Titelbild Osteuropa 4-6/2005

Aus Osteuropa 4-6/2005

Die Fesseln des Sieges
Rußlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg

Lev Gudkov

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Abstract in English

Abstract

Der Sieg im Krieg, dem Großen Vaterländischen Krieg, ist das wichtigste Identifikationssymbol in Rußland. Er ist die einzige positive Stütze für das nationale Selbstbewußtsein der Gesellschaft. Der Sieg im Krieg legitimiertim nachhinein das sowjetische totalitäre Regime. Die Erinnerung an die Stalinschen Repressionen verblaßt, vielmehr beurteilt die öffentliche Meinung Stalin zunehmend positiv. Bis heute wirkt das Tabu, die Kehrseiten des Sieges aufzuarbeiten. Daß die Russen in Zeiten des Krieges und des Ausnahmezustands ihren „Nationalcharakter“ offenbaren, ist zur Norm der symbolischen Identität geworden. Die Erinnerungan den Krieg nützt vor allem der Legitimation der zentralisierten und repressiven sozialen Ordnung. Sie ist in die allgemeine posttotalitäre Traditionalisierung von Kultur und Gesellschaft unter Putin eingefügt.

(Osteuropa 4-6/2005, S. 56–73)

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The fetters of victory

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Nach· dem Ausklang des 20. Jahrhunderts, des „Jahrhunderts der Massen“ oder „der totalitären Regimes und Bewegungen“, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit, das Vergangene zu verstehen, und generell nach der Rolle der Vergangenheit auf grundsätzlich neue Art. Wurde die Idee des „Verstehens“ noch Ende des 19. Jahrhunderts vor allem als ein hermeneutisches Problem gedacht, als Interpretation schriftlich aufgezeichneter Texte eines Individuums durch ein anderes Individuum, so kommen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach den katastrophalen Ereignissen zweier Weltkriege, nach gewaltigen gesellschaftlichen Transformationen und Massenterror, ganz andere Betrachtungsebenen zum Vorschein. Erstens haben die Zeugnisse von der Vergangenheit schlagartig an Zahl und Vielfalt zugenommen, zweitens hat sich die soziale und kulturelle Reproduktion typologisch gewandelt. In vormodernen, vortotalitären Epochen wurde die Aufgabe des Begreifens und Erklärens der Taten und Zustände von Menschen der Vergangenheit im großen und ganzen von einer kulturellen Schicht oder einem Stand erfüllt, der die „gesamte“ Fülle der historischen Tradition beherrschte und dessen Deutungsmittel nicht über die Erfahrung und den Vorstellungskreis entsprechend gebildeter Menschen hinausgingen. Nach 1945 hat die Frage nach den Typen, der Angemessenheit und den Grenzen des „Verstehens“ seinen vormals untrennbaren Zusammenhang mit dem einmalig-individuellen Charakter des Verstehens, der Erinnerung und des Mitempfindens eingebüßt. Viele Autoren, von den Existentialisten der Nachkriegszeit bis zu den Vertretern der Postmoderne der Gegenwart, sprechen von der Nichtnachvollziehbarkeit der Erfahrung derjenigen, die Auschwitz, andere NS-Vernichtungslager oder Stalins Lager des GULag überlebt haben. Das traumatisierte Schweigen der Überlebenden bzw. ihre Unfähigkeit, den nicht dort Gewesenen oder einer anderen Generation all das zu vermitteln, was sie fühlten und dachten, wird von Philosophen und Intellektuellen als Beleg für die Transzendentalität, die Unmöglichkeit, die Unaussprechlichkeit von „Zeugnissen“ dieser Erfahrung interpretiert. Es wird behauptet, die Alltagssprache und alltägliche Denkformen seien für eine solche Beschreibung und ein Verständnis durch andere völlig und grundsätzlich inadäquat. Die ethische Verabsolutierung der Nichtreproduzierbarkeit und Verschlossenheit extremer Zustände hat andere Aspekte dieses Problems verstellt, zum Beispiel die offensichtliche Ineffektivität des Modells eines individualistischen, personalistischen, unmittelbar persönlichen Verstehensakts als „psychisches Einfühlen“ oder „Einblick“ in das Bewußtsein von Menschen, die extreme Qualen überstanden haben. Das Modell des „tragischen Begreifens und Verstehens“ verliert dadurch an Wert, daß Ereignisse dieser Art Millionen von Menschen betroffen haben; daß der Tod und das Leben angesichts alltäglichen Sterbens trivialisiert wurden; daß die Individualität, die Einzigartigkeit der Persönlichkeit durch den Umstand des massenhaften entpersönlichten Verschwindens, der Reduktion des sterbenden „raffinierten“ Bewußtseins auf das Niveau derjenigen, die sozial und intellektuell ein halbvegetatives Dasein fristeten, wert- und sinnlos wurde. Das massenhafte Sterben war ebenso monströs routiniert und fließbandmäßig kalkuliert wie der Tod hochgebildeter Individuen. Die Banalität des massenhaften Bösen erfordert andere Mittel zur Erforschung der kollektiven Erinnerung oder Massenerinnerung und verlangt nach einer anderen ethischen oder metaphysischen Position, die Historiker früher nicht einforderten, nicht einfordern konnten. Dadurch stellt sich die wichtige Frage: Inwieweit kann die Erfahrung von Menschen, welche die tragischen Erschütterungen dieses Jahrhunderts überlebt haben, begriffen, angeeignet und übermittelt werden? Was bleibt im Gedächtnis (wenn überhaupt etwas bleibt) von Ereignissen, die gleichzeitig das Leben einer Masse von Menschen erfaßt und umgestülpt haben – Kriege, Revolutionen, Repressionen, die Kollektivierung und die gewaltigen Transformationen der gesellschaftlichen Ordnung? Es ist völlig offensichtlich, daß sich die aufgezeichnete „Geschichte“ des 20. Jahrhunderts sowohl von den mittelalterlichen Chroniken als auch von den im 19. Jahrhundert geschriebenen „Allgemeinen Geschichten“ grundsätzlich unterscheidet – und sei es nur, weil sich erstens die mit der Aufbewahrung und Reproduktion der „Vergangenheit“ beschäftigten Gruppen verändert, differenziert und vielfach ausgedehnt und sich zweitens auch die Technik des Festhaltens und der Aufbewahrung der Vergangenheit gewandelt hat. Jetzt sind dies nicht mehr nur Archive, Museen, Galerien voller historischer und Schlachtengemälde, vielbändige Ereignisübersichten bzw. Memoiren und Familienurkunden der oberen oder gebildeten Schichten. Heute wirken hier gleichberechtigt mit professionellen Historikern