Rechtsnihilismus in Aktion
Der Jukos-Chodorkovskij-Prozeß in Moskau
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Abstract
Die Verurteilung Michail Chodorkovskijs und Platon Lebedevs als Schwerverbrecher der Wirtschaftskriminalität wird als spektakulärer Justizskandal in Rußlands Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen. Als Handlanger einer inzwischen allmächtig gewordenen Präsidialexekutive haben Generalstaatsanwaltschaft und Gerichte ein Strafverfahren fabriziert, in dessen Verlauf die elementaren Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit systematisch und zynisch verletzt worden sind. Rußlands Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ist vorprogrammiert.
(Osteuropa 7/2005, S. 737)
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Legal nihilism in action
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Am· Dienstag, dem 31.5.2005, ging nach gut zwölf Monaten vor dem Meščanskij Bezirksgericht in Moskau der Prozeß gegen Michail Chodorkovskij, Platon Lebedev und Andrej Krajnov zu Ende. Es war das dritte und spektakulärste Strafverfahren gegen Anteilseigner und Top-Manager des Menatep-Jukos-Komplexes. Chodorkovskij und Lebedev wurden jeweils zu neun Jahren Freiheitsentzug wegen Betruges, Veruntreuung, Steuerhinterziehung und Vollstreckungsvereitelung in schweren Fällen, nämlich wegen Begehung in Form organisierter Gruppenbildung und im großen Stil verurteilt. Die Strafen sind in einer Besserungskolonie mit allgemeinem Vollzugsregime abzusitzen. Krajnov erhielt fünfeinhalb Jahre auf Bewährung, weil er sich teilweise als schuldig bekannt hatte und sich – in Grenzen – „kooperationswillig“ gezeigt hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte für Chodorkovskij und Lebedev zehn Jahre beantragt. Das Gericht blieb ein Jahr darunter, weil der angeblich betrügerische Erwerb von Aktien der Gesellschaft Apatit wegen Ablaufs der zehnjährigen Verjährungsfrist (Art. 78 Abs. 1 StGB RF) am 8.7.2004 nicht mehr verfolgt werden konnte. Im übrigen aber folgte es auf der ganzen Linie der Anklage. Der „Jukos-Prozeß“, aus dem das Chodorkovskij-Lebedev-Verfahren nur der wichtigste Ausschnitt ist, trägt – und das von Beginn an – alle Anzeichen eines Justizskandals. Als ein solcher wird er in Rußlands Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen. Das kann man voraussagen, ohne den Vorwurf der Übertreibung fürchten zu müssen. Das Verfahren hat – wie zu rechtsnihilistischen Sowjetzeiten – so gut wie alle Grundprinzipien des Strafprozeßrechts verletzt: Faire Prozeßführung (fair trial), Unschuldsvermutung, in dubio pro reo, Recht auf wirksame Verteidigung, Waffengleichheit von Anklage und Verteidigung, Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel – all dies wurde systematisch verletzt, ja zynisch verhöhnt. Solchem Ungeist entspricht das Urteil selbst: Es mißachtet die elementaren Grundsätze des Strafrechts, von Recht und Gerechtigkeit. Das ganze Ausmaß der Provokation kommt aber erst dann voll in den Blick und zu Bewußtsein, wenn man bedenkt, daß Rußlands Verfassung von 1993 mit der Rechtsstaats- und der Menschenrechtsfeindlichkeit des Sowjetsystems demonstrativ brach und daß die Staatsduma nach zehn Jahren des Ringens zwischen „Machtstaatlern“ und „Rechtsstaatlern“ am 18.12.2001 eine freiheitliche, über weite Strecken vorbildliche Strafprozeßordnung erlassen hat. Seit dem 1.7.2002 in Kraft, galt sie noch nicht einmal ein Jahr, als Generalstaatsanwaltschaft, Föderaler Sicherheitsdienst (FSB), Steuerbehörden und Gerichte mit ihrem wüsten Vorgehen gegen den Menatep-Jukos-Komplex, gegen seine Anteilseigner und Spitzenmanager, – wie zum Hohn – in der Bevölkerung weit verbreitete Hoffnungen auf mehr Rechtstaatlichkeit und Rechtskultur in einem Rechtsgebiet von hoher Symbolkraft unter sich begruben. Der Jukos-Chodorkovskij-Prozeß offenbart, wie lebendig und stark die rechtsstaatsfeindlichen Traditionen der sowjetischen Strafverfolgungspraxis in Rußland weiterwirken. Er liefert groteske Beispiele einer Rechtskultur, in der die demonstrative, pedantisch-peinliche Einforderung nebensächlicher Ordnungsvorschriften und Formalien einhergeht mit einer ebenso demonstrativen Mißachtung tragender Gerechtigkeits- und Verfahrensgrundsätze: Die Vorsitzende Richterin Irina Kolesnikova eröffnete die Verhandlung zunächst nicht, weil der von der Staatsanwaltschaft an Michail Chodorkovskij auszuhändigenden Anklageschrift ein Blatt fehlte, um „keine grobe (sic!) Verletzung der Rechte des Angeklagten zuzulassen“. Die Staatsanwaltschaft brachte ein anderes Exemplar, in dem drei Blätter fehlten, worauf die Sitzung für den dritten, nun erfolgreichen Versuch unterbrochen wurde. Die Schlußphase des Prozesses war eine Tragikomödie und Farce zugleich. Die Urteilsverkündung nahm komische Züge an – bis zur Groteske. Die StPO ist daran nicht unschuldig. Sie nimmt, guter rechtsstaatlicher Tradition folgend, das Prinzip der Öffentlichkeit (glasnost’) durchaus ernst (Art. 241). Art. 310 verfügt daher, daß das aus Einleitung, Begründung und Entscheidungsteil bestehende Strafurteil im Gerichtssaal, und zwar vollständig, verkündet werden muß. So lasen die drei Richterinnen der Strafkammer das 662 Seiten umfassende Urteil vor, zwölf Verhandlungstage hindurch. Von Tag zu Tag litt das Publikum mehr unter der Prozedur. Der Gerichtssaal, viel zu klein gewählt, war voll besetzt und, da ohne ausreichende Belüftung ausgestattet, die in jenen Tagen schwül-warme Luft zuweilen zum Durchschneiden. Die Vorleserinnen machten sich nicht die Mühe, klar und vernehmlich zu sprechen. Sie lasen mechanisch, ohne besonderes Verständnis, mit leiser Stimme, so daß selbst die unweit von ihnen sitzenden Anwälte größte Mühe hatten zu folgen. Nicht selten kamen sie ins Stottern, verhaspelten sich und erweckten den Eindruck, als kämen auch sie erstmals mit dem Text in Berührung. Dieser von Zuhörern geäußerte Verdacht war keineswegs bösartig aus der Luft gegriffen, sondern durchaus naheliegend, weil das Urteil über weite Strecken, bis in den Wortlaut hinein – unter Einschluß grammatikalischer und Rechenfehler – der Anklageschrift glich. Eine Verkürzung des Vortrags auf das Wesentliche der Urteilsbegründung sieht das Gesetz nicht vor. Das Oberste Gericht Rußlands besteht in einem Grundsatzbeschluß („Über das Strafgerichtsurteil“) auf vollständiger Verlesung und behandelt die Verletzung als Aufhebungsgrund im Kassationsverfahren (Art. 379 Abs. 1 Nr. 2 StPO). Nach dem Buchstaben des Gesetzes hätte es sogar noch schlimmer kommen können, denn das Strafurteil (prigovor) muß im Gerichtssaal „stehend angehört“ werden – in voller Länge. Aber vernünftigerweise hat man in der Praxis den Mut, die Beachtung dieser Regel auf die eigentliche Entscheidung, den Tenor (rezoljutivnaja čast’), zu beschränken. Die Beobachter waren sich einig: Wenn das Gericht mit diesem Verfahren die Hoffnung bzw. Vorstellung verbunden haben sollte, mit der vollen Autorität des Staates die Öffentlichkeit Rußlands von der Strenge und der Rechtmäßigkeit der Aburteilung namentlich Chodorkovskijs und Lebedevs zu überzeugen, dann ist diese Rechnung gewiß nicht aufgegangen. Die Prozeßbeobachter empfanden die Urteilsverkündung als ein unwürdiges Justizschauspiel, als Zerrbild eines Strafprozesses. Die Richterinnen lösten – je nach Temperament – zwischen Mitleid und Verachtung schwankende Gefühle aus. Der Prozeß und das Urteil sind auch tragisch für Rußland und für Chodorkovskij. Denn es wurde in seiner Person jemand als Verbrecher abgeurteilt, der die Anfänge skrupellosen Unternehmertums hinter sich gelassen und kraft seiner persönlichen Fähigkeiten, seiner analytischen Intelligenz und unternehmerischen Phantasie, kraft seines organisatorischen Gestaltungswillens, seiner Initiative und Entscheidungsstärke aus dem maroden Staatsbetrieb Jukos binnen weniger Jahre die leistungsstärkste und zugleich modernste Erdölgesellschaft, ja eines der bedeutendsten Wirtschaftsunternehmen Rußlands überhaupt gemacht hat. Chodorkovskijs Abstempelung als Krimineller ist auch deswegen tragisch, weil er über seinen wirtschaftlichen Erwerbssinn und Machttrieb hinaus eine gesellschaftlich-politische Vision, ein patriotisches Ziel, hat: Rußland ökonomisch und politisch zu modernisieren, Strukturen einer Bürgergesellschaft zu fördern, und den persönlichen Ehrgeiz zeigt, daran selbst mitzuwirken, „in die Politik zu gehen“. Der Jukos-Chodorkovskij-Prozeß war schließlich eine Farce, eine in die äußerlichen Formen des Gerichtsverfahrens gekleidete Willkür. Man muß schon nach Beispielen suchen, in denen ein Strafgericht unter der Geltung einer rechtsstaatlichen Verfassung und Strafprozeßordnung ein so jammervolles Bild von Inkompetenz, Unfähigkeit und Charakterlosigkeit, von Würdelosigkeit und Ergebenheit gegenüber einer ungehemmt agierenden Präsidialexekutive und ihres Büttels, der Staatsanwaltschaft, geboten hat! Die Urteilsverkündung begann mit einem Fehlstart. Sie war auf den 27. April terminiert, doch am Morgen fanden die erwartungsvoll zum Gericht geströmten Bürger und Anwälte am Aushang die lakonische Mitteilung, die Sitzung sei auf den 16. Mai verschoben worden. Eine Begründung gab es nicht. Das Gesetz schreibt sie nicht vor, und sie ist auch nicht unbedingt üblich. Die Nachricht zündete wegen der Hochspannung vor dem Prozeß wie eine kleine Bombe, und Spekulationen über die Gründe schossen ins Kraut. Während Rechtsanwalt Genrich Padva, Koordinator der Verteidigung in den verschiedenen „Jukos-Verfahren“, verständnisvoll meinte, die Abfassung des Urteils innerhalb von 14 Tagen sei wegen seines Umfanges von vornherein unrealistisch gewesen, kam die Presse ziemlich einmütig zu dem Schluß, man habe die Vorsitzende Richterin Kolesnikova wohl „von oben“ wissen lassen, daß die Urteilsverkündung so unmittelbar vor den Feierlichkeiten in Moskau anläßlich des Kriegsendes vor 60 Jahren wegen der Anwesenheit zahlreicher Staats- und Regierungschefs politisch inopportun sei. In der Tat war es kein Geheimnis, daß in den meisten westlichen Regierungszentralen – zwar selten offen, wohl aber hinter vorgehaltener Hand – sehr kritisch die „Jukos-Sache“ als politischer Prozeß und Skandal bewertet wurde. Schließlich hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarates wenige Wochen zuvor auf Vorschlag seines Menschenrechtsausschusses und namentlich der Berichterstatterin zum Jukos-Verfahren, der Abgeordneten und früheren Bundesjustizministerin Deutschlands, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Rechtsstaatswidrigkeit des Verfahrens, gegen den Protest der Abgeordneten Rußlands, in vielen Punkten förmlich gerügt. Der Performance seiner Verkündung entspricht die Qualität des Strafurteils vollkommen: Der Umgang mit dem Straf- und mit dem Strafprozeßrecht kann auf Seiten des an fair trial gewöhnten Beobachters nur Kopfschütteln auslösen. Das Ausmaß der Rechtsverletzungen ist so kraß und offenkundig, daß sich die Frage aufdrängt, woher die Regisseure des Spektakels den Optimismus nehmen, das Urteil könne in der, wie zu vermuten, – letzten – Instanz, nämlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, Bestand haben. Zwar wird es aller Erfahrung nach Jahre dauern, bis dessen Entscheidung vorliegt, aber es besteht kein Zweifel, daß „Moskau“ eines Tages die Quittung in Straßburg präsentiert werden wird. Die Unhaltbarkeit des Urteils: Haupteinwände der Kritik Um das Urteil zu würdigen, bedarf es einer detaillierten Auseinandersetzung mit den Tatkomplexen. Der Darstellung und Analyse liegen im wesentlichen die Anklageschriften der Generalstaatsanwaltschaft gegen Lebedev und Chodorkovskij sowie das Urteil in der Fassung der Protokollaufzeichnungen der Sitzungen zwischen dem 16. und 31.5.2005 zugrunde. Anklage und Urteil drehen sich vor allem um die folgenden Tatkomplexe. – Die „Apatit-Sache“, bei der es zum einen um den angeblich betrügerischen Erwerb einer zwanzigprozentigen Beteiligung am Kapital der Apatit-AG, eines Giganten der Düngemittelproduktion, in einem Privatisierungsverfahren im Jahre 1994 (Art. 159 Abs. 3 StGB RF), zum zweiten um die angeblich unkorrekte Vermarktung des Düngers zu künstlich niedrigen Preisen zum Nachteil der Aktionäre der AG (Art. 160 Abs. 3, Art. 165 Abs. StGB RF) und zum dritten um die angebliche Vereitelung der Vollstreckung eines in der Apatit-Sache erstrittenen Wirtschaftsgerichtsurteils (Art. 315 i.V.m. Art. 35 Abs. 3 StGB RF) geht; – den angeblich betrügerischen Erwerb eines „Kontrollpakets“ (44 Prozent) an dem als Aktiengesellschaft organisierten Samojlov-Forschungsinstitut für Düngemittel und Schädlingsbekämpfung (NIUIF) in Moskau, angeblich verbunden mit der Verletzung von Patentrechten (Art. 147 Abs. 3 StGB RF) und Vollstreckungsvereitelung (Art. 315 i.V.m. Art. 35 Abs. 3 StGB RF); – die angeblich durch Betrug erreichte Nutzung der Geschlossenen Stadt (ZATO) Lesnoj im Gebiet Sverdlovsk als „Steueroase“ und die dadurch bewirkte angebliche Steuerhinterziehung (Art. 199 Abs. 2 StGB RF); – die angebliche Steuerhinterziehung im Wege der angeblich durch Betrug erwirkten Verleihung des Status eines „Individuellen Unternehmers ohne Gründung einer juristischen Person“ (Art. 199 Abs.2 StGB RF); – die (nur Chodorkovskij vorgeworfene) angebliche Veruntreuung von Jukos-Geldern, angeblich dadurch, daß Chodorkovskij dem „Oligarchen“ Vladimir Gusinskij und der von jenem beherrschten Media-Most ca. 91 Millionen US Dollar vorgeblich als Kredit, tatsächlich aber wegen gewisser persönlicher Vorteile für sich selbst unter Verzicht auf die Rückzahlung überlassen habe (Art. 160 Abs. StGB RF). Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die drei wichtigsten Tatkomplexe, die Apatit-Sache, die ZATO-Nutzung als „Steueroase“ und die Steuerminimierung durch Nutzung des Individualunternehmerstatus. Die Apatit-Sache wird ausführlich einbezogen, weil sie 2003 entscheidend das Vorgehen der Generalstaatsanwaltschaft gegen die Menatep-Jukos-Anteilseigner und Spitzenmanager gerechtfertigt hat und bis heute zur Legitimation der Aktion insgesamt herhalten muß. Zwar hat das Gericht die Apatit-Sache wegen Verjährung beim Strafmaß nicht berücksichtigt, es hat aber den Schuldvorwurf der Anklage in der Sache bestätigt und dies in einem Sonderbeschluß zum Urteil (opredelenie) ausdrücklich festgestellt. Wie der Katalog angeblicher Straftaten zeigt, betreffen die Vorgänge fast ausschließlich Vermögensdelikte: Betrug, Veruntreuung, Steuerhinterziehung, Straftatbestände im Schnittbereich von Wirtschaftsrecht, Finanzrecht und Strafrecht, in einem Wort – Wirtschaftsstrafrecht. Es gilt gemeinhin und zurecht als juristisch anspruchsvoll, als schwierig, denn seine fachgerechte Bearbeitung verlangt neben der Beherrschung des Strafrechts auch beträchtliches Wissen im Zivil- und im Wirtschaftsrecht. Außerdem muß der Wirtschaftsstrafrechtler solide ökonomische Kenntnisse haben, sich in wirtschaftliche Vorgänge hineindenken können, Verständnis für ihre Zusammenhänge haben und in der Lage sein, sein multidimensionales Fachwissen zur Erfüllung seiner Aufgabe, eben der Strafverfolgung, optimal zu verknüpfen. Fast überflüssig zu betonen, daß die fachgerechte und wirksame Erfüllung der Aufgabe selbstverständlich die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Verhältnisse und die strikte Einhaltung der Prinzipien des Rechtsstaates voraussetzt. All das fällt – davon legt der Jukos-Chodorkovskij-Prozeß beredt Zeugnis ab – Staatsanwaltschaft und Strafjustiz Rußlands sehr schwer. Hier liegt denn auch ein „kulturelles“ Grund- und Kernproblem in der Behandlung des Menatep-Jukos-Komplexes. Am Ende der nun folgenden Würdigung des Strafurteils wird darauf noch einmal zurückzukommen sein. Die Apatit-Sache – Privatisierungsbetrug? Der am weitesten zurückliegende Anklagekomplex ist die Teilnahme an der Privatisierung der Apatit-AG. Er geht auf das Jahr 1994 zurück, zog sich – als Wirtschaftsgerichtsprozeß – aber bis ins Frühjahr 2004 hin. Apatit war der größte Hersteller von Mineraldünger in der UdSSR, dann als AG in Rußland. Auf der Halbinsel Kola gelegen, hat das Unternehmen der Stadt Apatity den Namen gegeben. Wie alle sowjetischen Industriegiganten war Apatit durch den Untergang der UdSSR und ihres Wirtschaftssystems in eine schwere Produktions- und Absatzkrise geraten. Zwar war es durch Umwandlung in eine Aktiengesellschaft formal privatisiert worden, aber die Aktien befanden sich überwiegend in Staatsbesitz. Sie wurden vom Vermögensfonds des Gebiets Murmansk (Fond imuščestva Murmanskoj oblasti) verwaltet. De facto stand das Unternehmen zu jener Zeit vor dem Bankrott, als sich der Vermögensfonds 1994 dazu entschloß, im Paket 20 Prozent der Apatit-Aktien im Wege der öffentlichen Ausschreibung (konkurs) zu veräußern. Zu der hohen Überschuldung des Unternehmens hatten Absatzschwierigkeiten, Streiks, hohe Lohnrückstände, Steuerschulden und überfällige Forderungen wegen unbezahlter Strom- und Energielieferungen beigetragen. Apatit drohte buchstäblich, abgeschaltet zu werden. Wegen ausbleibender Löhne befand sich die Stadt Apatity am Rande des Zusammenbruchs. Unstreitig bedurfte Apatit einer grundlegenden technologischen und betriebswirtschaftlichen Erneuerung, also erheblicher Investitionen. Entsprechende Pläne waren noch zu Sowjetzeiten ausgearbeitet worden, aber ein Investor hatte sich nicht gefunden. Infolge der immens hohen Verschuldung des Unternehmens, der Überalterung des Kapitalstocks und seiner akuten Existenzgefährdung konnte von einem „Marktwert“ der Apatit-Aktien zu jener Zeit ernsthaft nicht gesprochen werden; er war nicht bestimmbar. So konnte man das Aktienpaket in der öffentlichen Ausschreibung lediglich zum Nennwert anbieten: für 415 800 000 Millionen (unabgewertete) Rubel, d.h. für etwa 225 000 USD. Der Murmansker Vermögensfonds fügte jedoch eine Bedingung hinzu: Den Zuschlag in der Auktion sollte nur ein Unternehmen erhalten, das bereit war, einen Investitionsvertrag abzuschließen. Eine solche Bedingung war für die Privatisierungspolitik des Staates damals zwar typisch und üblich, sie barg aber das – freilich allseits bekannte – Risiko, daß der Investor nach dem Aktienerwerb absprang oder an Investitionen nicht wirklich interessiert war. Der Apatit-Investitionsvertrag sah die folgenden Hauptverpflichtungen vor: – die Zahlung von 59 Milliarden (unabgewertete) Rubel für die Stabilisierung der Finanzlage des Unternehmens; – die Zahlung von 46,7 Milliarden Rubel zur Entwicklung der sozialen Basis des Unternehmens, – die Zahlung von 457 Milliarden Rubel für die technische Erneuerung von Apatit. Die insgesamt 563 Milliarden Rubel (d. h. 280 Millionen US Dollar) waren innerhalb eines Jahres zu zahlen. Außerdem enthielt der Vertrag die Verpflichtung, innerhalb eines Monats nach Erwerb der Aktien und Abschluß des Investitionsvertrages pauschal 30 Prozent der Gesamtsumme des Investitionsvolumens an Apatit zu zahlen. Die Vertragsbestimmungen legen die Vermutung nahe, daß beim Murmansker Vermögensfonds das Interesse dominierte, Geld zu beschaffen, das Investitionsinteresse hingegen nachrangig war. Die weitere Entwicklung sollte das bestätigen. Die Vertragsbestimmungen über die einzelnen Zahlungsverpflichtungen standen in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu den Klauseln des Vertrages, welche die Bestimmung, die Planung, den Umfang und die konkrete Durchführung der Investitionsmaßnahmen betrafen. Denn der Investor übernahm die Verpflichtung, die Investitionen nicht nur, was selbstverständlich war, mit der Apatit-AG, sondern auch im Einvernehmen mit dem Murmansker Vermögensfonds zu tätigen. Da nun der Vertrag die Investitionsziele nur ganz allgemein bestimmte („technische Umrüstung des Rohstoffabbaus; Effektivitätssteigerung bei der Produktion; Energiekostensenkung“), erhöhte sich zwangsläufig der Kooperations- und Abstimmungsbedarf. Unter diesen Umständen war es offensichtlich unseriös, daß die Gesamtinvestitionssumme von 280 Millionen US Dollar innerhalb nur eines Jahres zu leisten war. Es mußte allen Beteiligten klar sein, daß das Unternehmen in seinem derzeitigen maroden Zustand schon rein technisch, aber auch organisatorisch nicht in der Lage gewesen wäre, in so kurzer Frist eine so bedeutende Investitionssumme zu absorbieren, und zwar selbst dann nicht, wenn der Vertrag auf die Mitwirkung des Vermögensfonds verzichtet und dem Investor freie Hand gelassen hätte. Das aber war eben nicht der Fall. Dem Murmansker Vermögensfonds schien vordringlich an dem raschen Zufluß von „frischem Geld“ gelegen gewesen zu sein, ohne ernste Rücksicht darauf, daß bzw. wie es am zweckmäßigsten eingesetzt werden konnte. Der Verdacht mußte durch die besagte Verpflichtung des Investors bestärkt werden, innerhalb eines Monats nach dem Erwerb der Apatit-Aktien und dem Abschluß des Investitionsvertrages, d.h. bis zum 1.9.1994, 30 Prozent der Gesamtsumme des Investitionsvolumens an den Vermögensfonds, also ca. 90 Millionen US Dollar zu zahlen. Da ihre Verwendung nicht an einen bestimmten Zweck gebunden war, bestand die keineswegs von der Hand zu weisende erhebliche Gefahr, daß das Geld „in dunklen Kanälen“ verschwinden würde. Im günstigsten Falle wäre es vielleicht dazu verwendet worden, die drängendsten Schulden der Apatit-AG zu begleichen und die sozialen Verhältnisse der Belegschaft bzw. der Einwohner der Stadt Apatity zu stabilisieren. Den Wettbewerb gewann die Aktiengesellschaft Geschlossenen Typs (ZAO) Vol’na. Sie war von der Džoj-AG gegründet worden, die ihrerseits auf Initiative einer in den Niederlanden registrierten Firma entstanden war. Alle diese Firmen waren letztlich irgendwie mit dem Konglomerat der Menatep-Bank verbunden. Personell zeigte sich das darin, daß der Generaldirektor der Vol’na-AG, Andrej Krajnov, dritter Angeklagter im Chodorkovskij-Lebedev-Prozeß, zuvor Mitarbeiter der MFO-Menatep (Meždunarodnoe finansovoe ob’’edinenie-Menatep, Internationale Finanzvereinigung- Menatep), einer Geschlossenen Aktiengesellschaft und Tochter der Menatep-Bank, gewesen war. Vol’na erwarb das Aktienpaket zum genannten Preis. Mit der Zahlung an den Vermögensfonds hatte sie ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staat zunächst erfüllt. Wegen der Erfüllung des Investitionsvertrages zugunsten der Apatit-AG kam es aber alsbald zum Streit. Kurze Zeit nach dem Aktienerwerb legte Vol’na dem Vermögensfonds einen ausführlichen Investitions- und Entwicklungsplan vor; Anstalten, die 30 Prozent der Investitionssumme zu zahlen, ließ die Gesellschaft aber nicht erkennen. Nach vergeblicher Mahnung des Vermögensfonds klagte der Staatsanwalt des Gebiets Murmansk beim regionalen Wirtschaftsgericht gegen Vol’na auf Aufhebung und Rückabwicklung des Aktienkaufvertrages. Eigenartig war, daß nicht Klage gegen die Bank Menatep erhoben wurde. Diese hatte sich nämlich durch eine von der Vol’na-AG im Wettbewerb vorgelegte und von Platon Lebedev als Präsident der Menatep-Bank ausgestellte Erklärung (garantijnoe pis’mo) förmlich für die Erfüllung der von Vol’na mit dem Investitionsvertrag übernommenen Verpflichtungen verbürgt. Das zuständigkeitshalber danach mit der Sache befaßte Moskauer Wirtschaftsgericht wies im August 1995 die Klage ab, nachdem Vol’na im Prozeß Belege über Zahlungen von ca. 280 Milliarden Rubeln an Konten der Apatit-AG hatte vorlegen können. Danach verkaufte die Vol’na-AG ihr Apatit-Aktienpaket an mehrere, ebenfalls zum Menatep-Konglomerat gehörende Firmen, denen es durch Akquisitionen auf dem sekundären Markt gelang, ein Kontrollpaket bei Apatit zu erlangen. Auf dieser Grundlage und mit dem Einsatz von beträchtlichen Investitionen gingen sie mit Erfolg an die Erneuerung des Unternehmens: Die Jahresproduktion der Apatit-AG stieg bis 1998 mit 8,2 Millionen Tonnen fast auf das Doppelte, der Absatz wurde durch ein Netz von teils über Rußland verstreuten, teils im Ausland tätigen Firmen wirksam reorganisiert. Die Schulden der Apatit-AG wurden beglichen. Gesteuert wurde die Entwicklung von der Menatep-Bank. Die Veräußerung der Apatit-Aktien war der Hauptgrund, weswegen das in der Moskauer Berufungsinstanz von der Staatsanwaltschaft am 12.2.1998 gegen Vol’na erstrittene Urteil ins Leere ging: Es ließ sich gegen die Firma nicht vollstrecken, da sie nicht mehr Eigentümerin der Apatit-Aktien war. So kam nach einigem Hin und Her schließlich am 19.11.2002 ein Vergleich zwischen der Firma Vol’na und dem Murmansker Vermögensfonds zustande. Er wurde entsprechend der Wirtschaftsgerichtsprozeßordnung vom Moskauer Wirtschaftsappellationsgericht förmlich bestätigt: Vol’na zahlte 478 914 197 Rubel, d. h. ca. 15,13 Millionen US Dollar, an den Vermögensfonds, und die Apatit-Aktien blieben bei ihren neuen Eigentümern. Die Generalstaatsanwaltschaft sah in diesen Vorgängen kriminelles Verhalten, und zwar erstens Betrug in einem schweren Fall, weil er von einer „organisierten Gruppe“ und „in großem Umfang“ begangen worden sei (Art. 159 Abs. 3 StGB RF), und zweitens die böswillige gemeinschaftliche Vereitelung der Vollstreckung eines Zivilurteils durch Täuschung staatlicher Amtspersonen (Art. 315 StGB). Dieser Auffassung schloß sich auch das Gericht an. Staatsanwaltschaft und, soweit es die Vollstreckungsvereitelung betrifft, auch das Gericht argumentieren: Lebedev als Vorstandsvorsitzender („Präsident“) der Menatep-Bank und Chodorkovskij als Vorsitzender ihres Aufsichtsrates („Direktorenrates“) hätten zusammen mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bank und ihrer diversen Tochtergesellschaften sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen und ihre Macht über Menatep systematisch dafür eingesetzt, sich durch böswillige Täuschung unrechtmäßig in den Besitz der Apatit-Aktien gebracht und sich dadurch auf Kosten des Staates in großem Stil bereichert. Die an dem Wettbewerb um die Apatit-Aktien beteiligten Gesellschaften – sie waren entsprechend dem geltenden Gesellschaftsrecht gegründet und von den zuständigen Behörden registriert worden – seien „Scheinfirmen“ und damit illegal gewesen; die von ihnen ausgestellten Dokumente seien Fälschungen, bestimmt zur Täuschung im Rechtsverkehr, und die Anträge bei staatlichen Organen seien Täuschung und Irreführung gewesen, um die gewünschten finanziellen Transaktionen herbeizuführen. So hätten sich de facto die Angeklagten in den Besitz der Apatit-Aktien versetzt. Der Apatit-Fall wirft viele Fragen auf, die weder die Anklage noch das Urteil beantworten: Wie läßt es sich z. B. erklären, daß einerseits behauptet wird, Lebedev habe die Apatit-Aktien billig an sich bringen, aber niemals die Investitionsverpflichtungen erfüllen wollen, während andererseits korrekt festgestellt wird, er habe die Erfüllung jener Verpflichtung durch die Firma Vol’na mit einer Bürgschaftsverpflichtung zu ihren Gunsten abgesichert? Und: Ist es zulässig, daß Staatsanwaltschaft und Gericht den Wert des Apatit-Aktienpakets zum Zeitpunkt seiner Veräußerung (1994) nicht nur nach dessen Nominalwert berechnen, sondern ohne weiteres den wirtschaftlichen Wert der von der Firma Vol’na eingegangenen, aber noch gar nicht realisierten, geschweige denn zur Wirkung gekommenen Investitionsverpflichtungen hinzu addieren? Oder: Zeugt es von der Bereitschaft, den strafrechtlich relevanten Sachverhalt umfassend zu würdigen, wenn die katastrophale finanzielle und wirtschaftliche Lage der Apatit-AG, der Belegschaft und der Region mit keinem Wort erwähnt, sondern im Gegenteil der Eindruck erweckt wird, es habe sich um ein für Investoren hochattraktives Unternehmen gehandelt? Und können Staatsanwaltschaft und Gericht mit der Einschätzung überzeugen, das Wirtschaftsberufungsgericht habe den Vergleich zwischen der Firma Vol’na und dem Murmansker Vermögensfonds genehmigt, weil es über den in Wahrheit viel höheren Wert der Aktien „böswillig“ getäuscht worden sei? War nicht an dem Vergleich gerade die Prozeßpartei beteiligt, welche an einer höheren Aktienbewertung das stärkste Interesse hatte, eben der Vermögensfonds? Wäre es nicht seine Sache gewesen, einen eigenen Wertvorschlag in die Vergleichsverhandlungen einzubringen, wenn er mit der Schätzung nicht einverstanden war? Hätte das Gericht nicht darauf hinwirken können, ja müssen? Mußten denn Wirtschaftsgericht und Vermögensfonds die von der Firma Vol’na vorgelegte, von unabhängiger dritter Seite erstellte Wertberechnung akzeptieren? Und: Liegt es nicht gerade im Wesen des Vergleichs, daß beide Seiten nachgeben, aufeinander zugehen und auf Ansprüche verzichten? Ist es schließlich überzeugend, Lebedev und Chodorkovskij die Behinderung bzw. Vereitelung der Vollstreckung des Urteils mit der Begründung vorzuwerfen, daß die Firma Vol’na ihre Apatit-Aktien weiter veräußert habe? Die Veräußerung der Aktien geschah völlig legal, weil die Eigentumsrechte der Firma Vol’na in keiner Weise eingeschränkt waren. Vol’na hatte den Prozeß in erster Instanz gewonnen, und das Wirtschaftsberufungsgericht hatte noch nicht entschieden. Der Ausgang des Verfahrens war daher völlig offen. War aber die Veräußerung der Aktien rechtmäßig, konnte sie nicht dadurch rechtswidrig werden, daß sie möglicherweise von Lebedev und Chodorkovskij veranlaßt wurde, was Staatsanwaltschaft und Gericht im übrigen nur unterstellen, ohne den geringsten Beweis für eine „Veranlassung“ zu liefern. Umgekehrt waren Lebedev und Chodorkovskij keineswegs verpflichtet, dem Aktienverkauf entgegenzutreten, und zwar selbst dann nicht, wenn sie als Menatep-Spitzenmanager die Macht dazu besessen haben sollten. Die hier – ausschnittweise – aufgeworfenen kritischen Fragen finden in Anklageschrift und Urteil keine Antwort. Staatsanwaltschaft und Gericht waren von vornherein felsenfest – vorgeblich oder tatsächlich – von der Schuld Lebedevs, Chodorkovskijs und der weiteren Menatep-Manager überzeugt. Ihre Überzeugung beruht freilich nicht auf Beweisen, sondern auf Vermutungen, Unterstellungen und Behauptungen. „Geschlossene Städte“ – illegale „Steueroasen? Die Argumentationsschwäche und Hilflosigkeit von Staatsanwaltschaft und Gericht im Umgang mit Unternehmern, welche einen scharfen Blick für Möglichkeiten haben, wenig beachtete Rechtsvorschriften für sich auszunutzen, zeigt besonders deutlich die „Steueroptimierung“ durch Nutzung innerer Off-shore-Zonen. Die Rede ist von den zu Sowjetzeiten unter strengen Geheimhaltungsvorschriften lebenden Geschlossenen Territorialen Verwaltungseinheiten (zakrytye administrativno-territorial’nye obrazovanija – ZATO). Sie gehörten zum „Inselreich“, zum Archipelag des NKVD, dann des KGB. Auf keiner Landkarte verzeichnet, waren sie sprichwörtliche weiße Flecken. Landläufig nannte man sie „Geheime Städte“. Sie waren nach dem Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit den geheimen Atomprogrammen unter der Regie Lavrentij Berijas entstanden. Sie beherbergten Forschungseinrichtungen, in denen an militärischen Projekten mit höchster Geheimhaltungsstufe gearbeitet wurde, mit diesen in Verbindung stehende Produktionsstätten, Versuchsgelände usw. Es gab einige Dutzend von ihnen im Lande. Überwiegend lagen sie im Ural und in Sibirien und hatten durchschnittlich ca. 80 000 Einwohner. Ihre Abgeschlossenheit von der zivilen Außenwelt war perfekt: Der Zugang war auf einen streng begrenzten Personenkreis mit höchster Geheimhaltungsstufe beschränkt und einem komplizierten Verfahren unterworfen; Verwaltung und Versorgung unterlagen eigenen Regularien. Die Namen der Geschlossenen Städte bestanden aus einer Ziffer und dem Gebiet, in welchem sie lagen („Tomsk 7“), aber sie waren auf keiner Landkarte zu finden, und selbst ihre Erwähnung in irgendwelchen Publikationen vermochten die Zensurbehörden so gut wie vollständig zu unterbinden. Zu Sowjetzeiten privilegiert und hoch subventioniert, gerieten die Geschlossenen Städte nach dem Untergang der UdSSR, dem Zusammenbruch ihrer Planwirtschaft und wegen der öffentlichen Finanznot des Staates in eine schwere Krise. Ihre Abschottung von der Außenwelt und fehlende Einfügung in das Arbeits- und Wirtschaftsleben der Umgebung erschwerten ihre Lage zusätzlich. Unter dem Druck der Verhältnisse schritt man 1992 zur Reform des gesamten Komplexes: Das Geheimhaltungsregime wurde gelockert, die Geheimen Städte auf eine förmliche gesetzliche Grundlage gestellt. Gleichwohl blieb ihre sozioökonomische Lage prekär. Zwar verpflichtete sich die Föderation zum Ausgleich ihrer Haushalte durch „Subsidien, Subventionen und Dotationen“ (Art. 5 Abs. 1 ZATO-Gesetz), aber die finanziellen Zuflüsse blieben schwach. Zwar waren die Organe der örtlichen Selbstverwaltung seit Dezember 1991 berechtigt, Unternehmen mit Sitz im Gemeindegebiet Steuervergünstigungen einzuräumen, aber die Geheimen Städte machten davon kaum Gebrauch. Da eine Besserung der Verhältnisse nicht in Sicht war, das Problem aber gelöst werden mußte, ermächtigte der Gesetzgeber im März 1998 ausdrücklich die Verwaltung der Geschlossenen Städte, „juristischen Personen, die als Steuerzahler bei den Steuerorganen der Geschlossenen territorialen Verwaltungseinheiten registriert waren, zusätzliche Steuer- und Abgabenvergünstigungen einzuräumen“. Eine Verordnung der Regierung regelte das Verfahren. Die ZATO-Verwaltung durfte die Steuervergünstigungen nur mit Zustimmung des föderalen Finanzministeriums erteilen. Um sie zu erlangen, hatte die ZATO-Verwaltung nicht nur die Antragsunterlagen des an der Steuervergünstigung interessierten Unternehmens und ihre eigene „Stellungnahme über die Zweckmäßigkeit der Privilegierung“, sondern auch eine Reihe weiterer Dokumente beizufügen: eine Bescheinigung der ZATO-Steuerbehörde, die förmliche ZATO-Registrierung des interessierten Unternehmens, eine Berechnung der Geschlossenen Stadt, welche Mehreinnahmen infolge der Vergünstigung zu erwarten seien und schließlich die Verpflichtungserklärung des Unternehmers, „50 Prozent des Steuerersparnisvolumens für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen“ in der Geschlossenen Stadt zu verwenden (Punkt 3). Die Einräumung der Abgabenvergünstigungen war also keineswegs leicht gemacht, sondern an erhebliche Bedingungen geknüpft. Die föderalen Finanz- und Steuerbehörden verfügten nicht nur über eine umfassende Prüfungsbefugnis, sondern besaßen auch ein volles Mitentscheidungsrecht über die Anträge der interessierten Unternehmer. Offensichtlich um die Erlangung von ZATO-Steuervergünstigungen zu erschweren, wurde schon 1999 Art. 5 des ZATO-Gesetzes erneut geändert. Die Vergünstigungen gewährte man nur noch solchen Unternehmen, die 90 Prozent ihrer Grundmittel in der Geschlossenen Stadt plazierten, 70 Prozent ihrer Aktivitäten dort entfalteten und deren Belegschaft zu 70 Prozent ihren ständigen Wohnsitz in der Geschlossenen Stadt hatte. Dies ist die Rechtslage, von der ZATO-Investoren, auch Jukos, auszugehen hatten. Im Dezember 1997 hatte Jukos eine Reihe von Tochterfirmen für den Vertrieb (Absatz) von Öl und Ölerzeugnissen in der Rechtsform der GmbH (Obščestvo s ograničennoj otvetstvennost’ju, OOO) gegründet. Es handelte sich um die OOOs Biznes-Ojl; Mitra; Val’d-Ojl; Forest-Ojl; TK Al’chanaj; Perspektiva-Optimum; Invest-Proekt. Einige von ihnen ließen sich in der Geschlossenen Stadt Lesnoj im Gebiet Sverdlovsk registrieren. Die Jukos-Töchter wurden 1998 als steuer- und abgabenbegünstigte Unternehmen von der Lesnoj-Verwaltung anerkannt. Später erfüllten sie sogar die verschärften Anerkennungsvoraussetzungen von 1999. Das wurde namentlich Biznes-Ojl durch Bescheid vom 7.3.2000 aufgrund einer am 16.12.1999 bei ihr durchgeführten Betriebskontrolle ausdrücklich auch für die Zeit nach der Gesetzesverschärfung (April 1999) bestätigt. In der Anklageschrift wird der gesamte Komplex so dargestellt: Im Ergebnis der unter Führung Lebedevs und Chodorkovskijs von den Mitgliedern der organisierten Gruppe vorgenommenen Handlungen wurde 1999 durch die Verwaltung der Stadt Lesnoj unter Verletzung von Art. 5 des Gesetzes der RF „Über die Geschlossene Territoriale Verwaltungseinheit“ vom 14.7.1992 Nr. 3297-1 die OOO Biznes-Ojl, welche auf dem ZATO-Territorium der Stadt Lesnoj faktisch keine Tätigkeit entfaltete, rechtswidrig [nepravomerno] in der ZATO-Stadt Lesnoj mit dem Recht auf begünstigte Steuerveranlagung als Steuerzahlerin registriert. Danach reichten die Beteiligten der organisierten Gruppe unter Führung von Lebedev und Chodorkovskij durch A. V. Spiričev im Namen der Biznes-Ojl GmbH bei der Inspektion des Ministeriums für Steuern und Abgaben Rußlands für die Stadt Lesnoj, Čapaev-Str. 2, Steuererklärungen für 1999 mit darin enthaltenen bewußt falschen Angaben über das Vorliegen von Steuervergünstigungen zu den folgenden Steuerarten ein: Mehrwertsteuer, Wohnungsfondssteuer, Straßenbenutzungssteuer, Steuer auf die Realisierung von VSM, Gewinnsteuer. Infolge der besagten Handlungen wurden an die Haushalte verschiedener Ebenen 1.217.622.799 Rubel weniger an Steuern gezahlt, was ebenfalls Steuerhinterziehung bedeutet. Der Vorwurf der Steuerhinterziehung steht und fällt mit der Antwort auf die Frage, ob die Steuer- und Abgabenvergünstigungen rechtmäßig gewährt wurden und, wenn ihre Gewährung rechtswidrig war, ob die Vergünstigung durch Täuschung der Behörden von den betreffenden Firmen erschlichen wurde. Antworten auf die Fragen sucht man in Anklageschrift und Urteil vergeblich. Die Rechtswidrigkeit der Gewährung von Steuervergünstigungen an die Jukos-Töchter wird lediglich behauptet. Selbst der Ansatz zu einer Begründung fehlt. Dazu paßt, daß die Haushaltsgesetzgebung gar nicht erwähnt und die mehrfache Novellierung des Art. 5 ZATO-Gesetz im dunkeln gelassen wird. Die Regierungsverordnung von 1998 wird ebensowenig berücksichtigt wie das komplizierte Verfahren, aufgrund dessen die Steuervergünstigungen eingeräumt werden. Daß an diesem Verfahren die föderalen Finanzorgane maßgebend beteiligt waren (und sind), allen voran das Finanzministerium Rußlands, fällt völlig unter den Tisch. So fehlt der Behauptung, die Einräumung der Steuervergünstigungen sei rechtswidrig gewesen, die finanz- und wirtschaftsrechtliche Begründung. Staatsanwaltschaft und Gericht erwecken absichtlich oder unabsichtlich den Eindruck, die örtlichen Verwaltungs- und die zentralen Finanzorgane seien inkompetente, beliebig manipulierbare Behörden. Auch das betrügerische Vorgehen der Menatep-Jukos-Manager im ZATO-Komplex wird nur unterstellt. Es findet sich nicht einmal eine schlichte Darlegung jener Aktionen, welche den Vorwurf der Täuschung und des Betruges tragen könnten. Anklageschrift und Urteil beschränken sich darauf, die Bildung der Tochtergesellschaften nachzuzeichnen. Wie schon im Falle von Apatit werden sie als Scheinfirmen qualifiziert. Diese Behauptung wiederum scheint man für eine hinreichende Begründung des Vorwurfs zu halten, die von den Jukos-Töchtern entfalteten Tätigkeiten seien per se illegal gewesen. Überlegungen, daß die ZATO-Gesetzgebung, der Sache nach, tatsächlich Off-shore-Zonen besonderer Art in Rußland ermöglichte, daß ihre Nutzung aus Gründen der Steuerersparnis gerade ihrem gesetzgeberischem Zweck entsprach, weil eben darin der Anreiz für Unternehmen bestand, in die „Geschlossenen Städte“ zu gehen, und daß daher schließlich die Strategie der „Steueroptimierung“ durch die Tochterfirmen legal gewesen sein könnte, werden nicht einmal angedeutet. Andererseits werden Hinweise auf diese Umstände dadurch unterdrückt, daß die Rechtslage von Investitionen im ZATO-Bereich nicht einmal fragmentarisch dargestellt wird. Die Angeklagten sind ferner wegen Steuerhinterziehung gemäß Art. 198 StGB verurteilt worden, weil sie angeblich ihre Steuerverpflichtungen in der ZATO-Sache nicht ordnungsgemäß durch Zahlung von Geld erfüllt, sondern statt dessen „einfache Wechsel“ hingegeben hätten. Art. 45 Abs. 2 des Steuergesetzbuches lasse es nicht zu, die Steuerpflicht in solcher Form zu erfüllen. In der Tat haben die betreffenden Tochterfirmen von Jukos bis zum Ablauf des Steuerjahres 1999 ihre Steuern mit Wechseln bezahlt. Das war jedoch nicht rechtswidrig. Bis zum Inkrafttreten des Ersten Teils des Steuergesetzbuches (1.1.1999) durfte die Steuerpflicht auch naturaliter, durch Geldsurrogate, erfüllt werden. Wechsel waren als Zahlungsmittel durchaus anerkannt, ja, gerade sie waren der Verwaltung von Lesnoj höchst willkommen, weil sie der Stadt Zinsen einbrachten, also zusätzlich Einkünfte bescherten. Keiner der Wechsel „platzte“. Alle wurden unverzüglich eingelöst, und allein 1999 flossen dem Stadthaushalt von Lesnoj aus den inkriminierten Firmen über fünf Milliarden Rubel zu. Weder von einer Täuschung der staatlichen Behörden noch von einem Schaden zu Lasten des Staatshaushaltes konnte also die Rede sein. Steuerhinterziehung durch Statuserschleichung? Der letzte hier zu behandelnde Komplex von Anklage und Urteil ist der Vorwurf, Chodorkovskij und Lebedev hätten den „Status eines individuellen Unternehmers ohne Bildung einer juristischen Person“ erschlichen und mißbraucht, um sich widerrechtlich der Veranlagung zur Einkommenssteuer und der Zahlung von Pflichtbeiträgen zur Rentenversicherung zu entziehen (Art. 198 Abs. 2 StGB RF). Was steht dahinter? Die Verfassung Rußlands legt ein weitaus stärkeres Bekenntnis zu Wirtschaftsfreiheit und freiem Unternehmertum ab (vgl. Art. 8; 34–37 Verfassung 1993) als etwa das deutsche Grundgesetz. Entsprechende Akzente setzt auch das Zivilgesetzbuch (ZGB) von 1994, um durch Gesetzgebung unternehmerisches Engagement, private individuelle Initiative in der Wirtschaft zu ermutigen und zu stärken. Art. 25 ZGB räumt ausdrücklich auch Einzelnen das Recht ein, „als individuelle Unternehmer“ (v kačestve individual’nogo predprinimatelja) tätig zu werden, also ohne Zusammenschluß mit anderen zu einer Gesellschaft oder durch Errichtung einer „Ein-Mann-Aktiengesellschaft/AG“. Der Anreiz und Vorteil für den Bürger besteht darin, daß er in der Tat nicht zur Einkommenssteuer veranlagt und zu Rentenbeiträgen herangezogen, sondern in einem stark vereinfachten Verfahren steuerlich veranlagt wird. Der förmlich anerkannte individuelle Unternehmer erwirbt bei der zuständigen Inspektion des Ministeriums für Steuern und Abgaben ein auf ihn ausgestelltes, für ein Jahr geltendes „Patent“ und zahlt dafür einen Pauschalbetrag, der jährlich neu je nach dem Inhalt der Unternehmertätigkeit von der Behörde nach bestimmten Sätzen festgelegt wird. Seine Buchführungspflichten sind stark vereinfacht. 1997 beantragte ein halbes Dutzend Spitzenmanager von Menatep und Jukos, unter ihnen Chodorkovskij, Lebedev, Leonid Nevzlin, Michail Brudno und Vasilij Šachnovskij, ihre Anerkennung jeweils als individueller Unternehmer. Als Gegenstand ihrer unternehmerischen Tätigkeit gaben sie durchweg „Informations- und Beratungsdienste“ im Finanzwesen und in der Wirtschaft Rußlands an. Das Anerkennungsverfahren („Registrierung“) ist ausgesprochen liberal-rechtsstaatlich, unbürokratisch ausgestaltet und nicht – wie üblich – als Regierungsverordnung, sondern mit der Autorität eines Präsidentendekretes erlassen. Die Registrierung erfolgt, wenn ein formgerechter Antrag gestellt und eine Bescheinigung über die Zahlung der Registriergebühr beigefügt worden ist. Bei persönlichem Erscheinen des Bürgers geschieht das sofort, bei der Antragstellung per Post innerhalb von drei Tagen. Die Anerkennung wird unbefristet ausgesprochen. Das für die postsowjetische Praxis nachgerade typische Verhalten der Behörden, zur Erpressung von Schmiergeldern irgendwelche zusätzlichen Bescheinigungen beibringen oder irgendwelche Handlungen vornehmen zu lassen, untersagt das Dekret ausdrücklich (Punkt 8). Angaben über Art und Inhalt der unternehmerischen Tätigkeit verlange das Dekret nicht. Die Behörde darf die Registrierung nur versagen, wenn die vorgelegten Dokumente aus formalen Gründen nicht den dekretierten Vorgaben entsprechen. Der Bürger kann die Versagung seiner Anerkennung als individueller Unternehmer gerichtlich anfechten. Stellt die Behörde innerhalb eines Monats nach der Registrierung fest, daß die in den Antragsunterlagen gemachten Angaben fehlerhaft sind, hat der Unternehmer innerhalb einer Woche nach der Rüge ordnungsgemäße Unterlagen einzureichen. Im übrigen räumt das Dekret „jeder beliebigen interessierten Person“, also auch etwa den Steuerbehörden, das Recht ein, innerhalb von sechs Monaten die Anerkennung gerichtlich anzufechten. Das ist die Rechtslage. 1998 schlossen namentlich Chodorkovskij und Lebedev mit der Firma Status Services Ltd. mit Sitz auf der Insel Man/Großbritannien Verträge über Beratungsleistungen zu Fragen der Finanz- und Wirtschaftsentwicklung Rußlands und seiner entsprechenden Gesetzgebung ab. Lebedev erhielt als Beratungshonorar am 30.9.1998 4 819 350 Rubel (300 000 US Dollar), am 13.7.1999 2 440 000 Rubel (100 000 US Dollar), am 16.12.1999 5 360 000 Rubel (200 000 US Dollar), am 27.6.2000 7 735 750 Rubel (375 000 US Dollar). Anklage und Urteil haben den Vorgang als Steuerhinterziehung in großem Umfang bewertet. Die Angeklagten hätten mit Status Services Ltd. Scheinverträge abgeschlossen. Tatsächlich hätten sie gar keine Beratungsdienste geleistet. Solche seien von vornherein auch gar nicht beabsichtigt gewesen; vielmehr seien die angeblichen Honorare jene Einkünfte, welche die Angeklagten aufgrund ihrer Tätigkeit in den offiziellen Funktionen von Jukos bezogen hätten. Die Anerkennung bzw. Registrierung als individueller Unternehmer habe allein dem Zweck gedient, die gewöhnlichen Arbeitseinkünfte der regulären Veranlagung zur Einkommenssteuer zu entziehen und von den fälligen Rentenbeiträgen ausgenommen zu werden. Namentlich Lebedev habe den Staat in den Jahren 1998–2000 um 7 269 276 Rubel geprellt. Die Deutung der Vorgänge durch Staatsanwaltschaft und Gericht hat in der Tat, zumindest auf den ersten Blick, einiges für sich. Allerdings hat die Staatsanwaltschaft keine Beweise dafür vorlegen können, daß die Angeklagten Scheinverträge abgeschlossen und tatsächlich keine Beratungsleistungen erbracht haben. Die für Platon Lebedev zuständige Sachbearbeiterin in der Steuerinspektion Moskaus, M. V. Rodnina, erklärte, daß ihre Behörde keinerlei Möglichkeiten gehabt habe, die Angaben der Antragsteller, also auch jene Lebedevs, auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Für Dienstreisen ins Ausland habe ihre Behörde keinen Etat, lautete Frau Rodninas lakonische Erklärung. So stützen Staatsanwaltschaft und Gericht ihre Behauptungen allein auf Indizien: den Umstand, daß gleichzeitig eine ganze Reihe von Jukos- und Menatep-Spitzenfunktionären solche Beraterverträge abschlossen, daß sie dies übereinstimmend mit Status Services Ltd. taten, daß in einem relativ kurzen Zeitraum Honorare gehäuft und in beträchtlicher Höhe angefallen waren und daß – angeblich – zwischen Menatep bzw. Jukos und diversen, auf der Insel Man ansässigen Firmen und namentlich Status Service Ltd. enge Beziehungen bestanden hätten. Für letzteres konnte die Staatsanwaltschaft allerdings keine schlüssigen Beweise vorlegen. Selbstverständlich waren Lebedev, Chodorkovskij und die anderen „individuellen Unternehmer“ nicht verpflichtet zu beweisen, daß sie Beraterdienste erbracht hatten. Dies war umgekehrt Sache der Anklage. Art. 49 Abs. 2 der föderalen Verfassung stellt diesen klassischen Grundsatz des Strafprozeßrechts unmißverständlich fest: „Der Beschuldigte ist nicht verpflichtet, seine Unschuld zu beweisen.“ Und Art. 14 Abs. 2 der StPO fügt hinzu: „Die Last des Beweises der Beschuldigung und der Widerlegung der zur Verteidigung des Verdächtigten oder Beschuldigten vorgebrachten Schlußfolgerungen, liegt auf seiten der Anklage.“ Im vorliegenden Fall kann sich das Gericht offenkundig nur auf Tatsachen stützen, die Zweifel an der Seriosität der Beraterverträge nähren. Einen Grad von Gewißheit, der jeden vernünftigen Zweifel zum Schweigen bringt, bewirken die herangezogenen Indizien indes nicht. Jedenfalls bleiben Zweifel (auch) an der Version der Staatsanwaltschaft. Damit kommt der klassische strafprozessuale Grundsatz in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten, in den Blick. Auch er genießt in Rußland Verfassungsrang: „Nicht zu beseitigende Zweifel an der Schuld einer Person werden zugunsten des Angeklagten ausgelegt,“ verkündet Art. 49 Abs. 3. Zweifel gelten nach einem der Standardkommentare zur Verfassung dann als nicht zu beseitigen, „wenn die im Prozeß gesammelten Beweise keinen eindeutigen Schluß auf die Schuld oder Unschuld zulassen und alle Mittel zur Gewinnung von Beweisen ausgeschöpft sind“. Ergänzend stellt Art. 14 Abs. 4 StPO klar, ein verurteilendes Strafurteil dürfe „nicht auf Unterstellungen beruhen“ (!). Dazu heißt es erläuternd in dem offiziösen StPO-Kommentar, daß „nur der vollwertige Beweis (liš’ polnocennaja dokazannost’ – Hervorhebung im Original!) der Information über die Schuld dieser oder jener Person bezüglich der Straftat die Vermutung der Unschuld eines Menschen erschüttern könne“. Zutreffend weist der Kommentar auf den inneren Zusammenhang zwischen dem in-dubio-pro-reo-Grundsatz und der gleichfalls mit Verfassungsrang (Art. 49 Abs. 1) ausgestatteten Unschuldsvermutung hin. Hehre Grundsätze, goldene Worte. Das Gericht hat sie ignoriert. Einträchtig mit der Staatsanwaltschaft nimmt es Behauptungen, vage Indizien und vorgefaßte, einseitig gegen die Angeklagten gerichtete Wertungen als „Beweise“. Gewiß kann sich das Gericht auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung berufen (Art. 17 StPO RF). Seine Anwendung setzt jedoch eine tragfähige Beweislage voraus. An ihr fehlt es, und dies ist ganz offensichtlich. Das Meščanskij-Bezirksgericht hat alle Bestimmungen, welche Verfassung und Strafprozeßordnung ausdrücklich zur Gewährleistung eines fairen Strafprozesses normieren und deren Beachtung sie ihm vorschreiben, auch hier auf das Schwerste verletzt. Die Menatep-Jukos-Manager – eine „organisierte Gruppe“ zur Begehung von Straftaten? Die Anklage konnte nur deswegen zu einer so hohen Strafforderung kommen und das Gericht in seinem Urteil ein für Wirtschaftsstrafdelikte so ungewöhnlich hohes Strafmaß verhängen, weil beide Justizorgane sich darin einig waren, daß die angeblichen Straftaten jeweils in strafverschärfender, qualifizierter Form begangen worden waren, nämlich durch eine „organisierte Gruppe“. Dieses Qualifikationsmerkmal erhöht in Verbindung mit dem Vorwurf bzw. dem Nachweis einer großen finanziellen Schädigung des Staates den Strafrahmen des jeweiligen Delikts auf drei oder sogar mehr Jahre. Die Konstruktion der „organisierten Gruppe“ aber war und ist daher der strafrechtliche Ansatz, der entscheidende juristische „Kniff“ der Staatsanwaltschaft, Chodorkovskij, Lebedev und die weiteren ins Visier genommenen Eigner und Spitzenmanager von Menatep und Jukos als Schwerverbrecher zu brandmarken. