auf kalkulierte Inklusion hinauslaufen. Dies ist um so wahrscheinlicher, je stärker die Bewältigung unaufhaltbarer grenzüberschreitender Prozesse politikbestimmend wird. Kalkulierte Inklusion folgt der Logik „eigennütziger Hilfe“. Es geht dabei um das Interesse des Helfenden, Probleme dort zu lösen, wo sie entstehen, um unerwünschte grenzübergreifende Einflüsse „vom Terrorismus bis zur Luftverschmutzung“ zu verhindern. Insbesondere soll die Unterstützung der Transformation und Modernisierung ehemaliger Planwirtschaften und die wirtschaftliche Unterstützung der Mittelmeeranrainer zu besseren Lebensbedingungen an der Peripherie Europas führen und die Push-Faktoren für grenzüberschreitende Migration abschwächen. Eigennützige Hilfe beruht also auf der politisch folgenreichen Einsicht der wohlhabenden Kernzone, daß „eure Probleme auch unsere Probleme sind“ – eine Formel, die vor allem in den ersten Jahren nach 1989 von westeuropäischen Politikern gerne verwendet wurde, um Finanzhilfen für die Reformstaaten vor der eigenen Wählerschaft zu rechtfertigen. Spiegelbildlich kam und kommt aus den Reformstaaten immer wieder der Hinweis, daß „unsere Probleme auch eure sind.“ Expansion durch Inklusion in Richtung Osten ist durch den Fall des eisernen Vorhangs möglich und in der Perspektive der Interessen der Europäischen Union dringend erforderlich geworden. Die EU hat ein vitales Interesse an der bevorstehenden Erweiterung, die, nicht nur historisch begründetes Gebot ist, sondern auch die einzige Möglichkeit bietet, Destabilisierung und Konflikte in den Grenzregionen und den damit verbundenen Migrationsdruck zu verhindern. Es ist sicher, daß die Erfahrungen mit den beiden Jugoslawien-Kriegen in den 1990er Jahren dieses vitale Interesse der Europäischen Union noch verstärkt haben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die überraschend schnelle völkerrechtliche Anerkennung Sloweniens, welche durchaus zum Zerfall Jugoslawiens und den bewaffneten Folgekonflikten beitrug, auch durch das Interesse motiviert war, zwischen der EU und den sich abzeichnenden instabilen Konfliktregionen des Westbalkan eine Pufferzone zu schaffen. Die Einrichtung der Pufferzone Slowenien beschleunigte den Ausbruch genau jener Konflikte, vor denen sie dann die Europäischen Union abschirmte. Versteht man die deutsche Wiedervereinigung als Integration der ehemaligen DDR in die Europäische Union (und in die NATO) und damit als Vorgriff auf die Osterweiterung, so findet man ein anschauliches Beispiel dafür, wie das Interesse an politisch und wirtschaftlich stabilen Nachbarn die Expansionsdynamik der EU antreibt. Nach 1989 wurde Deutschland binnen kürzester Zeit in Europa zum Anwalt der Interessen seiner östlichen Nachbarn, in die Europäische Union und in die NATO integriert zu werden. Denn offensichtlich erkannte das wiedervereinigte Deutschland aufgrund seiner geopolitischen Lage, daß es Unruhen an seinen Ostgrenzen frühestmöglich verhindern mußte. Die deutsche Politik für die Sicherheit Europas trug dadurch seit 1990 in gewissem Maße den Charakter einer Stabilisierungspolitik. Bis heute scheint es das Prinzip dieser Politik zu sein, lieber Stabilität zu exportieren als Instabilität zu importieren. Als einer der ersten Befürworter der NATO-Erweiterung wies Verteidigungsminister Rühe darauf hin, daß es im Interesse Deutschlands liege, von stabilen Demokratien, Partnern und Alliierten umgeben zu sein. „Wir wollen nicht der Staat am Rande Westeuropas sein.“ Es entspricht dieser Logik kalkulierter Inklusion, daß Vertreter von Ländern der EU-Peripherie ihre spezifische geopolitische Lage als Argument für die Aufnahme in die EU verwenden. In diesem Sinn antwortete der damalige polnische Präsident Kwasniewski auf die Frage „Was bringt Polen in dieses Europa ein?