Filmarchive, Massenmedien und Belletristik, Schule, Armee, politische Demagogie, nationale Rituale, symbolische und ideologische Ortsnamen und vieles mehr. Wenn daher in öffentlichen Diskussionen von historischer „Erinnerung“ die Rede ist, von den aufbewahrten Erinnerungen noch lebender Menschen oder ihrer ersten Weitergabe an eine andere Generation bzw. von der Reproduktion von Erzählungen über Erzählungen darüber, wie es „war“, muß man sich darüber klar werden, um welche „Vergangenheit“ es geht, wer ihr Inhaber ist, wie sie organisiert und strukturiert ist, mit welchen Mitteln sie zum Ausdruck gebracht wird. Insbesondere gilt dies für solch symbolische Ereignisse wie „den Krieg“ (wenn in Rußland oder der UdSSR von „Krieg“ die Rede ist, meint man nur einen Krieg, den Krieg: den Großen Vaterländischen Krieg, wie er in der UdSSR genannt wurde und im offiziellen Kontext in Rußland bis heute bezeichnet wird, oder den Zweiten Weltkrieg, wenn auch die internationale Diskursebene berücksichtigt wird). Außerdem muß grundsätzlich zwischen individuellen, privaten Erinnerungen an den vergangenen Krieg und kollektiven, also institutionellen oder gruppenspezifischen Vorstellungen unterschieden werden, wobei man sich im ersteren Fall über die Motive klar werden muß, die Menschen zur privaten Übermittlung des Erlebten veranlassen, und insbesondere über die Situationen, in denen erinnert wird. Weder das eine noch das andere stellt eine Objektivierung des real Geschehenen dar, eine Art noch nicht gedrehten „Dokumentarfilm“ über die tatsächlichen Ereignisse. Erinnerungsarbeit ist nicht nur ein Prozeß der Selektion von Ereignissen und Details, sondern auch eine bestimmte (inhaltliche oder wertende) Konstruktion dieser Ereignisse gemäß einem expliziten oder latenten Interpretationsschema. Die Frage nach der Bedeutung oder dem Wert von Erinnerungen besteht darin, wer dieses Schema vorlegt: der sich Erinnernde selbst oder, was viel häufiger der Fall ist, direkte oder abstrakte Partner; sowie an wen diese Erinnerungen gerichtet sind. Mit anderen Worten hat der Forscher, erst recht der Kultursoziologe, die kommunikative Struktur der Erinnerungen offenzulegen, beziehungsweise, um genauer zu sein, die Erinnerung als soziale Interaktion darzustellen, indem sich der sich Erinnernde implizit an einen für ihn bedeutsamen Anderen wendet. Dies gilt selbst dann, wenn dieser Andere nicht mehr ist, als ein verallgemeinertes, diffuses Bild der „jungen Generation“, eines „moralischen Gerichts“, des „Publikums“ oder der „Gesellschaft“, das nur eine soziale und anthropologische Eigenschaft besitzt, nämlich eine Projektion des Erzählers zu sein, aber in der Modalität des idealen Verständnisses existiert, also als ein Zuhörer, der „Anfang und Ende“ kennt. Der Prozeß des „Erinnerns“ ist immer eine Interpretation. Sie wird konstruiert in einer mehr oder weniger expliziten Auseinandersetzung mit den verbreiteten Darstellungen, durch eine Ergänzung oder Illustration ihres Inhalts oder ihrer Bedeutung. Für den Soziologen ist es sowohl methodologisch als auch inhaltlich sehr wichtig, die Merkmale dieses Schemas sowie seine Orientierungsfunktion für verschiedene Akteure als kollektive oder institutionelle Norm der „Geschichte“ oder des „historischen Ereignisses“ zu erkunden. Ohne eine Offenlegung der Bedeutungssemantik dieses Schemas ist ein Übergang zum Verständnis der Erinnerung als soziale Interaktion unmöglich. Wenn individuelle Erinnerungen als Ketten von biographischen oder familiären Umständen geknüpft werden, sind sie an die persönliche Geschichte mit ihren Schlüsselwerten und Wertungsmaßstäben gebunden. Dagegen werden kollektive Vorstellungen über bestimmte Werte der gesamten Gemeinschaft gebildet und mit anderen Mitteln reproduziert als die Erzählungen von Privatpersonen. Für gewöhnlich sind sie der Spuren ihrer Herkunft und Produktion entledigt und werden als selbstverständliche, „irgendwann“ entstandene Meinungen aufgefaßt. Das Massenbewußtsein oder das einer spezifischen Gruppe hat kein Interesse an der Genese dieser Vorstellungen. Die Träger dieses Bewußtseins geben sich Mühe, die rationale Aufarbeitung dieser Vorstellungen zu unterbinden, Spuren ihrer ideologischen Erzeugung zu verdrängen und ihren geheiligten Status als Symbole der kollektiven Identität zu tabuisieren. Daher dürfen kollektive Vorstellungen nicht als Summe individueller Erinnerungen und konkreter Details des Geschehenen angesehen werden; es handelt sich immer um völlig anders gestaltete „Rekonstruktionen“ historischer Prozesse und Ereignisse, deren Funktion entweder mit den Ritualen kollektiver (nationaler oder Gruppen-)Solidarität zusammenhängt oder mit einer Darlegung kollektiver Mythen und Ideologeme, die dazu dienen, bestimmte soziale Institutionen und Praktiken oder politische Handlungen zu legitimieren. Daher ist der Soziologe, der die Massen-„Erinnerung“ erforscht, gezwungen, sich und andere mit Maurice Halbwachs ständig zu fragen: Welche Institutionen, welche Gruppe oder welches soziale Milieu bewahrt diese „Vergangenheit“ im Gedächtnis auf, wie wird es aufbewahrt (reproduziert), welche bildlich-symbolischen und technischen Mittel werden dabei benutzt? Welches sind die „sozialen Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses“? Der vorliegende Artikel untersucht, welche kollektive „Erinnerung an den Krieg“ in Rußland existiert und welche Rolle diese Vorstellungen vom Krieg in der nationalen Identität der Bürger Rußlands spielen. Zwiedenken und Erinnerung Eines sei vorausgeschickt: Das Massenbewußtsein, also das nichtspezialisierte, „allgemeine“ oder „grundständige“ Bewußtsein hat kein Gedächtnis. Die öffentliche Meinung behält die Erfahrung von Einzelpersonen nicht, bewahrt sie nicht auf, vermittelt sie nicht; diese lagert sich nicht ab. Alles, was der einzelne Mensch erlebt, vor allem das nichtreflektierte Leiden, verschwindet spurlos, wenn es nicht institutionell oder fachlich aufgearbeitet oder in kultureller Produktion kanalisiert wird, wenn also Privatmeinungen nicht durch irgendeine überindividuelle Instanz sanktioniert werden. Daher können wir heute weniger von der Erinnerung als von