Titelbild Osteuropa 9-10/2004

Aus Osteuropa 9-10/2004

Editorial
Energiedimensionen

Manfred Sapper, Volker Weichsel, Agathe Gebert, Margarita Balmaceda

(Osteuropa 9-10/2004, S. 11–13)

Volltext

Energie ist das Lebenselixier moderner Gesellschaften, der Energiesektor der Schlüsselbereich jeder industriellen und postindustriellen Volkswirtschaft. Energiepolitik ist ein relativ junges Feld politischen Handelns. Erst seit der „Energiekrise“ in den 1970er Jahren wird es systematisch bestellt. Allerdings mangelt es an Klarheit, welcher Stellenwert ihr in Europa beigemessen wird. Mit Dutzenden Rechtsakten, Finanzierungsprogrammen und Studien betreibt die EU Energiepolitik, doch gehört diese nicht explizit in ihren Kompetenzbereich. Nimmt man die Institutionalisierung als Indikator für die Relevanz eines Politikfeldes, so fällt auf, daß Energiepolitik in den Staaten der EU und GUS zumeist auf mehrere Ministerien verteilt ist. Eigenständige Ministerien für Energie sind an einer Hand abzuzählen. Das steht in eklatantem Widerspruch zur wachsenden Bedeutung von Energiepolitik. Es bedarf wenig prophetischer Gabe um vorherzusagen, daß die Energiefrage immer mehr Aufmerksamkeit erregen wird. Schlagzeilen wie „Blut für Öl“, „Schweigen für Gas“ oder „Great Game am Kaspischen Meer“ sprechen eine deutliche Sprache: Unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt speisen sie sich aus der Beobachtung, daß der weltweite Verbrauch von Öl und Gas wächst, während die Ressourcen knapper werden. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die Preise, sondern mittelfristig grundlegende Implikationen für die Versorgungssicherheit. Osteuropa schenkt Fragen der Energiepolitik regelmäßig Aufmerksamkeit. Eine systematische Analyse, in der die energiepolitischen Entwicklungen im Osten und Westen Europas aufeinander bezogen werden, ist lange ein Desiderat gewesen. Das vorliegende Heft „Europa unter Spannung. Energiepolitik zwischen Ost und West“ wählt nun diesen gesamteuropäischen Zugriff. Er drängt sich aus strukturellen Gründen auf: Energieträger sind in Europa ungleich verteilt. Die Verfügung über sie begründet die Unabhängigkeit einer politischen Gemeinschaft, Energiemangel schränkt ihren Handlungsspielraum und ihre Lebensfähigkeit ein. Die ungleiche Verteilung der Energieträger auf verschiedene Staaten schafft Interdependenz. Sie zwingt zur Kooperation und birgt gleichzeitig erhebliches Konfliktpotential. Die EU ist der größte Energieimporteur der Welt. Die Importabhängigkeit von Energierohstoffen wird von 45 Prozent im Jahr 2000 auf 63 Prozent im Jahr 2030 steigen, bei Erdgas rund 70 Prozent, bei Erdöl fast 80 Prozent, erreichen. Wie kann die EU diesen Bedarf decken? Und mit welchen Instrumenten? Rußland ist der größte Energieexporteur der Welt. Ist Rußland überhaupt in der Lage und politisch bereit, den wachsenden Gas- und Ölbedarf zu befriedigen? Und ist das aus westeuropäischer Sicht politisch wünschenswert? Diesen grundsätzlichen Fragen von gesamteuropäischer Bedeutung sind Überblicksartikel gewidmet, in denen die geologische, die historische, die politische und die rechtliche Dimension der europäischen Energiepolitik untersucht wird. Ein Geologenteam um Hilmar Rempel nimmt die Verfügbarkeit der Rohstoffe unter die Lupe. Roland Götz zeigt auf, welche Wege Erdgas und Erdöl aus Rußland in die EU zukünftig nehmen könnten und analysiert Restriktionen und Potentiale der Kooperation zwischen Rußland und der EU. Neuland betritt Elena Duraeva mit der Untersuchung des gewaltigen Potentials, das Rußland auch bei den regenerativen Energien hat. Aufgrund der niedrigen Binnenmarktpreise für Gas sind erneuerbare Energien bislang jedoch kaum wettbewerbsfähig. Hier ist Ostmitteleuropa weiter. Danyel Reiche erinnert daran, daß die Staaten dieser Region eine Tradition bei der Nutzung von Biomasse und Wasserkraft haben. Der Anteil am Primärenergiebedarf ist gering, doch durch den Beitritt zur EU müssen sie diesem Energiefeld künftig mehr Aufmerksamkeit widmen. Denn Fakt ist: Jedes Prozent des Primärenergiebedarfs, das aus regenerativen Energiequellen gedeckt wird, mindert die Spannung, unter der Europas Energieversorgung steht. Kirsten Westphal untersucht die Energiepolitik der EU aus anderer Perspektive. Sie konstatiert, daß es nicht nur Defizite bei der künftigen Deckung des Energiebedarfs gibt, sondern bereits im heutigen energiepolitischen Handeln der EU. Gefragt sind eine stärkere Diversifizierung der Bezugsquellen sowie mehr Koordination. Ein wichtiges Instrument der EU-Energiepolitik ist der Energiecharta-Vertrag. Wie er funktioniert, zeigt James Chalker. Zwei der wichtigsten Akteure der internationalen Energiepolitik, Rußland und die USA, zeigen diesem Vertrag die kalte Schulter – übrigens dieselben Staaten, die auch für das drohende Scheitern des Kyoto-Protokolls zur Klimapolitik verantwortlich sind. Friedemann Müller betont, daß es Rußland in der Hand hat, dieses Scheitern noch abzuwenden. Ein Forschungsbericht von einem Autorenteam um Lutz Mez über