Titelbild Osteuropa 1/2005

Aus Osteuropa 1/2005

Editorial
Refolution, die zweite

Manfred Sapper, Volker Weichsel

(Osteuropa 1/2005, S. 3)

Volltext

Nicht Revolution, nicht Reform, sondern Refolution. Timothy Garton Ashs Wortschöpfung bringt auf den Punkt, was den Umbruch des Jahres 1989 in Ostmitteleuropa und die Ereignisse in der Ukraine im Dezember 2004 charakterisierte: Selbstbeschränkung und Gewaltfreiheit. Die Demokratiebewegung um Viktor Juščenko hat, wie Gerhard Simon im vorliegenden Heft von Osteuropa zeigt, die weitgehend dem Umbruch in der Ukraine gewidmet ist, das geltende Recht so weit als möglich geachtet und es so weit als nötig außer Kraft gesetzt, um gegen jene vermeintlichen Repräsentanten des Rechts zu protestieren, die es zuvor gebeugt hatten. Präsident Kučma und der unterlegene Nachfolgekandidat Viktor Janukovyč schreckten zwar vor Wahlfälschung nicht zurück, scheuten aber den Einsatz von Gewalt, um die sich abzeichnende Niederlage abzuwenden, und akzeptierten das Urteil des Obersten Gerichts der Ukraine, das den manipulierten Wahlgang wiederholen ließ. Auch wenn dem Umbruch in der Ukraine im Jahre 2004 nicht jene welthistorische Bedeutung zukommt wie jenem in Ostmitteleuropa 1989, als die kommunistischen Regimes wie Dominosteine fielen, ist doch die Bedeutung der Revolution in Orange für Europa nicht zu unterschätzen. Mit der Macht des Wortes hat ein Teil der ukrainischen Gesellschaft seine Ambitionen gegen die Macht des Staatsapparates zur Geltung gebracht. Die Ukraine hat sich damit jenem Auseinanderdriften Europas verweigert, das sich mit der Erweiterung des Verbunds rechtsstaatlicher und demokratischer Staaten der Europäischen Union auf der einen Seite und dem autoritären Roll back im postsowjetischen Raum auf der anderen Seite abzeichnete, auf den Grigorij Pas’ko und Astrid Sahm in diesem Heft an den Beispielen Rußland und Belarus ein Schlaglicht werfen. Die Wahlen sind vorüber, und es kann kein Zweifel bestehen, daß jener Kandidat eine Niederlage erlitten hat, der auf die Manipulationsmacht des Staatsapparates setzte, und jener sich durchsetzte, der eine Mehrheit der Wähler hinter sich scharen konnte. Doch Wahlen machen noch keine Demokratie. Der Lackmustest auf die Demokratietauglichkeit der Opposition, die nun an die Staatsspitze aufgestiegen ist, steht noch bevor. Zuviel Optimismus schadet dem Projekt: Auch wenn eine separatistische Mobilisierung im Westen und Osten des Landes ausgeblieben ist und die Kohäsionskräfte sich als überlegen erwiesen haben, ist die politische Landschaft entlang nationaler Grenzen polarisiert. Die ukrainischen Parteien sind schwach und können ihre Aufgabe, plurale gesellschaftliche Ideen und Interessen zu repräsentieren, kaum wahrnehmen. Die Zivilgesellschaft hat sich im Dezember 2004 laut zu Wort gemeldet, doch damit sie angesichts des kräfteverschleißenden Alltags in der verarmten Ukraine nicht wieder in Apathie versinkt, bedarf es eines langanhaltenden ökonomischen Aufschwungs. Noch mehr schadet der Ukraine aber zuviel Pessimismus. Von erheblicher Bedeutung für die Zukunft des Landes wird das internationale Umfeld sein. Rußland schielt unter Putin wieder mit machtpolitischem Interesse nach Kiev und ist nicht wählerisch bei seinen Partnern. Nur wenn die EU ihre Neigung aufgibt, aus eben jenem machtpolitischen Kalkül gerade nicht nach Kiev, sondern nur nach Moskau zu blicken – ganz gleich, wer dort wie regiert – wird die Demokratie in der Ukraine eine Chance haben. Die ukrainischen Refolutionäre haben einen Vertrauensvorschuß verdient.