“: Unsere strategische Lage, die uns viel Leid eingetragen hat, aber ebensoviel Kompetenz im Umgang mit den Nachbarn, gerade denen im Osten. Polen leistet viel für die Stabilität dieser Region. Derselben Logik folgend wird die strategische Rolle der Türkei in der Diskussion um ihre EU-Mitgliedschaft betont. Inklusion und Exklusion Die gegenwärtige Integrationstiefe der Europäischen Union wurde durch die Schaffung des Schengen-Raumes ohne Binnengrenzen und des gemeinsamen Währungsraumes durch den EURO und die Maastricht-Kriterien hergestellt. Mit dem Schengen-Abkommen wurden die Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union weitgehend abgeschafft. Der unmittelbare Effekt davon war, daß die Situation in allen Regionen der EU-Außengrenze für den wohlhabenden Kernbereich – und vor allem für Deutschland – unmittelbar interessant wurde. Vor dem Schengen-Vertrag bedeutete die Einreise von Nordafrika nach Spanien, daß man in Spanien war. Nach Schengen bedeutet die Einreise von Nordafrika nach Spanien im Prinzip, daß man im gesamten Schengen-Land ist; also auch in Deutschland, Frankreich, Skandinavien etc. Ein guter Indikator für die dadurch bewirkten Veränderungen ist die Entwicklung in den afrikanischen Enklaven Spaniens, in Ceuta und Medilla. Grenzposten dort berichten, daß im Grenzgebiet vor dem Schengen-Abkommen weitgehend Friede herrschte. Das änderte sich mit dem Abkommen schlagartig. Jetzt gibt es dort einen immensen Immigrationsdruck und eine kostspielige technische Aufrüstung der Grenze. Insgesamt haben mit dem Schengen-Abkommen der Immigrationsdruck aus dem Süden, das professionelle Schlepperwesen am Mittelmeer und die Gewalttätigkeit im border crossing business dramatisch zugenommen. Die Berichte über Flüchtlingskatastrophen in der Mittelmeerregion erinnern immer mehr an die Situation in der Karibik und an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Einerseits führt die vertiefte Integration zu einem gemeinsamen Interesse der reichsten EU-Länder an hohen Kontrollstandards an der EU-Außengrenze und zu Versuchen, die Kontrollpraktiken der EU-Mitglieder mit Außengrenzen ihrerseits zu kontrollieren. Andererseits führt die voranschreitende europäische Integration zur Entwicklung eines gemeinsamen Interesses der reichen Kernländer an der Verbesserung der materiellen Lage und der Stabilisierung der politischen Verhältnisse in den Nachbarregionen – also zu eigennütziger Hilfe für die Nachbarn. 1995 initiierte die Europäische Union den so genannten Barcelona-Prozeß. Es geht dabei um die Entwicklung einer intensiveren Partnerschaft zwischen der EU und den Mittelmeerländern. Dieser Prozeß schließt die Mitglieder der Europäischen Union und zwölf mediterrane Partner ein, alle Mittelmeeranrainer mit Ausnahme von Libyen und Mauretanien. Zwar sind im Barcelona-Prozeß einstweilen noch viel geringere finanzielle Summen im Spiel als bei der Unterstützung der östlichen Reformstaaten. Das Ziel aber ist das gleiche: Die Europäische Union versucht das Wohlstandsgefälle zwischen sich und den Nachbarn zu verringern, um den Immigrationsdruck zu mildern. Für das Jahr 2010 ist eine Freihandelszone geplant. Aus Sicht der Europäischen Union hat eine solche Inklusionspolitik in Richtung Süden zwei Vorteile gegenüber den Versuchen, ihre Außengrenzen abzudichten. Erstens kann sie mit entsprechender Dominanz des Nordens handeln, und ist nicht ausschließlich auf die Außen- und Sicherheitspolitik einzelner Mitgliedsländer angewiesen, deren Grenzen zugleich EU-Außengrenzen sind. Das ist ein Vorteil, weil unsicher ist, ob diese Länder überhaupt strikt kontrollieren können und