der Reproduktion von „Erinnerung“ sprechen: Zeitzeugen des Kriegs machen heute nicht mehr als sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung aus. Dies sind vor allem alte Frauen mit niedrigem Bildungsniveau, die größtenteils keine Mittel und Möglichkeiten, vor allem aber keine Motivation haben, ihre Erfahrung zu vermitteln. Das Verhältnis der breiten Bevölkerung zum Krieg unterscheidet sich kaum von der Wahrnehmung traditionell als Naturkatastrophen und biblische Plagen geltender Phänomene: Hungersnöte, Seuchen, Überschwemmungen oder Erdbeben, deren Ursachen unklar und die in ihren Auswirkungen schrecklich waren. In solchen amorphen und extrem unbestimmten Kategorien, die nur eine sehr allgemeine Wertung der inzwischen viele Jahre zurückliegenden Vergangenheit einschließen, lebt die unbearbeitete und gedanklich nicht verarbeitete Erfahrung des Kriegs in der breiten Bevölkerung fort. Für die Menschen ist der „Vaterländische Krieg“ (ausgehend von der Häufigkeit der genannten Attribute in unseren Umfragen) in erster Linie „groß“, danach „blutig“, „tragisch“ und „schrecklich“; viel seltener wird er als „heldenhaft“ oder „langwierig“ bezeichnet, und noch seltener als „niederträchtig“. Der alltägliche Krieg ohne Hoffnungsschimmer sowie die Nachkriegsexistenz mit Fronarbeit, chronischem Hunger, Armut und gezwungener Gedrängtheit ist aus der kollektiven Erinnerung (dem Massenbewußtsein) praktisch herausgefallen und verdrängt worden. All dies hat sich ebenso zerstreut wie die Erinnerung an die verkrüppelten Invaliden oder „Samoware“, wie man sie in der Nachkriegszeit nannte, Menschenstummel auf Rädchen, die noch in der ersten Hälfte der 1950er Jahre verbreiteter Teil des Straßentreibens waren. All dies erscheint im nachhinein peinlich und unnütz, wie auch die ihrem Schicksal überlassenen Invaliden in der Nachkriegszeit überflüssig waren: Man schämte sich ihrer, man wandte sich von ihnen mit einem unangenehmen Gefühl der Schuld und der „Häßlichkeit des Lebens“ ab, man versteckte sie, damit sie bloß nicht das offizielle Bilderbuch des friedlichen Lebens störten. Von alledem ist im Gedächtnis der Gesellschaft nur eine unterbewußte Furcht geblieben, die oft als Angst vor einem neuen (Welt- oder Bürger-)Krieg ausgedrückt wird. Diese Angst bildet den Horizont, vor dem die breite Bevölkerung Lebensqualität bewertet, sie bedingt den schwachen Widerstand gegen Versuche der Heroisierung von allem, was über die Kriegsthematik hinausgeht, und ist Grund für die allgemeine geduldige Passivität – kurzum, sie ist der Ursprung all dessen, was in der Sowjetzeit mit dem gewohnten Seufzer ausgedrückt wurde: „Alles, bloß kein Krieg!“ Aber als kollektives „Unterbewußtes“ verschwinden diese Komponenten des Massenbewußtseins auch heute nicht, obwohl sich ihre Bedeutung allmählich verringert. Als totaler Kontrast zu eben diesem diffusen Zustand der Erinnerung tritt das äußerst strukturierte soziale Verhältnis zum Krieg auf, das im wichtigsten Integrationssymbol der Nation verkörpert und verankert ist: dem Sieg im Krieg, im Großen Vaterländischen Krieg. Dies ist nach Meinung der Bürger Rußlands das wichtigste Ereignis in seiner Geschichte, der Grundstein des nationalen Bewußtseins. Kein anderes Ereignis ist ihm vergleichbar. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg ist für durchschnittlich 78 Prozent der Befragten das wichtigste unter den Ereignissen, die im 20. Jahrhundert Rußlands Schicksal geprägt haben. Zudem ist die Bedeutung des Siegs in den letzten Jahren, vor allem seit dem Antritt Putins, noch gewachsen. Waren es 1996 noch 44 Prozent der Befragten (und damit die meisten), die den Krieg auf die Frage nannten „Worauf sind Sie persönlich in unserer Geschichte am stolzesten?“, waren es 2003 bereits 87 Prozent. Sonst gibt es heute nichts mehr, worauf man stolz sein könnte: Der Zerfall der UdSSR, der Mißerfolg der postsowjetischen Reformen, die merkliche Abschwächung der verbreiteten Hoffnungen und das Ende der Illusionen der Perestrojka haben zu einer traumatischen Erfahrung nationaler Schwäche geführt. Eine Wechselwirkung ist zu beobachten: In dem Maße, in dem ehemalige Objekte des Stolzes der Sowjetmenschen herabgewürdigt werden – die Revolution, der Aufbau einer neuen Gesellschaft, die Entstehung eines „neuen Menschen“, die Vorzeigeleistungen der sowjetischen Industrialisierung, die militärische Supermacht und die damit verbundenen Erfolge von Wissenschaft und Technik, deren symbolischer Ausdruck die sowjetischen Erfolge im All und vor allem der erste Weltraumflug Jurij Gagarins waren –, wächst das symbolische Gewicht des Siegs. Vor seinem Hintergrund werden sowohl das imperiale Kulturerbe (einschließlich der „heiligen“ russischen Literatur) als auch die ideologischen Symbole des Sozialismus (die nur noch bei den älteren Generationen als Nostalgie nach einer idealisierten Vergangenheit erhalten bleiben) abgewertet. Die Erosion bemächtigt sich aller Komponenten der positiven Einheit des „Wir“. Der Sieg ragt heute wie eine nach der Verwitterung eines Felsens zurückgebliebene steinerne Säule in der Wüste hervor. Auf den Sieg laufen alle wichtigsten Interpretationslinien der Gegenwart zu. Der Sieg gibt den Wertungsmaßstab und die rhetorischen Ausdrucksmittel vor. Hier seien nur ein paar Beispiele genannt. Ein Fernsehbild aus jüngster Zeit: die Plakate auf der Putin-Solidaritätsdemonstration nach Beslan auf dem Vasil’evskij spusk am Roten Platz: „Wir haben 1945 standgehalten und wir werden auch jetzt standhalten“. Im Tschetschenienkrieg nahmen 1996 die Truppen der Föderation mit großer Mühe den Palast des tschetschenischen Präsidenten Džochar Dudaev ein, das ehemalige Gebäude des Gebietskomitees der KPdSU in Groznyj; über ihm flattert die Fahne Rußlands. Die Anspielung auf das Siegesbanner über dem Reichstag 1945 ist unverkennbar. Schließlich können auch die komisch anmutenden wütenden Äußerungen Vladimir Žirinovskijs zu den Motiven des Juryfehlers auf der Winter-Olympiade in Salt Lake City (der Dopingskandal 2002) erwähnt werden: „Das ist Rache an Rußland für den Sieg im Vaterländischen Krieg.