Staatsbesuche
Internationalisierte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Rußland und Deutschland
Volltext als Datei (PDF, 663 kB)
Abstract in English
Abstract
Gedenkveranstaltungen der Jahre 2004 und 2005 zeigen, daß die Internationalisierung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg in vollem Gangeist. Sie findet jedoch im Rahmen nationaler Erinnerungskulturen statt. Die rußländischen und deutschen Reaktionen auf den 60. Jahrestag des D-Day in der Normandie illustrieren, daß ein internationalisiertes Gedenken unterschiedliche Implikationen hat. Während in Deutschland das traditionelle Gedenkparadigma zur Disposition steht, nach dem die nationalsozialistischen Verbrechen negativer Bezugspunkt jeder Politik sind, wird in Rußlanddie Sorge laut, die Internationalisierung des Gedenkens könnte die Monumentalität der sowjetischen Opfer und die Bedeutung des eigenen Beitrags zum Sieg über Nazideutschland schmälern.
(Osteuropa 4-6/2005, S. 7487)
Read this article's international version:
State visits
Volltext
Das· Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in den europäischen Staaten und der Sowjetunion war bis in die 1980er Jahre durch seine Einbindung in die symbolische Architektur der Systemkonfrontation zwischen Ost und West gekennzeichnet. Zwar war es selbstverständlich, daß bei offiziellen Feierlichkeiten das Gedenken an die Opfer mit der Erinnerung an den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland einherging. Dies traf besonders auf die Sowjetunion zu, in der die Erinnerung des „Großen Sieges“ (velikaja pobeda) über den Faschismus das zentrale Symbol der moralischen Überlegenheit der sowjetischen Gesellschaftsordnung im allgemeinen und der Kommunistischen Partei im besonderen darstellte und als solche auch (zumindest unmittelbar nach 1945) in den Einstellungen der Bevölkerung vorhanden war. Jedoch nahmen die Erinnerungsfeierlichkeiten der 1960er bis 1980er Jahre stets Bezug auf die Systemkonfrontation zwischen Ost und West. Am deutlichsten kam dies in den jahrzehntelangen Mahnungen zum Frieden in Europa angesichts der Opfer des Zweiten Weltkriegs zum Ausdruck, Mahnungen, die mit der wechselseitigen Bezichtigung militärischer Aufrüstung einhergingen, während die Friedfertigkeit hinter den eigenen Raketen hervorgehoben wurde. Auf diese Weise war es weniger das besiegte Nazi-Deutschland, das den normativen Referenzpunkt für Praktiken des offiziellen Gedenkens darstellte, als eher das Verhältnis zwischen den Supermächten, die sich durch das Gedenken auf die moralisch richtige Seite manövrierten. Seit der Auflösung der Sowjetunion hat diese Abgrenzungsrhetorik im Vehikel der Erinnerung des Zweiten Weltkriegs nuancierteren, aber keinesfalls unproblematischen Praktiken internationalisierter Erinnerung Platz gemacht, unter denen die offiziellen internationalen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des D-Day im Juni 2004 in der Normandie sowie die zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, die im Mai 2005 in Moskau stattfinden, sicher den Höhepunkt bilden. Diese Feiern stehen am vorläufigen Ende einer historischen Entwicklung, in der ein zunächst zaghaft entstehendes, Nationen übergreifendes Gedenken in Europa und den USA sich zu einem symbolischen Zirkulationszusammenhang verdichtete, der schließlich auch Rußland einbezog. Auf internationaler Ebene sind die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ihre Weiterentwicklung zu EG und EU maßgeblicher Motor dieser Entwicklung. Der politische Kerngedanke, welcher der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zugrundelag, war, durch eine Verzahnung der nationalstaatlichen Ressourcenwirtschaft die Möglichkeit von Kriegsökonomien in Europa auszuschließen. Die Idee der EU gründet auf dem Schluß aus einer gemeinsamen historische Erfahrung: nie wieder Krieg in Europa. Die Rede von Bundespräsident Roman Herzog aus Anlaß des 50. Jahrestags des Kriegsendes auf der internationalen europäischen Gedenkveranstaltung am 8. Mai 1995, in der er betonte, daß 50 Jahre zuvor ein „Fenster nach Europa aufgestoßen“ worden sei, konnte somit zwar einerseits als Vergessenswunsch kritisiert werden. Andererseits sprach Herzog kaum etwas anderes als die deutungskulturelle Vollendung eines symbolisch-politischen Integrationsprojektes aus, das von Anfang an implizit auf eine gemeinsame, europäische Erinnerung abgezielt hatte. So konnte die Bundesrepublik, die die durch Nazideutschland verursachten Leiden politisch zu verantworten hat, gerade im Namen dieser Verantwortung in europäische Gedenkveranstaltungen integriert werden – eine Möglichkeit, die in der Rückschau auf der Ebene internationaler Beziehungen durch die Gründung der EWG implizit bereits geschaffen worden war. Beschleunigt wurde diese Möglichkeit vermutlich durch