wollen. Die Interessenpositionen gegenüber Immigration etwa in Spanien unterscheiden sich von denen der Europäischen Union erheblich. Die spanische Landwirtschaft ist an legalen und illegalen Immigranten interessiert und mit der restriktiven Immigrationspolitik der Union keineswegs einverstanden. Und zweitens werden durch die Inklusionspolitik starke Wohlstandsgefälle und politische Instabilität unmittelbar an der EU-Außengrenze gemildert. Es entwickelt sich abermals das Muster konzentrischer Kreise weiter, das den Stabilitätsinteressen der Europäischen Union entspricht. Die nächste Runde von Exklusion ist schon abzusehen. In dem Maße, in dem die östlichen und südlichen Nachbarstaaten der Europäischen Union zur Durchgangspassage für Migranten aus anderen Teilen der Welt in die EU werden, wird diese erneut darauf hinwirken, daß diese Staaten ihre Grenzen abdichten. Es werden weiter reichende Abschiebungsketten – vor allem über die erste und die zweiten Reihe der östlichen Nachbarn der Europäischen Union hinaus – eingerichtet werden. Bereits vor der Erweiterung der Europäischen Union im Mai 2004 zeigte sich, daß sich dieses Exklusionsmuster weiter nach außen verschieben und daß sich damit die Politik ringförmiger Absicherung des Wohlstandskerns der EU fortsetzt. So regt das Strategiepapier „Wider Europe“ an: Die EU sollte ihren Nachbarstaaten helfen, die illegale Immigration zu bekämpfen und effiziente Abschiebemechanismen, vor allem im Falle der illegalen Transit-Immigration, zu entwickeln. Eine gemeinsame Vereinbarung mit allen Nachbarn, angefangen mit Marokko, Rußland, Algerien, Ukraine, Belarus und Moldova wäre ein ganz wichtiger Bestandteil gemeinsamer Anstrengungen zur Kanalisierung von illegaler Immigration. Die Analyse zeigt, daß die Entwicklung der Europäischen Union bisher tatsächlich der beschriebenen Dialektik folgte: Es kommt zur Vorverlagerung von Grenzen, zur Installierung von Abschiebeketten und damit zu Interessenkonflikten zwischen der (teil-)inkludierten Peripherie und ihren äußeren Nachbarn. Und es kommt zugleich zur Vorverlagerung und tendenziellen Abschwächung des Wohlstandsgefälles und zur sukzessiven Ausdehnung der Perspektive, künftig in den vom reichen Kern ausgehenden Inklusionsprozeß einbezogen zu werden. Dieses Entwicklungsmuster hat sich jahrzehntelang eingespielt und dominierte bislang das politische Vorstellungsvermögen der politischen Akteure in der Europäischen Union und bei ihren Nachbarn. Die Kombination von kalkulierter Inklusion und Grenzschließung läuft insgesamt darauf hinaus, daß die EU sich zum Ziel setzen sollte, eine Zone von Wohlstand und freundschaftlicher Nachbarschaft um sich herum zu errichten: Einen Ring befreundeter Staaten, mit denen die EU intensive und friedliche Kooperationen pflegt. Dieses bereits mehrfach zitierte Strategiepapier „Wider Europe“ verspricht der Peripherie vielfältige Kooperation knapp unter dem Niveau einer EU-Mitgliedschaft, damit sie sich zu dauerhaften Puffer- und Stabilitätszonen entwickeln. Ein wichtiges Problem zwischen der EU und den Ländern dieser Peripherie entsteht in diesem Zusammenhang dadurch, daß die Versprechen der EU sowohl als Tauschangebote für die Übernahme der Pufferfunktion als auch als Unterstützungsangebote für die Stabilitätsentwicklung verstanden werden können. Denn an diese beiden Deutungen sind unterschiedliche politische Konsequenzen geknüpft. Versteht sich ein Land der EU-Peripherie primär als Pufferzone, wird damit eher eine finanzielle Dauerforderung gegenüber der EU begründet. Mit der Deutung als eine sich umfassend entwickelnde Stabilitätszone wird damit eher wirtschaftliche Hilfe als ein Anstoß für eine selbsttragende Entwicklung assoziiert. Im