“ Žirinovskijs Narretei markiert wie immer exakt die wunden Punkte des kollektiven Bewußtseins, einer geschlossenen, paranoiden, mobilisierten, militaristischen Gesellschaft, in der die Staatsgewalt den Haß ihrer Bürger auf innere und äußere Gegner aufrechterhält sowie Feindbilder und Angst vor dem Feind kultiviert, um die Notwendigkeit ihrer eigenen Existenz zu begründen. In den ersten Nachkriegsjahren (Ende der 1940er, Anfang der 1950er) gab es noch eine starke Diskrepanz zwischen Kriegserfahrung und Kriegsdarstellung. Auf der einen Seite die nichtkodifizierte, noch allzu frische, unmittelbare und persönliche Massenerfahrung des Krieges und der Kriegszeit, die so wenig Heroisches aus dem Bilderbuch enthielt. Im Vordergrund standen der Alltag, Hunger, Evakuierung, Kriegs-„Arbeit“. Gegenüber den Frontsoldaten und anderen Kriegsteilnehmern verhielt sich die Stalinsche Führung mit charakteristischer Ambivalenz und Widersprüchlichkeit: Auf der einen Seite wurde die Rhetorik des Siegs über den Faschismus zu einer der wichtigsten ideologischen Komponenten der Legitimation des Regimes. Auf der anderen Seite fürchtete das Regime die Frontsoldaten wegen des Eindrucks, den der Alltag in den eroberten Ländern bei den Siegern hinterlassen hatte, wegen ihrer Hoffnung auf Auflösung der Kolchosen und eine Abschwächung der Repressionen. Bereits zwei Jahre nach Kriegsende wurden diverse Privilegien für ehemalige Frontsoldaten gekürzt oder aufgehoben, unter anderem an Orden und Medaillen geknüpfte Prämiengelder; der 9. Mai, der Tag des Sieges, wurde zu einem gewöhnlichen Arbeitstag. Auf der einen Seite stand die mobilisierende Galaversion der Kriegsereignisse. Mit der Besetzung öffentlicher Positionen durch eine Generation, die Ende der 1920er, Anfang der 1930er geboren war und nicht Krieg geführt hatte, gewann diese Version der Kriegsereignisse Oberwasser. Es war Brežnev, der eine Propagandakampagne zur Sakralisierung des Kriegs und zur Konservierung des Regimes begann, um sich nach dem Umsturz in der Führungsspitze und der Ablösung Nikita Chruščevs die Unterstützung der Armee und des KGB zu sichern. Diese Kampagne schloß die Rehabilitierung Stalins ein, wurde aber vom offiziellen Kult der Kriegsveteranen und vor allem der Marschälle sowie der Generalität verdeckt. Der 9. Mai wurde zu einem Festtag, der sich an Feierlichkeit mit dem 1. Mai vergleichen konnte. Und die Vorstellungen über den Krieg im Massenbewußtsein wurden nun standardisiert. Offizielle, demonstrative Ehrenbezeugungen an „die Veteranen“ wurden eingeführt, in Kriegsbeschreibungen, vor allem in Erinnerungsberichten kam eine „lyrische“ Tonart auf, die zuvor als Spießbürgertum und Deideologisierung gegolten hatte und als Verlust von Wachsamkeit, parteilicher Prinzipienfestigkeit und Klasseninstinkt aufgefaßt worden war. Dazu kamen diverse staatliche Rituale. Das alles führte zu einer Stereotypisierung der kollektiven Erfahrung. Die Ausarbeitung „verallgemeinernder“ Klischees, rhetorischer Formeln und einer normativen, „gehobenen“, offiziellen Sprache über die Kriegsereignisse, die von der Publizistik aufgegriffen, in der Poetik der offiziellen Geschichtsschreibung sowie der Rhetorik der Massenkommunikation und -kultur verankert wurde, ging einher mit entsprechenden Konzeptionen der Staatsgeschichte und der nationalen Kultur sowie moralischen Wertungen des Privatlebens und Vorstellungen von den Grenzen seiner Autonomie. Indem die Nachkriegsinterpreten die Kriegserfahrung von der affektiven Radikalität der Frontwahrnehmung befreiten, veralltäglichten sie diese und machten sie zu einem Teil des allgemeinen Vorstellungshorizonts einer geschlossenen, militaristisch-bürokratischen Gesellschaft. In dieser Zeit beginnt die Veröffentlichung der vielbändigen offiziellen „Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs der Sowjetunion, 1941–1945“ (der erste Band erscheint 1960) und von Memoiren sowjetischer Marschälle, die schnell zu Mangelware werden und es bis in die 1980er Jahre hinein bleiben. Es sind diese Stereotypen, die ungeheuer vielen Menschen eine Sprache für „edle kollektive Gefühle“ geben – die Sprache einer lyrischen Staatlichkeit, die sich Mitte der 1960er Jahre unverrückbar fixierte und noch heute für die Mehrheit der Bewohner Rußlands die einzig mögliche Form darstellt, über den Krieg zu sprechen. Das Verhältnis, das die meisten rußländischen Bürger zum Krieg haben, ist durch die gesamte sowjetische Kultur bedingt: Es ist ein Produkt der Propaganda, der Funktionsweise der Massenmedien, der Schulbildung, der Staatsrituale, der verstaatlichten Kunst, vor allem des Kinos und der Literatur, aber auch der von Illustrierten verbreiteten stets identischen Produkte der Mitglieder des Künstlerverbands, der im Radio gespielten Kriegslieder usw. Die Vorstellungen, Emotionen und Kenntnisse einer gesamten Generation wurden ideologisch von professionellen Interpreten wie Parteifunktionären, Literaten, Regisseuren, Redakteuren, Historikern und Kommentatoren bearbeitet, verpackt und rhetorisch ausgestaltet. Erst danach wurden die entsprechenden Bedeutungsmuster von maßgeblicher Seite sanktioniert und erhielten den Status einer „allgemeingültigen“ und „zweifellosen“ Realität, der sich die persönliche Erfahrung einzelner Menschen unterordnete. Menschentode in einem Ausmaß, das durch individuelle Wahrnehmung nicht erfaßt werden konnte, und die Zerstörung sozialer Verhältnisse und des täglichen Lebens, wie dies während des Kriegs geschah, werden nicht „automatisch“ zu Faktoren, welche das Massenbewußtsein verändern. Wie jede andere Erfahrung reproduziert sich diese „private“, individuelle Erfahrung von Menschen im Krieg und während des Krieges nicht, selbst wenn es die ungemein vieler Menschen ist. Sie verwandelt sich erst recht nicht in eine kulturelle oder soziale Tatsache, wenn sie nicht eigens bearbeitet wird. Erst nachdem sie institutionell ausgestaltet und festgelegt, reproduzierbar geworden und in den kollektiven Rahmen vergangener und gegenwärtiger Ereignisse eingefügt oder zumindest mit ihm verbunden worden ist, kann die Erfahrung der Kriegszeit zur historischen „Erinnerung“ der Gesellschaft oder einzelner Gruppen sowie der Kriegsteilnehmer werden. Ohne diese Mechanismen und eine zielgerichtete Medienpolitik, „Erinnerung“ zu erhalten und zu organisieren, ohne Rituale, Inszenierungen und Aufführungen des Kriegsthemas, zerstreut sich und verschwindet selbst eine so bedeutende Vergangenheit. Genau deshalb sind in den wichtigsten Fernsehprogrammen täglich sechs bis acht Prozent der Sendezeit dem Thema Krieg und den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges gewidmet: in Form alter sowjetischer Filme oder spezieller Sendungen über den Krieg und die Armee. Dieser Anteil nimmt während Gedenkveranstaltungen zu diversen Jubiläen wie den Jahrestagen der Gefechte bei Moskau, der Schlacht um Stalingrad, der Befreiung Leningrads, der Schlacht bei Kursk und der Maifeiertage drastisch zu. Der Krieg als Symbol So handelt es sich also bei jeder Erwähnung des „Siegs“ um ein Symbol, das für die überwältigende Mehrheit der Befragten, für die gesamte Gesellschaft, das wichtigste Element der kollektiven Identifikation darstellt. Er ist ein Referenzpunkt, ein Maßstab zur Bewertung der Vergangenheit und teilweise auch zum Verständnis von Gegenwart und Zukunft. Der Sieg 1945 ist nicht einfach der zentrale Bedeutungsknotenpunkt der sowjetischen Geschichte, die mit der Oktoberrevolution begann und mit dem Zerfall der UdSSR endete; er ist faktisch die einzige positive Stütze für das nationale Selbstbewußtsein der postsowjetischen Gesellschaft. Der Sieg krönt den Krieg nicht nur, er reinigt und rechtfertigt ihn. Gleichzeitig tabuisiert der Sieg das Thema Krieg und verhindert so, die Kehrseiten des Krieges rational aufzuarbeiten, etwa die Kriegsursachen und den Kriegsverlauf zu erklären oder die Handlungen der Staatsführung und die Natur eines Regimes zu analysieren, das alle gesellschaftlichen Sphären den Kriegsvorbereitungen unterordnete. Der Triumph der Sieger maskiert die Zweideutigkeit des Symbols. Der Sieg im Krieg legitimiert im nachhinein das sowjetische totalitäre Regime als Ganzes, die unkontrollierte Macht als solche, indem er retrospektiv die „Kosten“ der sowjetischen Geschichte einer forcierten militärisch-industriellen Modernisierung – die Repressionen, den Hunger, die Armut, das Massensterben nach der Kollektivierung – rechtfertigt und eine alternativlose Version der Vergangenheit mitsamt dem zugehörigen einzig möglichen historischen Interpretationsrahmen erschafft. Deshalb gibt es heute keine andere zusammenhängende und systematisch ausgearbeitete – und dementsprechend durch alle Institutionen der Sozialisierung reproduzierte – Version der Geschichte. Es fehlt heute eine Elite, die eine andere, ebenso systematische Sichtweise des Kriegs und überhaupt eine andere Beurteilung und moralische Position der Vergangenheit anbieten könnte. Es ist kein Zufall, daß im selben Maße, wie die Symbolkraft des Sieges zunimmt, auch die Autorität des Genossen Stalin (als Oberster Befehlshaber und als Führer des Volkes) wächst. Stalin kehrt nicht einfach wieder (im Vergleich zur Perestrojka), auch seine Rolle ändert sich. Je höher der Status des Kriegsgeschehens, das teleologisch als eine zum vorbestimmten Sieg hinführende Ereigniskette organisiert ist, desto mehr schwindet die Erinnerung an die Stalinschen Repressionen: Ihre Bedeutung für die rußländische Geschichte ist in den vergangenen zwölf Jahren nach unseren Umfragen von 29 Prozent auf unter ein Prozent gefallen. Hingegen haben positive Bewertungen von Stalins Rolle zwischen 1998 und 2003 von 19 Prozent auf 53 Prozent zugenommen; auf die Frage „Wenn Stalin heute am Leben wäre und für das Amt des Präsidenten Rußlands kandidieren würde, würden Sie dann für ihn stimmen?“ antworten 26–27 Prozent heute mit „Ja“. Der Tag des Sieges ist nicht zu einem Tag des Andenkens, der betrübten Erinnerung an die Umgekommenen, die menschlichen Qualen und die materielle Zerstörung geworden. Es ist ein Siegestag, der Tag des Triumphs der sowjetischen Armee über Hitlerdeutschland. Dabei ist der intentionale Sinn des Siegs für die Russen ausschließlich selbstbezogen, er hat nur innerhalb der rußländischen Selbstdefinition eine Bedeutung. Beinahe niemand fühlt heute noch Haß auf die ehemaligen Feindesländer: auf Deutschland oder erst recht nicht auf Italien, Japan oder Rumänien. Noch vor kurzer Zeit war ein solcher Negativismus bei der älteren Generation, an der gesellschaftlichen Peripherie, zu beobachten. Heute sind antiamerikanische Stimmungen viel stärker ausgeprägt als zum Beispiel antideutsche, die für acht bis zehn Prozent der Bevölkerung charakteristisch sind (vor allem für ältere Menschen). Die Hälfte der Russen wäre sogar einverstanden, wenn man in Rußland ein Denkmal für die Gefallenen auf beiden Seiten des Zweiten Weltkriegs aufstellen würde (wenngleich auch diese Bereitschaft unter Putin etwas zurückgegangen ist, von 57 Prozent auf 50 Prozent, wogegen sich die Ablehnung dieser Idee verstärkt hat, von 26 Prozent im Jahre 1991 auf 35 Prozent im Jahre 2003). Ihren Triumph wollen die Russen mit niemandem auf der Welt teilen. 67 Prozent der Befragten (2003) gehen davon aus, daß die UdSSR diesen Krieg auch ohne Hilfe der Verbündeten gewonnen hätte. Mehr noch, mit dem zu beobachtenden Anstieg des ethnisch-russischen Nationalismus und mit wachsendem zeitlichen Abstand fügt sich der Krieg allmählich in den traditionellen Rahmen der russischen messianischen Idee und der Rivalität mit dem Westen ein. Parallelen zwischen der jüngsten und der älteren Geschichte sind ein Gemeinplatz der nationalistischen Rhetorik sowohl in der spätsowjetischen als auch in der postsowjetischen Zeit: „Indem sie den Faschismus zerschlug, bewahrte die UdSSR die europäischen Völker vor der Vernichtung“ – ebenso wie „die Rus’, indem sie die tatarisch-mongolischen Horden zerschlug, sich wie ein Schutzschild vor Europa stellte“. Eine zusätzliche Tönung erfährt dieses Verständnis durch die Idee, daß die Russen einen Gegner besiegt hätten, dem keines der entwickeltsten, reichsten und „zivilisiertesten“ Völker Europas standgehalten habe. Gleichzeitig wird eine Reihe unangenehmer Tatsachen aus dem Massenbewußtsein verdrängt: Erstens der aggressive Charakter des sowjetischen Regimes, der kommunistische