eine Umstellung des Symbolhaushalts der westlichen Gesellschaften zwischen 1950 und 1980. Nach und nach wurde triumphalistischen Deutungen der Vergangenheit des Krieges und insbesondere der Konzeption des „Kriegstodes“ eine generelle Absage erteilt. Diese Absage verband nicht nur pazifistische Gruppen über nationalstaatliche Grenzen hinweg, sondern angesichts der stets gegenwärtigen Bedrohung des atomaren Vernichtungskriegs wurden solche Grenzen zunehmend irrelevant. Die Darstellung des Kriegstodes gehört nicht mehr zur selbstverständlichen, symbolischen Ausstattung dieser Gesellschaften. Der Kriegstod stürzt sie vielmehr in eine symbolische Krise, was daraus ersichtlich ist, daß Gefechtstote verschämt als casualties bezeichnet werden, daß schon einzelne gefallene Soldaten aus westlichen Ländern zu Aufläufen höchster Staatsrepräsentanten um Zinksärge auf Flughäfen führen und daß sich die öffentliche Meinung nicht genug darin ergehen kann, die Selbstmordanschläge religiöser Extremisten als unbegreiflich zu verurteilen – während vor nicht einmal 100 Jahren eine solche Opferbereitschaft von den Soldaten gefordert wurde, als sie im Ersten Weltkrieg zu Hunderttausenden aufeinander gehetzt wurden. Diese Delegitimierung triumphalistischer Rhetorik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat zu einer symbolischen Annäherung zwischen Deutschland auf der einen Seite und den ehemaligen Alliierten auf der anderen Seite beigetragen, die bereits in vollem Gange war, als die Sowjetunion auseinanderfiel. Es ist deswegen nicht erstaunlich, daß die Erinnerungspraktiken im postsowjetischen Rußland auf diesen transnationalen symbolischen Zusammenhang in grundsätzlich anderer Form reagieren, als es in Deutschland der Fall ist. Reisen und Auftritte von staatlichen Repräsentanten auf internationalen Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende spielen in der Internationalisierung des Gedenkens eine große Rolle. Wie die Bezeichnung „politischer Repräsentant“ bereits zum Ausdruck bringt, sind Politiker nicht nur Stellvertreter derjenigen, die sie vertreten, sondern sie „stehen für etwas“. Daß dieser Signifikationsaspekt ernst genommen wird, kommt wohl nirgends besser als in der „hohen Schule der Diplomatie“ zum Ausdruck, in der der symbolische Wert der einzelnen Akteure im Hinblick auf ihr Herkunftsland, auf ihr Betätigungsland und im Verhältnis untereinander die entscheidende Interpretationshilfe darstellt, mit der sich die Absichten nationalstaatlicher Regierungen deuten lassen. Diplomatie zeigt, daß nationalstaatliche Politiker Teil transnationaler Symbolzirkulation sind. Dies kommt besonders bei internationalen Gedenkveranstaltungen zum Ausdruck. Wie die Gesten und Worte eines politischen Repräsentanten ausgelegt werden, hängt nämlich nicht nur von ihnen selbst ab, sondern auch von ihrem Stellenwert im symbolisch-politischen Zusammenhang der Veranstaltung (im „Protokoll“) und ebenfalls von der Bedeutung des Repräsentanten in seinem Herkunftsland. Gedenkveranstaltungen sind allerdings besonders prekäre Veranstaltungen, weil sie an spezifischen Orten stattfinden, die Pierre Nora lieux de mémoire genannt hat. Dabei handelt es sich um Orte, die im Erinnerungsritual eine symbolische Verdichtung der Vergangenheit heraufbeschwören. Die Einladung eines ausländischen politischen Repräsentanten zu einer Gedenkveranstaltung erzeugt einen transnationalen Interpretationskontext, der seine Interpretabilität jedoch „vor Ort“ beweisen muß, weil die Erinnerungen vorreflexiv mit bestimmten Orten in Verbindung gebracht werden. Das „Gelingen“ einer solchen Veranstaltung – d.h. die Zuerkennung einer im Hinblick auf Erinnertes und Erinnernde spezifischen Angemessenheit des Gedenkens – zieht sich an einem Punkt, einem lieu de mémoire zusammen, der Zeit und Ort des Gedenkens determiniert und so aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt. Diese grundsätzlich prekäre Ausrichtung von Gedenkveranstaltungen ist Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Die Auseinandersetzungen darüber, wer wen einladen und mit wem zusammenbringen darf, und um die Frage, ob das Gedenken „gelungen“ ist, finden in der Öffentlichkeit mindestens ebensoviel Beachtung wie das zu Erinnernde selbst. Welchen normativen Gehalt die Vergegenwärtigung der Vergangenheit haben sollte, wird anhand von Gedenkveranstaltungen gewissermaßen auf der Ebene des Handwerkszeugs diskutierbar. Sie sind sowohl Erinnerung als auch Meta-Erinnerung: Sobald eines Ereignisses ein erstes Mal gedacht worden ist, wird jedes erneute Gedenken als eine Wiederholung, eine Neuauflage oder ein Bruch mit jenem erstem Gedenken registriert. Als rituelle Ereignisse mit dem grundsätzlichen Anspruch auf Wiederholbarkeit sind Gedenkveranstaltungen per se in ihre eigene Geschichte verstrickt und repräsentieren niemals nur das zu Erinnernde selbst, sondern auch seine vorigen Repräsentationen. Den vorläufigen Höhepunkt internationaler Gedenkfeiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs bilden zwei kurz aufeinander folgende Veranstaltungen: die Erinnerung an die alliierte Landung in der Normandie am 6. Juni 1944, dem „D-Day“ (day of decision) im Juni 2004, und die Gedenkveranstaltung in Moskau am 9. Mai 2005. Bei den zahlreichen Begegnungen dieser Veranstaltungen wird jener transnationale, symbolische Zirkulationszusammenhang offengelegt, welcher der Internationalisierung des Gedenkens zugrundeliegt. Der D-Day mit Putin und Schröder aus Sicht der Europäer Am 1. Mai 2004 traten zehn Staaten der EU bei, darunter ehemalige sozialistische „Bruderstaaten“ und gar drei Ex-Sowjetrepubliken. Dieses besondere Datum machte aus Sicht westeuropäischer politischer Akteure verstärkte Kommunikationen und Bekundungen zur Kooperation mit Rußland wünschenswert. Daher waren auch die Staatsbesuche zwischen Deutschland, Frankreich und Rußland vor den Feierlichkeiten zum D-Day in der Normandie ein Teil von Beschwichtigungsbemühungen. So verpaßten sich Schröder und Chirac im April 2004 in Moskau nur um Haaresbreite: Während der Bundeskanzler am 1. April Putin im Kreml besucht hatte, traf das französische Staatsoberhaupt einen Tag später zu einem Blitzbesuch in Moskau ein. In der europäischen Presse wurde dieser letztere Besuch dreifach interpretiert. Erstens wurde vermerkt, daß sich Chirac für die Einladung nach Moskau mit einer Gegeneinladung an Putin zu den internationalen Gedenkfeierlichkeiten „revanchiert“ habe; zweitens wurde hervorgehoben, daß Chirac als erster hoher ausländischer Repräsentant die militärische Satelliten-Kontrollzentrale Titov nahe Moskau habe besuchen dürfen; drittens wurde auf den schon erwähnten diplomatischen Reigen hingewiesen: Schröder einen Tag vor Chirac und einen Tag nach Chirac UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Die Einladung in die Normandie an Putin erfolgte als Teil ostentativer Bemühungen um Entspannung des Verhältnisses zwischen der EU (bzw. den westlichen Industriestaaten) und Rußland, wie ein Bericht aus der NZZ illustriert: Chirac revanchierte sich für die Geste des Kreml-Chefs mit einer Einladung für Putin zu den 60-Jahr-Feiern der alliierten Landung in der Normandie als Zeichen der Wertschätzung für die russischen – damals noch sowjetischen – Kriegsanstrengungen während des Zweiten Weltkriegs. Chirac wies darauf hin, daß die entscheidenden Wendepunkte in diesem Krieg in Moskau, Kursk und Stalingrad erkämpft worden seien. Die beiden Staatschefs sprachen sich im Weiteren für vermehrte internationale Kooperation in der Terrorismusbekämpfung und für eine gegenseitig befriedigende Lösung in der Frage des Verhältnisses Moskaus zur Europäischen Union nach der EU-Osterweiterung Anfang Mai aus. Wie in der Schweiz wurde auch in der EU die Einladung an Putin als Teil der internationalen Kooperation, insbesondere auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung, dargestellt. Chiracs Geste, die sowjetische Leistung in der gemeinsamen Kraftanstrengung des Zweiten Weltkriegs anzuerkennen, verweist auf die Zusammenarbeit, die sich nun ebenfalls auf kämpferischem Gebiet zu bewähren habe. Die Tatsache, daß der ehemalige Gegner – das nationalsozialistische Deutschland – ungenannt bleibt, veranschaulicht, daß aus westeuropäischer Perspektive die historische Dimension des Gedenkens des Zweiten Weltkriegs hinter die Erfordernisse der aktuellen Politik zurücktritt. Ganz anders stellte sich die Situation in bezug auf die Einladung dar, die einige Wochen vor der Gedenkveranstaltung an Kanzler Schröder erging. Sie stellte faktisch einen erneuten Versuch dar, Deutschland zu integrieren. Zehn Jahre zuvor hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand mitteilen lassen, daß er wünsche, nicht zu den 50-Jahr-Feiern eingeladen zu werden, da es für ihn keinen Grund gebe, eine Schlacht zu feiern, in der viele deutsche Soldaten umgekommen seien. Insofern war die Einladung an Schröder weniger gegenwärtigen diplomatischen Verhältnissen geschuldet. Vielmehr stand sie im Zusammenhang mit der Frage, wie zu gedenken ist und wie Gedenken europäisiert werden kann. Es schien den politischen Akteuren der EU wohl prekär, am 1. Mai zahlreiche Länder im Namen des europäischen Einigung in die EU aufzunehmen und einen Monat später an das Kriegschaos in Europa zu erinnern, das diesem Gedanken historisch zugrunde lag, und dabei auf eines der wichtigsten EU-Mitglieder zu verzichten. So mußte in einer zukunftsorientierten statt rückwärtsgewandten Art und Weise der Landung der Alliierten in der Normandie gedacht werden, also im Sinne von Herzog, daß mit dem Kriegsende das „Fenster nach Europa“ aufgestoßen worden sei. So gesehen bildete die Landung in der Normandie aus der Sicht des Jahres 2004 den Anfang vom Ende des Krieges und den Beginn der Europäischen Union. Sie eignete sich für diese Deutung deswegen, weil es eine Meta-Erinnerung eines europäischen Gedenkens gab. Der Bundeskanzler trat zu einem symbolischen Geschehen hinzu, das ein historisches Eigengewicht hatte, welches schon auf Europa verwies. Schröder beim D-Day: Die Rezeption in Deutschland In der europäischen Öffentlichkeit waren die Feiern in der Normandie ein wichtiges Thema. Dementsprechend breit wurde Schröders Teilnahme rezipiert. Es dominierten Stellungnahmen und Wertungen, die widerspiegelten, wie der Kanzler die Gedenkveranstaltung und seine Teilnahme interpretierte, und weniger das, dessen gedacht wurde. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, im welchem Maße das Gedenken des Zweiten Weltkriegs in Europa selbst zum Gegenstand von Erinnerung – zur Meta-Erinnerung – wird. Schröder trat am 6.6.2004 in der Öffentlichkeit gleich zweifach in Erscheinung: erstens auf der Hauptzeremonie der internationalen Gedenkveranstaltung in Arromanches-les-Bains, zweitens mit einem programmatischen Artikel in der Bild am Sonntag, in dem er seinen Auftritt in der Normandie mit der Rolle Deutschlands in Europa in Verbindung brachte. Beide Texte sind von Meta-Erinnerung geprägt. In dem deutschen Massenblatt spricht Schröder von der Notwendigkeit des Gedenkens, aber auch davon, daß Heute […] wir Deutsche dieses Datums erhobenen Hauptes gedenken [können]. Der Sieg der Alliierten war kein Sieg über Deutschland, sondern ein Sieg für Deutschland. Er zieht Richard von Weizsäckers kanonisch gewordene Rede zum 8. Mai 1985 heran, daß der 8. Mai für Deutschland „nicht Niederlage, sondern Befreiung“ bedeutet habe – Befreiung von einem „Verbrecher-Regime“ und der „Hitlerei“ mit der Perspektive auf ein Europa, das „endlich eins“ geworden sei und nun „miteinander leben und feiern“ könne. Im Gegensatz zu diesem belehrenden Unterton ist die Gedenkrede des Bundeskanzlers von einer Spannung geprägt, die sich zwischen der Anerkennung unterschiedlicher Kriegserinnerungen in Frankreich und Deutschland sowie seiner Schlußfolgerung entwickelt, in die Deutsche, Franzosen und alle Europäer einbegriffen werden: „Wir wollen ein vereintes, freiheitliches Europa, das seine Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit auf dem eigenen Kontinent und in der Welt wahrnimmt.“ Die territoriale politische Verantwortung Europas wird erweitert, indem die bitteren Erinnerungen der von Nazi-Deutschland besetzten Länder anerkannt und in eine europäische „Lektion“ übersetzt werden, für die „gerade“ Deutschland stehe: Europa hat seine Lektion gelernt, und gerade wir Deutschen werden sie nicht verdrängen. Europas Bürger und ihre Politiker tragen Verantwortung dafür, daß auch anderswo Kriegstreiberei, Kriegsverbrechen und Terrorismus keine Chance haben. Die Deutschen fungieren in Schröders Rede als Bürgen der Erinnerung und der Lehren aus der Geschichte, wodurch die Spannung zwischen partikularen Erinnerungen und allgemeinen Lehren in eine politische Mission aufgelöst wird. Im Vergleich offenbaren die beiden Erinnerungstexte unterschiedliche implizite Referenzen auf Deutungstraditionen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. In der Bild am Sonntag zeigt sich ein Topos, der die deutsche Debatte seit dem Ende des Zweitens Weltkrieges geprägt hat: daß Deutschland die Verantwortung für die Verbrechen Nazi-Deutschlands trage. Die ostentative Begründung, an den Festlichkeiten in der Normandie gemeinsam mit den ehemaligen Kriegsgegnern teilzunehmen, wird durch eine semantische Trennung zwischen „Hitlerei“ und „Deutschland“ erreicht. Im Dienste dieser Begründung steht der Verweis auf die Weizsäcker-Rede von 1985, aus der nicht etwa die Benennung der einzelnen Opfergruppen, sondern der Gedanke übernommen wird, daß der 8. Mai 1945 für Deutschland eine Befreiung gewesen sei. Schröders Beitrag knüpft an deutungskulturelle Kontinuitäten an, die sich als die Kehrseite eines im politischen System Deutschlands mittlerweile verankerten Konsenses über die grundsätzliche Bedeutung der Nazi-Diktatur für das Selbstverständnis der Bundesrepublik erweisen. Gerade weil sie Allgemeingut geworden sind, spielt diese Bedeutung in innenpolitischen Auseinandersetzungen keine Rolle mehr. In der Rede hingegen wird eine kürzere erinnerungspolitische Traditionslinie fortgeschrieben, der erstmals Bundespräsident Herzog in seiner bereits erwähnten Rede vom „Fenster nach Europa“ gefolgt war. Diese Deutung fungiert in Schröders Rede als zentrales Scharnier: Die unterschiedlichen, bitteren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg lassen sich in ihrer Differenz nur angesichts der gegenwärtigen politischen Befriedung und Einigung Europas mit Sinn versehen. Im Unterschied zu Herzog jedoch, der Europa eher als politischen Möglichkeitsraum paraphrasiert hatte, entwirft Schröder es als handfestes politisches Projekt, an dessen Aura die Deutschen nicht nur teilhaben, sondern an dem sie aktiv mitwirken – ja, weil sie „nicht verdrängen“ und „nicht vergessen“, in führender Rolle. Die Erinnerung an das Kriegsende kann so von einer selbstbeschränkenden Topik, die ihr im nationalstaatlichen Kontext bei den Konservativen wie bei den Linken stets innegewohnt hatte, in eine selbstermächtigende Pointe im europäischen Zusammenhang umgeschrieben werden. Diese unterschiedlichen impliziten Traditionen, die sich in Schröders Beiträgen zum 6. Juni 2004 zeigen, werden von der Presse in einen expliziten Kontext der Meta-Erinnerung gestellt. Der Bundeskanzler habe „einen symbolischen Schlußstrich von großer Bedeutung“ gezogen, so die britische Zeitschrift The Guardian. Und Le Parisien schreibt, Schröder habe eine neue Seite in der Geschichte Frankreichs und Deutschlands aufgeschlagen, indem er (im Unterschied zu seinem Amtsvorgänger) die Einladung in die Normandie angenommen und eine „Rede ohne Doppeldeutigkeit und voller Mut“ gehalten habe. Auch der Corriere della Sera würdigte die Leistung Schröders, unter dem immensen Druck der internationalen Erwartungen die Erinnerung mit der Zukunft zu verbinden, „ohne dabei seine eigene Rührung zu verbergen“. Diese Kommentare zeigen, daß die Teilnahme Schröders an der internationalen Gedenkveranstaltung auch mit der bisherigen Haltung Deutschlands zur eigenen Vergangenheit verglichen wurde. Die doppelte Bewertung, inwiefern der Auftritt des Bundeskanzlers angemessen gewesen sei, prägt auch die deutsche Diskussion. Abgesehen von einzelnen Politikern aus der CDU/CSU wie Peter Ramsauer und Norbert Geis, die bemängelten, daß Schröder keine deutschen Soldatenfriedhöfe auf dem Besuchsprogramm habe, wurde dessen Auftritt in der Regel als angemessen empfunden. Indes verging nicht viel Zeit, bevor er von linksliberaler Seite kritisch beleuchtet wurde. Gunter Hofmann, Leiter des Berliner ZEIT-Büros brachte ein diffuses Unbehagen an der „Historisierung“ der deutschen Vergangenheit zum Ausdruck: Der Kanzler entsorgt nicht die Vergangenheit, er wählt auch nicht einfach die falschen Worte – aber tatsächlich geht es mit der „Historisierung“ der eigenen Vergangenheit, gerade unter rot-grüner Regie, in atemberaubendem Tempo voran. Wenn es aber so ist, wie weit verliert die Vergangenheit dann ihren konstitutiven Charakter für das Selbstverständnis der Republik? Hofmanns Unbehagen mündet in den Verdacht, daß deutsche Politiker zu gut aus der Vergangenheit gelernt hätten und gerade deswegen diese Vergangenheit verabschieden könnten. Schröders und Fischers Umgang mit dem Nationalsozialismus wird zwar als Teil des deutschen Gedenkens als angemessen, aber darin wiederum als zu angemessen eingeschätzt. So wünschenswert Schröders Auftritt auch sei, so unverbindlich bleibe er, und eine deutsche Menschenrechtspolitik, die zu trotzig darauf beharre, aus „Auschwitz“ gelernt zu haben, sei gerade deswegen für die Inkonsistenzen des eigenen Handelns blind. Der Autor schließt mit einem verbalen Stirnrunzeln: Die eigene Vergangenheit, die sich allem Begreifbaren am Ende immer entzog, erscheint – wohlgeordnet. Unvermittelt ertappt man sich seltsamerweise bei dem Gedanken, daß man sie sich weniger ordentlich wünscht. Dieses „man“ verkörpert eine deutsche Deutungstradition, in welcher der Nationalsozialismus als das konstitutive Andere der Bundesrepublik erscheint. Thomas Herz und Michael Schwab-Trapp haben argumentiert, daß die „Basiserzählung“ der Bundesrepublik dilemmatisch auf den Nationalsozialismus bezogen sei – formal stand die Bundesrepublik in der Rechtsnachfolge, und gleichzeitig grenzte sie sich inhaltlich ab. Indes scheint mir, daß diese Erzählung nur in einem spezifischen Spektrum erzählt wurde. Das linksliberale Spektrum trieb die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus maßgeblich voran. Doch anders als im offiziellen Antifaschismus der DDR, wo der Nationalsozialismus als negatorische Projektionsfläche der eigenen moralisch-politischen Position diente, war er in bundesdeutschen linksliberalen Kreisen historisch geronnener, in seiner Unbegreifbarkeit geradezu objektiver Maßstab jeglicher Politik. Das bundesdeutsche „Nie wieder!