ersten Fall besteht Konsens über eine special relationship unterhalb der EU-Mitgliedschaft, im zweiten Fall bleibt eine spätere Vollintegration in die EU im Bereich des Denkmöglichen und damit auch im Erwartungshorizont. Entsprechend zeichnen sich zwei mögliche Reaktionsformen der Länder ab, die von der EU als Mitglieder des „Rings befreundeter Staaten“ anvisiert werden. Die eine Reaktion besteht in dem Versuch, sich die zugedachte Pufferfunktion möglichst hoch entgelten zu lassen. Man erwartet keine spätere Vollmitgliedschaft samt den damit verbundenen Vorteilen und läßt sich darum den Nutzen, den man als Stabilitätszone für die EU hat, unmittelbar von ihr entgelten. Die zweite Reaktionsmöglichkeit besteht darin, die Zugehörigkeit zum „Ring befreundeter Staaten“ als Durchgangsstadium zu verstehen und auf eine spätere Vollmitgliedschaft in der EU zu insistieren. Genau in diesem Sinne bemerkt der ukrainische Außenminister Hryščenko, „es wäre unlogisch, die Ukraine nicht zu akzeptieren“. Fragt sich nur: welche Logik dominiert die Expansionspolitik der EU? Das läßt sich am besten an einem Beispiel untersuchen. Grenzen der Erweiterung. Das Beispiel Türkei Die Entwicklung der Annäherung zwischen der Europäischen Union (früher EWG) und der Türkei hat eine lange und einzigartige Geschichte. Die Türkei wurde bereits 1963 Assoziiertes Mitglied der EWG, schon damals mit der Aussicht auf spätere Vollmitgliedschaft. 1989 wurde ein Beitrittsantrag der Türkei von der EU nicht akzeptiert, 1996 eine Zollunion mit der EU eingeführt. 1999 wurde die Türkei zum Beitrittskandidaten; Beitrittsverhandlungen sollten aber erst nach Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien beginnen. Ende 2004 will die EU entscheiden, ob sie Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnehmen wird. An der Problematik des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union läßt sich beispielhaft zeigen, in welcher Weise die Expansion der EU an Grenzen gerät. Dazu sei an drei Besonderheiten erinnert, die das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei kennzeichnen. Das Interesse an einer EU-Mitgliedschaft liegt keineswegs einseitig bei der Türkei. Die Türkei markiert die Grenze zwischen Europa und Asien; eine Grenze, die durch kulturelle und religiöse Differenzen politisch stark aufgeladen wird. Die Bedeutung dieser Differenzen hat nach dem Wegfall der früheren weltpolitischen Leitdifferenz Kapitalismus versus Kommunismus noch zugenommen. Das Potential der Türkei als politische Brückenmacht läßt sich schon an ihrer besonderen Stellung in der NATO und am spezifischen Interesse der USA an einer EU-Mitgliedschaft der Türkei erkennen. Jenes wird von ihr selbst als wichtiges Qualifikationsmerkmal für eine EU-Mitgliedschaft ins Treffen geführt. Eine Verständigung zwischen Ost und West, so der Ehrenpräsident des Verbandes türkischer Industrieller und Unternehmen, Bülent Eczacibaşi, „kann es nur mit der Integration der Türkei in die westliche Welt geben“. Die erste Besonderheit besteht also in der spezifischen Lage der Türkei, die sie zu einer geopolitisch hoch relevanten Region macht. Zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union und der Türkei bestehen große kulturelle Unterschiede. Dies betrifft die Einstellung der Bevölkerung zu Fragen der Lebensführung (Familienverständnis, Geschlechterrollen) wie zu Fragen der Politik (Demokratieverständnis, Verhältnis von Politik und Religion). Vor dem Hintergrund der Selbstinterpretation der Europäischen Union als „Wertegemeinschaft“ ergeben sich kulturelle Unterschiede in einer Größenordnung, mit der die EU anläßlich früherer Beitrittsprozesse noch nie konfrontiert war. Noch dazu besteht in der Türkei