Militarismus und Expansionsdurst, aufgrund derer die UdSSR nach dem Angriff auf Finnland aus dem Völkerbund ausgeschlossen wurde; zweitens der Beginn des Zweiten Weltkriegs als gemeinsamer Angriff auf Polen durch Hitlerdeutschland und die Sowjetunion, die damals noch verbündet waren; drittens der menschliche, soziale, wirtschaftliche und metaphysische Preis des Kriegs sowie viertens die Verantwortung der Führung des Landes für den Ausbruch und den Verlauf des Kriegs sowie die Auswirkungen des Kriegs auf andere Länder. Der Krieg und das Tabu einer rationalen Aufarbeitung Seine für das kollektive Gedächtnis strukturbildende Rolle erhielt der Sieg durch die langjährige Arbeit der offiziellen gesellschaftlichen Institutionen in der UdSSR – der Schule, der Armee, der Medien, des Propagandasystems und der ideologischen Erziehung. Heute haben wir es im Grunde genommen mit der Stalinschen Version des Krieges und der Geschichte der Sowjetzeit, also auch der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun. Diese Interpretation des Kriegs wurde durch Stalins Generalstab und den Agitprop des Zentralkomitees der KPdSU geschaffen. Verschiedene Gruppen von Ideologen konkurrierten miteinander um die Kontrolle über die Deutung des Kriegs – eine Konkurrenz, die bis heute fortbesteht. Auch heute noch erheben verschiedene politische Parteien – von der „Partei der Macht“ Edinaja Rossija bis zu ihren Opponenten, den Kommunisten, Patrioten oder Populisten, Anspruch auf die Deutungshoheit über das Kriegserbe, indem sie ihre eigene Legitimation auf den Sieg zurückführen. Alle Varianten, Nuancen und Wertungen dieser Deutung entstanden ausschließlich innerhalb der Bürokratie (der gebildeten Schicht) als Reaktionen auf die offizielle Position. Alle existierenden und potentiellen Varianten sind nur Ergänzung, Kritik, Widerlegung, Parodie darauf. Sie können nichts anderes sein. In diesem Sinne kann man das Entstehen einer neuen bzw. präzisierenden Interpretation oder einer originellen Perspektive auf den Krieg und den Sieg als Signal einer Störung oder gar eines Defekts der sozialen und kulturellen Reproduktion des sowjetischen Systems auslegen; hingegen kann die Restauration der Grunddeutung des Kriegs und der nationalen Geschichte als Wiederherstellung und Konservierung der Grundlagen des sowjetischen Regimes und der sowjetischen Gesellschaft betrachtet werden. Die dominante Konstruktion des Kriegs oder der Interpretation der Kriegsereignisse wurde 1970–1972, also unter Brežnev, mit dem fünfteiligen Kinoepos Osvoboždenie („Befreiung“) von Jurij Ozerov und Jurij Bondarev geschaffen. Dieses Kriegsepos wurde als Geschichte des Siegs, des totalitären Triumphs gestaltet. Die ersten, dramatischsten Kriegsjahre und erst recht die Vorgeschichte des Kriegs oder auch soziale, moralische und menschliche Zusammenstöße fehlen in diesem aus dem Blickwinkel des Oberkommandos angeordneten Schlachtenpanorama. Alle anderen Versionen waren lediglich Variationen dieses Themas in anderen Genres – von der Komödie über den Abenteuerfilm oder Thriller bis hin zur hohen Tragödie mit der dafür charakteristischen existentiellen oder ethischen Tonart. Sie fungierten als Ergänzung oder Bearbeitung des Themas der heldenhaften Selbstaufopferung, der Treueprobe und der Überprüfung echter menschlicher Werte und Beziehungen, so etwa Proverka na dorogach („Straßenkontrolle“) von Aleksej German, boten aber kein zur herrschenden Interpretation des Kriegs alternatives Verständnis an. Lange wurde in der UdSSR alles, was mit dem Krieg zu tun hatte, einer extremen Sakralisierung unterzogen, die alle Versuche blockierte, die Vergangenheit rational zu betrachten. Jede Version, die sich von der Interpretation der militärischen und staatlichen Führung unterschied, jede von der allgemeingültigen abweichende Analyse der Ereignisse und Folgen des Kriegs wurde als Frevel, als Beleidigung des Andenkens an die Gefallenen, als Lästerung der höchsten nationalen Werte aufgefaßt. Dies gilt weitgehend bis heute. Dadurch erfolgte statt einer moralischen, intellektuellen, politischen oder andersartigen rationalen Aufarbeitung der negativen, traumatischen Erfahrung deren „Vernarbung“. Jeder Versuch, einzelne Aspekte des Krieges oder ihn in seiner Gesamtheit umzudeuten, wurde von der sowjetischen Obrigkeit mit aller Entschlossenheit und Brutalität unterdrückt. Die private, individuelle Erfahrung (und entsprechend auch ihr Wert) wurden in die Sphäre des „kollektiven Unterbewußten“, des kulturell Namenlosen, des Unreflektierten vertrieben. Es ging dabei weniger darum, eine psychologische Abwehr gegen die Notwendigkeit der rationalen Bearbeitung entstehen zu lassen, als um die Erhaltung eines bestimmten „Wertekurses“, eines Verhältnisses zwischen dem Privaten und dem Total-Kollektiven oder Staatlichen. Der Schriftsteller und Liedermacher Bulat Okudžava brachte dies in einfachen Worten zum Ausdruck: „Wir brauchen einen Sieg, einen für alle, den Preis werden wir schon zahlen.“ Das moralische Gefühl von Menschen, die sich nicht einfach gegen eine Aggression verteidigten, sondern gegen einen Feind, der, wie man meinte und wie offiziell behauptet wurde, einen nationalen und ethnischen Vernichtungskrieg gegen die Völker der UdSSR führte, steigert nicht nur den Triumph des Siegers. Das Selbstverständnis als Opfer einer Aggression gab den Menschen eine unerschütterliche Überzeugung von ihrer Schuldlosigkeit und menschlichen Überlegenheit, die durch den Sieg in diesem Krieg verfestigt wurde. Um diese Gewißheit zur Routine werden zu lassen, diente die außermoralische, sozial primitive, archaische, nahezu tribalistische Dichotomie „die Unsrigen vs. die Fremden“ (naši i nenaši) als Grundlage der sozialen Solidarität und der Bereitschaft, jede aggressive oder repressive staatliche Politik gegenüber anderen Ländern oder Territorien, die der UdSSR oder Rußland Widerstand leisteten, zu rechtfertigen (nicht aber zu unterstützen!). Zu erinnern ist an die Invasionen in Ungarn 1956, der Tschechoslowakei 1968 und in Afghanistan 1979). In jüngster Zeit kann dasselbe Phänomen anhand der kriegerischen Rhetorik gegenüber Georgien und den