Energiepolitik und Osteuropa rundet die gesamteuropäische Dimension der Energiepolitik ab. In einer besonderen Lage sind die Staaten Ostmitteleuropas. Als ehemaliger Teil des sozialistischen Bündnissystems oder gar der UdSSR wurden sie gravierend von Energielieferungen aus Moskau abhängig. Margarita Balmaceda zeichnet die Genese dieser Abhängigkeit nach, die auch die Funktion hatte, das sozialistische Bündnissystem zu stabilisieren. Heute birgt die Abhängigkeit eine Verwundbarkeit, welche die Sicherung einer stabilen Energieversorgung zur Schlüsselaufgabe macht. Die energiearmen Staaten Ostmittel- und Osteuropas haben mit der politischen Umwälzung von 1989 bis 1991 die Möglichkeit zur Umgestaltung ihrer Energieversorgung erhalten. Fünf Länderstudien über Polen, Tschechien, Litauen, Lettland und die Ukraine sowie eine Regionalstudie über Südosteuropa illustrieren, mit welchen Dilemmata diese Staaten konfrontiert sind und welche Energiestrategien die jeweiligen Regierungen anwenden, um ihre politischen und ökonomischen Handlungsspielräume zu erweitern. Gemeinsam ist allen, daß sie die Bezugsquellen zu diversifizieren und den Energiemix durch Rückgriff auf heimische Energieträger auszubauen versuchen. Zu wichtigen Akteuren in diesem Raum sind westeuropäische Energiekonzerne wie RWE Energy, E.ON-Ruhrgas oder sogar einzelne Stadtwerke geworden, wie Steven Arons in einer Bestandsaufnahme zeigt. Während die ehemalige Zukunftstechnologie Atomenergie in Westeuropa stagniert und in einigen Ländern bereits ihre Zukunft hinter sich hat, wie Antony Frogatt demonstriert, bleibt sie für einige Staaten Ostmitteleuropas attraktiv. Sie gilt als ein Instrument, um energiewirtschaftliche und politische Autonomie zu sichern. So ist es in Tschechien und Rumänien. Auch im Baltikum werden Stimmen für den Neubau eines Reaktors laut, um der wachsenden Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Rußland entgegenzuwirken. Energiepolitik ist jedoch mehr als die Sicherung von Energieressourcen. Am Umgang mit Energie, der Verfügungsgewalt über Energieträger, der Organisation der Energiewirtschaft und der Effizienz des Verbrauchs lassen sich grundlegende sozioökonomische Entwicklungen und gesellschaftliche Strukturprinzipien ablesen. Dies gilt für den Raum, der im Fokus von Osteuropa liegt, in prägnanter Form und zwar gestern wie heute: Lenins Gleichung „Kommunismus, das ist Sowjetherrschaft plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ ist Legende. Das „energetische Weltbild“ der Sowjetunion, das Klaus Gestwa in diesem Heft so faszinierend rekonstruiert, ist mehr als eine historische Reminiszenz. Auf den Pfaden der Stalinschen Industrie- und Energiepolitik bewegt sich Rußland bis heute. Ihre Signatur lautet Hyper-Zentralisierung, Verschwendung und Ineffizienz. Sie ist die Kehrseite der vermeintlich unendlichen Ressourcen. Die Katastrophe von Černobyl’ wurde zum Katalysator, der den Legitimitätsverlust der kommunistischen Parteiherrschaft beschleunigte, den Umwelt- und Nationalbewegungen Auftrieb gab und den Zerfall der UdSSR forcierte. Der Blick auf den Energiesektor bleibt auch für die postsowjetische Gegenwart aufschlußreich. Die Analyse der Energiepolitik ist immer eine Analyse von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. In den durch Rohstoffarmut gekennzeichneten ostmitteleuropäischen Ländern birgt die Abhängigkeit von Energieimporten das Potential, die offene demokratische Debatte über energiepolitische Alternativen zu beschränken. An Rußlands Energiewirtschaft läßt sich klarer als in anderen Bereichen ablesen, wie die bürokratische Rezentralisierung und der autoritäre Etatismus unter Präsident Putin wieder Raum greifen. Die internen und externen Implikationen von Rußlands Energiereichtum untersuchen John Hardt und Josephine Bollinger-Kanne am Verhältnis von Staat und Energiewirtschaft und verweisen dabei auf die zunehmende staatliche Intervention in die Energiewirtschaft und die politische Instrumentalisierung von Öl und Gas. Ole Gunnar Austvik und Marina Cygankova vergleichen, welche Rückwirkungen die Globalisierung auf die Energiebranchen in Norwegen und Rußland hat, während Andreas Heinrich dieselbe Frage in bezug auf die Geschäftspraxis rußländischer Energiekonzerne diskutiert. Heiko Pleines und Julia Kusznir bringen Licht in die Vergabepraxis von Förderlizenzen und die Rolle regionaler Akteure bei der Ausbeute einzelner Ölfelder in Jakutien und auf Sachalin. Um der Komplexität des Themas gerecht zu werden, haben wir in diesem Heft besonderen Wert auf graphische Darstellungen gelegt. Das Heft enthält 44 Karten und Abbildungen. Insbesondere die farbigen Faltkarten auf den vier Einschüben liefern Informationen, die bislang nicht oder kaum zugänglich waren. Möglich wurde dies dank der großzügigen Unterstützung durch die „Otto Wolff-Stiftung“, Köln. Ihr sei dafür ebenso herzlich gedankt wie Silke Dutzmann und Romana Richter vom Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, die in vorbildlicher Kooperation die Karten angefertigt haben.