Uneinigkeit darüber, ob ein Abbau dieser Unterschiede im Zuge der EU-Mitgliedschaft wünschenswert ist. Die einen stehen der Verwestlichung der Türkei infolge einer EU-Mitgliedschaft reserviert gegenüber, die anderen sehen gerade im Abbau kultureller Differenzen einen Zweck der Mitgliedschaft. Die zweite Besonderheit besteht also in den kulturellen Differenzen zwischen der EU und der Türkei und den unterschiedlichen Interessen am Abbau dieser Differenzen. Türken, die in Mitgliedsländern der Europäischen Union leben, stellen dort ein relevantes politisches Potential dar. Dadurch hat die Frage nach der EU-Mitgliedschaft der Türkei in den Kernländern der EU, insbesondere in Deutschland, auch eine starke innenpolitische Komponente. Fragen der Erweiterung der EU werden in den Mitgliedsländern der EU als Spezialfälle von Außenpolitik behandelt. Außenpolitik ist parteipolitisch eher schwach besetzt. Die Frage des Beitritts der Türkei zur EU dagegen berührt unmittelbar die Interessen relevanter Wählergruppen und ist darum (zumindest in Deutschland) ein innenpolitisches Thema – mit entsprechend starker parteipolitischer Kodierung. Dazu kommt noch die komplizierte Beziehung zwischen Griechenland und der Türkei. Daraus folgt die dritte Besonderheit: Der Beitritt der Türkei zur EU wird in manchen Mitgliedsländern der EU, insbesondere in Deutschland und in Griechenland, auf einem höheren innenpolitischen Konfliktniveau abgehandelt als Beitritte anderer Länder. Das Beispiel der Türkei zeigt: Die Grenzen des Projekts Europa lassen sich immer nach außen verschieben. Und es ist zu erwarten, daß die Grenzen nach außen verschoben werden, wenn dies einen entsprechenden politischen Nutzen verspricht. Zugleich aber werden die Kosten der Expansion immer höher. Es ist zu erwarten, daß sich die Logik der Expansion des Projekts Europa im Falle der Türkei durchsetzen wird. Ich sehe zwei Argumentationsstrategien, um diese These plausibel zu machen. Man kann zum einen interessentheoretisch argumentieren. Hier lautet die Ausgangsfrage: In welcher Weise knüpfen politisch relevante Interessen an die genannten Besonderheiten in der Konstellation EU-Türkei an? Für die Mitgliedschaft sprechen die eindeutig gerichteten, starken geopolitischen Interessen. Ihnen stehen Bedenken entgegen, die weniger eindeutig sind: Dem Hinweis auf die erheblichen kulturellen Unterschiede als Argument gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei steht das Argument entgegen, daß gerade die Mitgliedschaft diese Unterschiede abzubauen hilft. Und die innenpolitische, parteipolitische Aufladung des Themas bedeutet, daß es zwar Ablehnung, ebenso aber auch explizite Unterstützung einer türkischen EU-Mitgliedschaft gibt. Für die Wahrscheinlichkeit einer EU-Mitgliedschaft der Türkei lassen sich auch Argumente aus dem systemtheoretischen Diskurs entlehnen. Ein Basistheorem der Systemtheorie besteht bekanntlich darin, daß die funktional spezialisierten Teilsysteme der modernen Gesellschaft entsprechend jeweils systeminternen binären Codes operieren. Für das politische System ist die Unterscheidung von Macht haben – Macht nicht haben ausschlaggebend. Das bedeutet, daß Politik hoch empfindlich für alle Signale aus seiner Umwelt ist, die sich in Macht/Nicht Macht übersetzen lassen. Und es bedeutet umgekehrt, daß sich das politische System nach Signalen, die sich diesem Code nicht fügen, nicht richten kann. Man kann die besonderen Merkmale der Integrationsfrage der Türkei entsprechend der Leitdifferenz des politischen Systems sortieren und damit auf ihre politische Relevanz hin prüfen. Von ausschlaggebender Bedeutung sind all jene Besonderheiten der Türkei, die mit der geopolitischen Lage zusammenhängen, da die Beitrittsfrage von besonderem geopolitischen Interesse ist. Das System internationaler Politik ist für geopolitische Merkmale der Türkei stark resonanzfähig, für kulturelle oder religiöse Besonderheiten dagegen nur so weit, wie diese unmittelbar in politische Signale transformiert werden können, etwa indem man mit dem Hinweis auf kulturelle Differenzen Wählermehrheiten gegen einen EU-Beitritt der Türkei mobilisiert. In der Summe gibt es deutlich mehr Signale, die zu einer Politik der Machtsicherung durch Vollmitgliedschaft führen werden. Übertrieben, jedoch bezeichnend, ist die Perspektive des Ehrenpräsidenten des türkischen Unternehmerverbandes, Bülent Eczacibasi, mit der Integration der Türkei „würde die EU eine wahre Weltmacht“. Sowohl die interessentheoretische Abwägung wie auch die systemtheoretische Skizze führen zu folgendem Ergebnis: Die EU-Erweiterung folgt einer eigener Logik von Integration und Expansion. Dies wird mittelfristig zum Beitritt der Türkei führen. Selbstverständlich gibt es starke Argumente gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei. Aber diese Argumente rekurrieren nicht auf genuin politische Merkmale. Die Expansionslogik wird sich über sie hinwegsetzen. Das bedeutet freilich nicht, daß kulturelle Unterschiede und die innenpolitische Aufladung des Themas irrelevant sind. Sie werden als Ursachen von Problemen auftauchen, wenn die Integration der Türkei in die EU vollzogen ist – der Integrationsprozeß selbst transformiert kulturelle in politische Signale. Daraus läßt sich ein starkes Argument für einen langsamen, vorsichtigen Beitrittsprozeß machen: Dem politischen System EU muß ausreichend Zeit gegeben werden, die kulturellen, religiösen und weiteren Differenzen politisch zu verarbeiten, die sukzessive in politische Probleme transformiert werden. Die Differenzen zwischen der EU und ihrer Peripherie, die sich mit zunehmender Expansion des Projekts Europa vertiefen, haben also ihre Bedeutung als potentielle Ursachen von Problemen, mit denen in der Folge von Mitgliedschaften zu rechnen ist. Was die Frage nach Grenzen der Expansion des Projekts Europa betrifft, ist vor allem der folgende Punkt relevant: Im Rahmen der skizzierten Logik von Integration und Expansion ist zu erwarten, daß die Türkei nach ihrem Beitritt selbst ein Interesse an einer ihr vorgelagerten Pufferzone entwickelt. Ebenso ist zu erwarten, daß sich nach der Vollintegration und insbesondere nach dem Abbau von Grenzkontrollen zwischen der Türkei und den anderen EU-Mitgliedern die EU das Interesse an einer solchen Pufferzone zu eigen machen wird. Damit ist die Konstellation für die Entwicklung eines weiteren äußeren Rings gegeben. Die Einbeziehung der Peripherie östlich der Türkei in die Expansionsdynamik Europas ist jedoch mit völlig unüberschaubaren Kosten, Risiken und mit politischem Widerstand sowohl in jener Region als auch z.B. in den USA verbunden. In der Perspektive der Expansionsdynamik des Projekts Europa wird hier eine weitere Besonderheit der Türkei klar: An der Ostgrenze der Türkei kommt die Dialektik von Integration und Expansion der EU endgültig zum Stillstand. Das politische Projekt Europa hat keine Grenze im Sinn einer Linie. Es läßt sich darum nicht im strengen Sinn eingrenzen. Dennoch ist es so, daß die Expansionsdynamik des Projekts Europa an Grenzen gerät. Das läßt sich daran erkennen, daß die infolge der Expansion auftretenden Integrationsprobleme immer größer werden und die identitätspolitische Berufung auf „Europa“ unplausibler wird. Die Grenze des Projekts Europa ist erreicht, wenn die Integrationskosten die Expansionserträge dauerhaft übersteigen und sich der Widerspruch zwischen Expansion und Integration politisch