baltischen Ländern verfolgt werden (vgl. den Film „Naši“ („Die Unsrigen“) von Aleksandr Nevzorov). Die Auswirkungen lassen sich heute am Beispiel der Einstellung zu Tschetschenien, zu den Filmen Brat („Der Bruder“), Brat-2 („Der Bruder, Teil 2“), Vojna („Der Krieg“) und ähnlicher Produkte von Aleksej Balabanov und seiner zahlreichen Epigonen beobachten. Das Recht auf Gewalt wird als Kraft des Gerechten aufgefaßt. Die Willkür wird zum Legitimationsprinzip der Sozialität, wie in den Fällen Jukos und Vladimir Gusinskij bzw. während der Geiseldramen im „Nord-Ost“-Theater oder in Beslan zu sehen war. Im Alltag und im öffentlichen Diskurs ist diese Entwicklungslinie der Entmoralisierung des Kriegs zu beobachten. Der Krieg als Kultur Der Krieg ist für Rußland zum Surrogat der „Kultur“ geworden – zu einem Bedeutungsfeld für die wichtigsten Themen und Sujets der Gegenwart. Der Krieg liefert die Modelle für die wertende Darstellung der wichtigsten Konflikte und dramatischen Beziehungen. Der Krieg liefert Muster für Rituale der Gruppen- und nationalen Solidarität, der Prüfung von Menschen auf Authentizität, wie in den Filmen Germans oder Tarkovskijs. Unter diesen Umständen können die höchsten gesellschaftlichen oder gesamtnationalen Werte nur im Stil des Außergewöhnlichen ausgedrückt werden: in überdrehten, überspannten Situationen (Heldentaten, Selbstaufopferung, Rettung, Mission, Durchbruch in eine neue Realität und Lossagung vom Alltäglichen, vom „normalen Leben“). Die Außergewöhnlichkeit wird Produktionsmodus und -bedingung dieser Werte und also auch dieser Gemeinschaft. Der Alltag hingegen ist nicht nur kulturell und ideologisch nicht sanktioniert. Lange wurde er sogar als ein niederes, zersetzendes oder sogar feindliches Prinzip ausgelegt. „Kleinbürgertum“, „Spießertum“ etc. waren universelle Schreckgespenster aller ideologischen Kampagnen der Sowjetzeit. Selbstverständlich war es vom sozialen und politischen Kult des Notstands nur ein kurzer Schritt zur Rechtfertigung des endlosen Massenterrors. Die machtstaatliche Interpretation des Sieges von 1945 diente nicht nur der Rechtfertigung des sowjetischen Regimes in Vergangenheit und Zukunft. Lange Zeit erlaubte sie es den Herrschenden, ihren Antifaschismus als eine Art Antithese zum westlichen Kapitalismus und Liberalismus („sowjetische Demokratie“) auszubeuten. Die Siegessymbolik verdeckte und „sühnte“ über lange Zeit hinweg die „Fehler“ des Regimes durch chronische Mobilisierung, indem sie die Existenz einer riesigen Armee, die zum Modell für alle anderen sozialen und politischen Institutionen wurde, die Entstehung und Aufrechterhaltung des „sozialistischen Lagers“, die militarisierte Staatswirtschaft und das rasende atomare Wettrüsten bei gleichzeitigen Aufrufen zur „friedfertigen Konkurrenz“ mit dem Westen rechtfertigte. Dadurch, daß das Verständnis des Krieges und das Verhältnis zu ihm tabuisiert ist und nicht rational aufgearbeitet wird, sind die nichtsiegreiche, nichtstaatliche Seite des Krieges, seine Beschwerlichkeit und die dazugehörige menschliche Angst in eine Art „Unterbewußtsein“ der Gesellschaft abgetaucht, zu einem „blinden Fleck“ der offiziellen Erinnerung geworden. Die Siegessymbolik ist in Konstruktionen des machtstaatlichen Bewußtseins eingeschlossen. Danach gilt, daß alle „staatlichen Interessen“ Priorität haben und die Bevölkerung über die „Bereitschaft“ verfügen muß, alle Erschütterungen passiv zu erdulden, indem an die Erfahrungsressourcen einer extremen Existenz appelliert wird. Diese Symbolik beschwört die Möglichkeit, daß sich Situationen des „Krieges“ wiederholen können, ob lokal oder global, aber immer der privaten, häuslichen, familiären Welt entzogen und mit ihren Mitteln nicht lenkbar. So sind diese beiden allgemeinen Ebenen des Kriegs mit den beiden Ebenen der nationalen Befindlichkeit verbunden: Auf der einen Seite staatspatriotischer Enthusiasmus und Mobilisierung (und dementsprechend die Motivation der „Bereitschaft, die Forderungen von Partei und Regierung als inneres Bedürfnis eines jeden zu erfüllen“, wie es in den Aufrufen der sowjetischen Propaganda hieß), auf der anderen Seite der Wunsch nach „Ruhe“, der Wert einer stabilen Existenz. Da es die nicht gibt, herrschen eine kollektive Asthenie, Müdigkeit sowie die Angst, den relativen Wohlstand des Privatlebens zu verlieren. Dem Patriotismus und der Mobilisierung entspricht die allgemeine Überzeugung, daß „die Russen ihren Nationalcharakter und ihre seelischen Eigenschaften in ihrer ganzen Fülle in Zeiten des Umbruchs, in Jahren des Kriegs und angesichts von Schicksalsschlägen an den Tag legen“, unter außergewöhnlichen, katastrophalen Umständen (in „Heldentaten“ und „massenhaftem Heldentum“ an der Front und bei der Arbeit) und nicht in „ruhigen und glücklichen Zeiten“. Diese Überzeugung teilt eine absolute Mehrheit der Russen (77 Prozent der Befragten). Sie ist zu einer Norm der symbolischen Identität geworden. Fast die Hälfte der Befragten (45 Prozent) gibt sich nüchtern Rechenschaft darüber, daß der Krieg „mit Zahlen statt Können“ geführt wurde, daß der Sieg um den Preis einer gewaltigen Anzahl von Opfern und Verlusten unter Militärs und Zivilbevölkerung errungen wurde, daß der extrem niedrige Wert des einfachen menschlichen Lebens eine seiner Bedingungen war. Aber all dies hat wenig Einfluß darauf, wie sie die Handlungen der Staatsführung beurteilen. Die Vorstellung, daß massenhafte Verluste unvermeidlich und Millionen Opfer quasi „selbstverständliche“ Notwendigkeit seien, ist Bestandteil des allgemeinen semantischen Feldes, das Begriffe wie „nationale Heldentat“ und „allgemeines Heldentum“ umgibt. Bezeichnenderweise werden diese Vorstellungsnormen vom Krieg auch auf die Armeen der Alliierten und sogar der Deutschen übertragen. Das Massenbewußtsein der Russen ist einfach nicht imstande, sich Kriege vorzustellen, in denen die Militärführung es sich zum Ziel setzt, das Leben ihrer Untergebenen mit allen Mitteln zu bewahren Die moralische, intellektuelle und politische Unfähigkeit der rußländischen Gesellschaft, die traumatischen Umstände des Kriegsausbruchs und der Kriegsführung sowie die Erbarmungslosigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung und der Armee zu verarbeiten, hat dreizehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus dazu geführt, daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung unter Putin allmählich zur offiziellen Sicht auf die Kriegsursachen und den Preis des Siegs zurückfindet. Die Mythen von der Unvermeidlichkeit des Kriegs, der „Plötzlichkeit“ der Hitlerschen Aggression usw. werden wiederbelebt. Der Anteil solcher Antworten ist um mehr als die Hälfte gewachsen, von 21 Prozent auf 38 Prozent. 