“ war keine selbstsichere Feststellung wie in der DDR, sondern eine Formel der ständigen Gefährdung jeglicher Politik durch den Rückfall in die Barbarei. Und darin unterscheidet es sich auch von der Schröderschen Feststellung, „daß ein Krieg der europäischen Völker gegeneinander unmöglich geworden ist“. Das linksliberale Unbehagen über die internationale Einbindung des deutschen Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg stellt sich somit als ein Bedenken dar, das sich gegen die internationale Akklamation eines deutschen „Gedenkens light“ richtet. Die russische Rezeption der internationalen Gedenkfeiern In Rußland wurde Schröders Besuch in der Normandie freundlich kommentiert. Die Izvestija bedauerte, daß nicht bereits Kohl an den Gedenkfeierlichkeiten 1994 teilgenommen habe, weil das Friedenssignal dann womöglich noch stärker gewesen wäre. Der Pressedienst des rußländischen Außenministeriums ließ verlautbaren, Putin habe Schröders Teilnahme begrüßt und bei einem Treffen dem Kanzler gegenüber betont, daß nach den Worten der russischen Veteranen die ersten Verbündeten der sowjetischen Truppen im Kampf gegen die Faschisten die deutschen Antifaschisten waren. Rußlands Staatschef hob hervor, daß die beiden Länder die Geschichte nie vergessen werden, doch die gegenwärtige Generation in Rußland und Deutschland trägt für das Geschehene keine Verantwortung, und ihre Rechte… [sollen] nicht beschränkt werden. Diese versöhnlichen Worte paßten zu der nicht minder versöhnlichen Geste vom 8. Juli 2004, Bundeskanzler Schröder zur zentralen Gedenkveranstaltung an das Kriegsende in Moskau im Mai 2005 einzuladen. Die Internationalisierung des Gedenkens wird in Rußland jedoch näher an das zu erinnernde Ereignis gerückt als in Deutschland. Der für die Darstellung in westeuropäischen Medien so typischen Abstraktion von den historischen Ereignissen, die allenfalls summarisch erwähnt werden, steht in den russischen Medien eine bemerkbare Konkretheit entgegen. Dies zeigt beispielsweise eine Meldung in Russland.ru, die über die von der Nachrichtenagentur RIA Novosti organisierte Ausstellung „Gemeinsamer Sieg“ in Paris berichtet, welche kurz vor den Gedenkveranstaltungen in der Normandie eröffnet wurde. Darin heißt es über den französischen Beitrag zum Sieg: Das kämpfende Frankreich ist auf der Ausstellung durch Bilder von Fliegern der legendären Normandie-Nieman-Staffel vertreten, die auf 273 abgeschossene deutsche Flugzeuge stolz sein kann. Diese für westeuropäische Leser unvertraut anmutende Konkretheit der Kriegserinnerung verweist auf eine Deutungskontinuität des „Großen Sieges“ im sowjetischen und rußländischen Diskussionszusammenhang der 1990er Jahre. Sie zeigt sich beispielhaft in einem Beitrag des Direktors des Amerika-Instituts an der Rußländischen Akademie der Wissenschaften, Anatolij Utkin, in der Literaturnaja gazeta im Dezember 2004. Dieser Artikel stellt eine wütende Reaktion auf den Aufruf einiger Mitglieder des Europäischen Parlaments dar, demzufolge internationale Politiker den Feiern im Mai 2005 in Moskau fernbleiben sollten: Die Deutschen sind schließlich nicht mehr dieselben, und Greuel gab es auf beiden Seiten dieser Front; vergessen wir alle diejenigen, die die Orden und Medaillen des 9. Mai tragen – es sind doch so viele Jahre vergangen. Welches Recht haben diese Leute zu fordern, das Unvergeßliche zu vergessen?! Waren es doch wir, unser Land, das sie im letzten Jahrhundert zweimal rettete! An diese Anklage schließen sich zahlreiche historische Fakten, aber auch zentrale Erinnerungssymbole des Großen Vaterländischen Krieges in der Sowjetunion und Rußland an: diejenigen, die mit ihrer Brust feindliche Schießscharten blockierten und sich mit Granaten unter Panzer warfen, oder die von SS-Schergen gehenkte Schülerin Zoja Kosmodemjanskaja. Letzten Endes sei die Initiative der Europarlamentarier ein weiterer Erweis für die berechnende Geschichtsvergessenheit „des Westens“, der seit langem versuche, den russisch-sowjetischen Beitrag zum Sieg über Nazideutschland herabzuwürdigen – Versuche, die auch zum Kalten Krieg geführt hätten. Der Artikel unter dem Titel „Wir müssen unseren Sieg verteidigen!“ bildet eine Auseinandersetzung ab, die in Rußland seit über zehn Jahren stattfindet, ihren Höhepunkt aber bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatte. Die geschilderten Erinnerungstopoi wurden damals von denjenigen in die öffentliche Debatte geführt, die sich gegen eine Nivellierung der historischen Bedeutung des Großen Sieges zur Wehr zu setzen versuchten. Die Debatte war vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung über die Bedeutung Stalins für den Verlauf des Großen Vaterländischen entbrannt. Antisowjetische Intellektuelle hatten damals, sich auf neue Erkenntnisse russischer Historiker berufend, argumentiert, daß Stalin und die KPdSU einen „stümperhaften Krieg“ (bezdarnaja vojna) geführt hätten, der die Zahl der Opfer unnötig vergrößert habe. Einige waren soweit gegangen zu argumentieren, daß Hitler Stalin mit seinem Überfall auf die Sowjetunion lediglich (wissentlich oder unwissentlich) zuvorgekommen sei, weil Stalin einen Präventivschlag gegen Deutschland geplant habe. Diese Umdeutungsversuche riefen massiven Protest hervor, weil sie zwar nicht willentlich die historische Bedeutung des Großen Sieges relativierten, wohl aber den Sinn der immensen Opfer der Bevölkerung bei der Erlangung dieses Sieges in Frage stellten. Die Auseinandersetzung zwischen diesen Positionen nahm in den 1990er Jahre bisweilen die Form einer „ideologischen Lernblockade“ (Max Miller) an, weil sich beide Lager das öffentliche Rederecht streitig machten, indem sie sich gegenseitig Verrat am Volk vorwarfen: Die antisowjetischen Intellektuellen würdigten, mit Billigung des Westens, das Verdienst des russischen Volkes herab, während die Verteidiger der orthodoxen Deutung des Sieges die Verbrechen Stalins an diesem Volk verschwiegen. Dieses Konfrontationsmuster taucht auch in Utkins Artikel wieder auf, nur daß an Stelle der angeklagten Kritiker in den eigenen Reihen „der Westen“ getreten ist. Die darin artikulierte Verletzung des kollektiven Gedächtnisses des Krieges durch die ehemaligen Alliierten nimmt die Empörung auf, die 1994 durch die nicht erfolgte Einladung Rußlands zu den 50-Jahr-Feiern der Landung in der Normandie ausgelöst worden war. Das hatte bei vielen russischen Intellektuellen und Historikern den Verdacht erregt, es solle der Eindruck erweckt werden, „als ob es keine große Schlacht bei Stalingrad gegeben hätte, die zum Symbol des Beginns der strategischen Niederlage Deutschlands geworden ist, als ob es viele andere Schlachten an der sowjetisch-deutschen Front nicht gegeben hätte, die zum grundlegenden Umschwung im Krieg führten“. Utkins Artikel ist sicherlich nicht repräsentativ. Wohl aber steckt er eine symbolische Grenze ab, die aus russischer Sicht nicht überschritten werden darf: Die Internationalisierung des Gedenkens muß eine bestimmte Deutung des Sieges anerkennen. Die freundlichen Kommentare zu Schröders Teilnahme an den Feierlichkeiten in der Normandie und seine Einladung nach Moskau stehen hierzu nur scheinbar im Widerspruch. Tatsächlich bilden Politiker und andere Repräsentanten aus Deutschland aus russischer Perspektive eher Randfiguren des Gedenkens an den Großen Vaterländischen Krieg. Die relevanten Bezugspunkte sind vielmehr die ehemaligen westlichen Alliierten, von denen verlangt wird, daß sie den entscheidenden Beitrag der Sowjetunion bzw. Rußlands bei der gemeinsamen Erringung des Sieges anerkennen. Die detaillierte und metaphernreiche Schilderung der aufopferungsvollen Anstrengungen des sowjetischen/russischen Volkes bei der Erringung des Sieges über Nazi-Deutschland steht in diesem Kontext. Die Opfer gebieten den Nachgeborenen eine Reverenz, die sich nicht, wie Schröder in seiner Rede vom 6. Juni in bezug auf die Toten der Landung nahelegt, in der Anerkennung der Differenz ihrer Erinnerungen beschließen kann, sondern die eine eindeutige Anerkennung ihrer historischen Leistung „für immer“ (navsegda) einfordert. Die Erinnerung an den Krieg ist zwar auch in Rußland weit von triumphalistischer Rhetorik und von einer Affirmation des „Kriegstodes“ entfernt; aber dieser Tod wird im Unterschied zu Europa in seiner Monumentalität erinnert und nicht in ein Spiel intellegibler Differenzen aufgelöst. Fazit Man mag sich die Frage stellen, ob es überhaupt ein legitimes Unterfangen ist, die Veränderung der Erinnerung des Zweiten Weltkriegs in Rußland und Deutschland miteinander in Beziehung zu setzen – zu offensichtlich handelt es sich um Äpfel und Birnen. Auf der einen Seite ein Nationalstaat in der Rechtsnachfolge der Nazi-Diktatur, der seit vielen Jahrzehnten in westliche Strukturen eingebunden ist und sich gerade durch diese Einbindung immer wieder aufgefordert sieht, sich mit der eigenen, makrokriminellen Vergangenheit nicht nur des Krieges, sondern gerade auch des Holocaust auseinanderzusetzen. Auf der anderen Seite ein multikulturelles Rumpf-Empire, das die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg als bedrohlich für die des Großen Vaterländischen Krieges ansieht, an dessen Botschaft sich jedes Gedenken messen lassen muß. Wie soll man die Erinnerungen der Nachkommen der „Nation der Täter“ (so etwa Reinhard Koselleck) mit denen der Nachkommen des „Siegervolkes“ (narod-pobeditel’, so etwa Aleksandr Panarin) vergleichen? Es sind gerade diese Unvergleichbarkeiten und Partikularitäten des Gedenkens, die durch internationale Gedenkveranstaltungen in eine Relation zueinander gezwungen werden: Sie werden in Zukunft verglichen werden müssen, soll ein internationales Erinnern des von Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieges und Großen Vaterländischen Krieges möglich bleiben. Durch dieses Erinnern, in das Politiker auf Staatsbesuch eingebunden sind, entstehen nicht nur Übersetzungsprobleme zwischen nationalstaatlichem und internationalem Gedenken, sondern die bisherigen Erinnerungspraktiken werden in der Rückschau problematisch. In dieser Hinsicht sind Deutschland und Rußland vergleichbar. In der deutschen Öffentlichkeit richtet sich die Herausforderung an eine nationale (linksliberale) Deutungskultur, die die Erinnerung der Opfer Nazi-Deutschlands und ihrer historischen Unverstehbarkeit in den Mittelpunkt rückte. Denn diese wird durch eine nachträgliche, international sanktionierte Sinngebung problematisch, gemäß der diese Opfer auf eine im Grunde wünschenswerte Gegenwart verweisen, die die ehemaligen Täter mit den ehemaligen Siegern vereint. Auf diese Weise wird die Unterscheidung Täter/Opfer, aus der sich das Gedenken der Bundesrepublik speiste – angefangen bei dem Streit, wer die eigentlichen Opfer und wer die eigentlichen Täter seien, bis hin zur Modernisierung des Täter-Konzepts in der Ersetzung von „Schuld“ durch „Verantwortung“ – in ihrer Hybridität sichtbar. In der Normandie codierte Schröder die Sieger zu Rettern um und damit die Täter nicht zu Besiegten oder gar Opfern, sondern zu Geretteten. Auch die russisch-sowjetische Deutungskultur des Großen Vaterländischen Krieges war von Beginn an hybrid und vielgestaltig, und auch sie beruhte dennoch auf einer zentralen Unterscheidung: der zwischen Siegern und Besiegten. Gesiegt hatten Volk und Partei, besiegt worden waren der deutsche und europäische Faschismus. Unmittelbar nach dem Ende des Krieges war die Sowjetunion eine „Gesellschaft des Glaubens und der Hoffnung“ auf Frieden nach dem Sieg über die Barbarei des nationalsozialistischen Deutschland. Im Ost-West-Konflikt nahmen seit Brežnev in der offiziös-öffentlichen Erinnerung an den Krieg die „Geretteten“ den Platz der „Besiegten“ ein. Ihre Rettung legitimierte die sowjetische Hegemonie in Ostmitteleuropa. Diese Assoziierung von Siegern und Geretteten wurde nun zum Ende der Sowjetunion durch eine dritte Unterscheidung herausgefordert: durch die zwischen Tätern und Opfern. Antisowjetische Intellektuelle interpretierten sowohl die Sieger als auch die Geretteten plötzlich als die Opfer des sowjetischen Regimes. Welche schockartige Wirkung diese Herausforderung auf die postsowjetische Deutungskultur hatte, kann man daran ermessen, daß die Konfliktmuster, die diese Position zur Folge hatte, nach wie vor präsent sind und momentan, wie es aus Utkins Artikel ersichtlich wird, in der Kritik an der Internationalisierung des Gedenkens an den Großen Vaterländischen Krieg eine wichtige Rolle spielen: als Kritik der Annullierung des moralischen Siegerstatus, der auf dem Opfer gründet, das das sowjetische Volk gebracht hat. In Deutschland und in Rußland gibt es Tendenzen, die neue, internationale Einbettung des Gedenkens zu problematisieren. Darin kommt die Herausforderung zum Ausdruck, bisherige Deutungen in einen neuen Rahmen zu integrieren: Es handelt sich um eine Erinnerung an das Gedenken, die Konflikte zwischen Erinnerung und Meta-Erinnerung heraufbeschwört. Dabei hat es Deutschland bei der internationalen Einbindung leichter als Rußland: Die Perspektive ist die der Eingliederung in bestehende Gedenkveranstaltungen, die dann in gemeinsame, zukunftweisende Projekte umgedeutet werden. Allerdings sehen manche darin auch eine Gefahr. Nicht auszuschließen ist, daß es durch die internationale Einbettung des deutschen Gedenkens zu einer weiteren Domestizierung des linksliberalen Erinnerungsparadigmas kommt. Dieses Paradigma, dessen Kernsatz darin besteht, daß die Verantwortung für die Folgen der deutschen Makroverbrechen der Maßstab jeglicher deutscher Politik sein muß, ist ohnehin schon durch den überparteilichen und deshalb politisch folgenlosen Konsens geschwächt, daß Auschwitz für Deutschland „irgendwie“ wichtig sei. In Rußland hingegen wird eher die Notwendigkeit gesehen, sich im Rahmen internationaler Gedenkveranstaltungen zu behaupten. Eine bloße Eingliederung Rußlands in den bestehenden, internationalen Gedenkzusammenhang wird auf der normativen Grundlage der bisherigen Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg zurückgewiesen, weil sie einer symbolischen Minderung des historischen Verdienstes der Sowjetunion bzw. Rußlands gleichkäme. Die Internationalisierung des Gedenkens führt so in erster Linie zu einer Erweiterung des Gedenkpublikums, das einer bestimmten, nicht relativierbaren Deutung des Krieges und des Großen Sieges zustimmen muß: Es geht nicht mehr nur um antisowjetische Kritiker im eigenen Lande, sondern um praktisch die ganze westliche Welt – ironischerweise mit Ausnahme Deutschlands, das keinen primären Bezugspunkt postsowjetischer Erinnerungskultur darstellt. Angesichts einer derart enttäuschungsanfälligen Erwartung an die internationale (westliche) Öffentlichkeit sind Frustrationen, die von internationalen Gedenkveranstaltungen ausgegangen sind und ausgehen werden, vorprogrammiert.
Volltext als Datei (PDF, 663 kB)