nicht mehr auflösen läßt. Abgestufte Integration Mit der Osterweiterung der Europäischen Union 2004 zeichnet sich der Bruch mit ihrem bisher dominanten Entwicklungsmuster ab. Die „Wider Europe“-Strategie ist bereits eine Reaktion darauf. Welche Konsequenzen hat das für die beiden Mechanismen, die ich oben als Hauptursachen der Dialektik von Expansion und Integration vorgestellt habe? Die Expansionsdynamik der EU folgte bisher dem Muster konzentrischer Kreise und hat dieses Muster immer wieder reproduziert. Kommt die Expansionsdynamik der EU ins Stocken und dann zum Stillstand, wird das Muster konzentrischer Kreise in Frage gestellt. Das berührt vitale Interessen des wohlhabenden Kerns der EU. Von hier aus gibt es zwei Entwicklungsmöglichkeiten. Entweder es kommt zu einer dauerhaften schroffen Abgrenzung nach außen hin, also einer scharfen Grenzziehung und bewaffneten Grenzsicherung. Dies ist wegen der prinzipiell beschränkten Wirksamkeit von Exklusion aus den genannten Gründen wenig wahrscheinlich. Grenzen lassen sich nicht auf Dauer dicht machen. Oder es setzt sich das Muster konzentrischer Kreise in neuer Weise durch. Das aber kann nur bedeuten, daß sich vom Zentrum zur Peripherie abgestuft integrierte Mitgliedergruppen innerhalb der Europäischen Union entwickeln. Wie geht das? Erst wenn man die bisherige Entwicklung der Europäischen Union nicht einfach nur als Entfaltung eines Musters konzentrischer Kreise beschreibt, also als Anwendungsfall eines Zentrum-/Peripherie-Modells nimmt, sondern wenn man sie auf die Absicherung des wohlhabenden Kerns Europas als ihren Zweck bezieht, kann man sehen, daß sie nicht alternativlos ist. Ein wohlhabender Kern im Zentrum, abgeschirmt durch von innen nach außen abnehmende Wohlstandszonen und zunehmende Zutrittsbarrieren – dieses eingangs skizzierte geopolitische Muster kann auf zweierlei Weise realisiert werden. Entweder werden außen an den wohlhabenden Kern Pufferzonen angelagert, die mit der Zeit zunehmend integriert werden, worauf wiederum weiter außen liegende Pufferzonen entstehen. Oder es differenziert sich aus dem größeren, gleichmäßig integrierten Verbund aller Unionsmitglieder eine Kerngruppe aus, welche die weitere Integration forciert und damit ihre Umgebung im Effekt zur Pufferzone innerhalb der Europäischen Union werden läßt. Letzteres bedeutet, daß sich ihr historisch dominantes Entwicklungsmuster nach innen wendet. Das ist das gemeinsame Vielfache aller Vorschläge zur Integration à deux vitesses, zu einem Vertrag im Vertrag, einem Kerneuropa oder einem Gravitationszentrum aus einigen Staaten. Dieses Muster zeichnet sich gegenwärtig in diversen Vorschlägen mit unterschiedlichen Nuancen ab: Ein stärker integrierter Kern und die sonstigen Mitglieder drum herum. Dabei gehen die Meinungen allenfalls darüber auseinander, wer zum Kern gehört und ob und wie man den Kern gegenüber den anderen Mitgliedsländern offenhalten kann und soll. Allerdings sollte man keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen solchen öffentlich vorgetragenen Vorschlägen und der realen Entwicklung unterstellen. Denn zum einen ist plausibel, daß das Thema „Kerneuropa“ als Drohkulisse verwendet wird, um Widerstände gegen eine tiefere Integration mancher EU-Mitglieder abzubauen, etwa im Zusammenhang mit Konflikten um die Mehrheitsregel im Verfassungsentwurf. Und zum anderen ist es möglich, daß Anstrengungen zur Dethematisierung gerade dann einsetzen, wenn es mit Kerneuropa ernst wird. Dieses widersprüchliche Verhältnis wird in der in Österreich weit verbreiteten Position auf den Begriff gebracht: „Wir sind gegen ein Kerneuropa, aber wenn es dazu kommt, wollen wir mit dabei sein.“ Diese Position wird virtuell von allen Mitgliedern eingenommen und neutralisiert sich dadurch. Mir geht es hier nicht darum, politischen Akteuren ihre „wahren“ Absichten nachzuweisen, erst recht nicht darum, selbst irgendeine Blaupause für die weitere Integration Europas zu entwerfen. Die Fixierung auf politische Rhetorik bedeutet zugleich Konzentration auf politische Intentionen. Eine so einfache Relationierung von Intention und Ergebnis ist einem derart komplexen Prozeß, wie ihn die Entwicklung der EU darstellt, unangemessen. Es geht also darum, ernsthaft ins Auge zu fassen, daß jenseits politischer Absichten Entwicklungen längst im Gang sind, die in ihrem Ergebnis auf eine neue Integrationsform hinauslaufen: In diesem Sinn spreche ich von abgestufter Integration. Zum einen gibt es in einigen Politikfeldern bereits vertiefte Zusammenarbeit einiger Mitglieder. Unterschiedliche Integrationstiefen im Politikfeld Wirtschaft ergeben sich zum Beispiel durch die selektive Teilnahme an der gemeinsamen Währung. Eine abgestufte Mitgliedschaft ergibt sich insbesondere für die Neumitglieder Ostmittel- und Osteuropas, welche die Kriterien für einen raschen Beitritt zur Euro-Zone nicht erfüllen können. Grenzkontrollen innerhalb der EU wird es jedenfalls so lange geben, wie es keinen freien Verkehr von Arbeitskräften (mit Rücksicht auf die Arbeitsmärkte der Altmitglieder) und Agrargütern (mit Rücksicht auf die Landwirtschaft einzelner Neumitglieder) gibt. Auch dadurch entsteht – zumindest vorübergehend – in der EU ein Muster regional unterschiedlicher Integrationstiefen. Noch dazu könnte es im Politikfeld innere Sicherheit unter dem Druck des internationalen Terrorismus zur Wiederaufnahme von Grenzkontrollen zwischen EU-Mitgliedern kommen. Generell begünstigen Kontrollprobleme an der Außengrenze der EU die Revitalisierung ihrer Binnengrenzen. Dadurch könnten Abstufungen der Integrationstiefe im Politikfeld innere Sicherheit in der EU manifest werden. Gleichzeitig bestehen auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik weiterreichende Integrationspläne der drei großen EU- und NATO-Mitglieder, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, bei denen klar ist, daß nicht alle EU-Mitglieder mitmachen werden. Alles in allem: Eine abgestufte Integration in der EU zeichnet sich durch zwei Arten von Prozessen ab, die zusammenwirken: Zum einen entstehen Abstufungen, wenn Neumitglieder auf einem (vorläufig?) niedrigeren Integrationsniveau aufgenommen werden; zum anderen führen neue Differenzierungen der Integrationsniveaus im Kreis der Altmitglieder zu abgestufter Integration. Die Expansion des Projekts Europa gerät an Grenzen. Die weitere Expansion muß mit immer gravierenderen Integrationsproblemen bezahlt werden. Institutionelle Lösungen zeichnen sich nach zwei Seiten ab: Nach außen sind dies die Bemühungen, das Expansionsmuster konzentrischer Kreise fortzusetzen, indem differenzierte Formen der Kooperation unterhalb der Vollmitgliedschaft entwickelt werden. Das Konzept eines Rings befreundeter Staaten ist der Versuch der EU, ihr Expansionsmuster konzentrischer Kreise über die Grenzen ihrer Erweiterbarkeit der EU hinaus fortzuführen und so den zunehmenden Widerspruch zwischen Expansionsdynamik und Integrationsfähigkeit zu lösen. Nach innen zeichnen sich Entwicklungen ab, in deren Folge sich Mitgliedergruppen auf unterschiedlichen Integrationsniveaus bilden. Das Muster konzentrischer Kreise realisiert sich also nicht mehr in der Expansionsdynamik, sondern als abgestufte Integration im Inneren der EU. Die abgestufte Integration nach dem Muster konzentrischer Kreise hat ein Kerneuropa zum Ergebnis – selbst wenn dies niemand wollte.

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