2001 war fast die Hälfte der Befragten (47 Prozent) der Ansicht, daß es Ende der 1930er Jahre unmöglich gewesen wäre, den Krieg zu verhindern; 35 Prozent waren anderer Meinung (nach der bereits zitierten Umfrage). Diese Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit des Massenbewußtseins ist für uns in diesem Fall von großer Bedeutung. Es spiegelt nicht etwa eine Spaltung der Gesellschaft in „Parteien“ mit deutlichen Positionen und klaren Überzeugungen wider, sondern ist symptomatisch für ein „unreines Gewissen“ und ein latentes Schuldgefühl oder Unzufriedenheit mit der allgemein anerkannten Haltung zum Krieg. Hier seien zwei weitere Beispiele genannt, die den Charakter dieses nationalen „Unterbewußtseins“ offenbaren: 68 Prozent der Befragten sind der Ansicht, daß „wir nicht die ganze Wahrheit über den Vaterländischen Krieg kennen“, und 58 Prozent denken, daß die Idee von der „Plötzlichkeit“ des deutschen Angriffs auf die UdSSR am 22. Juni 1941 erfunden wurde, um „Stalins politische Fehlkalkulationen zu verdecken“, die Grund für die mangelnde Kriegsbereitschaft des Landes gewesen seien. Solche scheinbaren Widersprüche in der öffentlichen Meinung sind Ausdruck von Passivität und Ergebenheit gegenüber der offiziellen Auslegung bei einem gleichzeitigen tiefsitzenden Argwohn ihr gegenüber. Dies bedeutet, daß es der Gesellschaft an einer moralisch, intellektuell oder auch nur sozial autoritativen Gruppe oder Instanz fehlt, deren Position von einer Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden könnte. Je komplexer also die Fragen zum Kriegsverständnis oder zur Kriegserinnerung, desto wirrer und unklarer ist die Reaktion der öffentlichen Meinung. So weiß etwa die Hälfte der Bürger Rußlands (52 Prozent) von den Diskussionen über die Geheimprotokolle des Molotov-Ribbentrop-Paktes, die eine Teilung Polens und eine Aufteilung der Einflußsphären in Europa vorsahen (von ihnen glaubt übrigens ein Viertel, daß sie eine Fälschung sind). Aber nur etwas mehr als die Hälfte derer, die vom Molotov-Ribbentrop-Pakt wissen, ist der Ansicht, daß „Hitler durch dieses Abkommen für seine Pläne zum Zweiten Weltkrieg Handlungsfreiheit bekommen hat“ (54 Prozent), während die übrigen eher Großbritannien und Frankreich sowie dem „Münchner Abkommen“ die Schuld zuschreiben. Mehr noch, heute sind sogar mehr Befragte bereit, den Molotov-Ribbentrop-Pakt zu billigen, als überhaupt wissen, worin er bestand (40 Prozent der Befragten gegenüber 23 Prozent). Hier wirkt die altsowjetische Deutung des sowjetisch-deutschen Vertrags als erzwungener Schritt Stalins nach, der Zeit gewinnen wollte, um das Land auf den Krieg vorzubereiten. Die Legitimationsfunktionen des Kriegs Der Krieg und die Kriegsopfer haben in den Augen der rußländischen Gesellschaft nicht nur die Armee als eine der zentralen, grundlegenden sozialen Institutionen, als tragendes Gerüst des gesamten sowjetischen und postsowjetischen Regimes sakralisiert, sondern auch das Prinzip eines „vertikalen“ Aufbaus der Gesellschaft, das Kommandomodell einer hierarchischen gesellschaftlichen Ordnung, die die Autonomie und den Selbstwert einer privaten Existenz und von nicht vom „Ganzen“ abhängigen Gruppeninteressen nicht anerkennt. Rußlands Gesellschaft hat die Zeit der kritischen Umwertung ihrer Vergangenheit, unter anderem der militärischen Vergangenheit, hinter sich gelassen und die Diskussionen über den „Preis“ des Sieges sowie die Bewertung der Vor- und Nachkriegspolitik ins Abseits befördert. Heute wird die Erinnerung an den Krieg und den Sieg in erster Linie durch Mechanismen geschaffen, die auf die Konservierung des gesellschaftlichen Ganzen zielen und die Gesellschaft vor wachsender Komplexität und Differenzierung bewahren. Die Erinnerung an den Krieg nützt vor allem der Legitimation der zentralisierten und repressiven sozialen Ordnung, sie ist in das allgemeine Gefüge der posttotalitären Traditionalisierung der Kultur in einer Gesellschaft eingefügt, die mit den Herausforderungen der Verwestlichung und Modernisierung nicht fertig wird; einer Gesellschaft, welche die Anstrengungen der begonnenen sozialen Veränderungen nicht ausgehalten hat. Daher ist die rußländische Staatsmacht gezwungen, ständig zu denjenigen traumatischen Umständen der Vergangenheit zurückzukehren, um Schlüsselmomente nationaler Mobilisierung zu reproduzieren. Der nicht ausgelebte Krieg führt zu Rückfällen staatlicher Aggression – zum Tschetschenienkrieg und zur Restauration eines repressiven Regimes. Die „Erinnerung“ an den Krieg als einer ganzen Epoche, an eine Zeit, mit der eine Vielzahl privater und kollektiver Ereignisse verbunden ist, wird in Rußland heute nur in diversen Erscheinungsformen staatlicher Institutionen oder mit der Macht verbundener gesellschaftlicher Gruppen bewahrt, die Anspruch auf sozialen oder politischen Einfluß erheben oder als Ideologen und Vollzieher staatlicher Aufträge in Erscheinung treten. Die prunkvollen staatlichen Feiern zum 60. Jahrestag des Sieges werden für die rußländische Gesellschaft nicht zum Anlaß für eine rationale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart. Das angekündigte Programm feierlicher Veranstaltungen wird zu einer Routinebekundung der Verbundenheit mit den Symbolen der vergangenen Größe des Staates – Symbolen, die ihre Kraft und Bedeutung verlieren. Es handelt sich um eine Zwangsimitation kollektiver Solidarität mit der Staatsmacht, hinter der nichts anderes steht als bürokratisch-polizeilicher Patriotismus und politischer Zynismus. Aus dem Russischen von Mischa Gabowitsch, Moskau

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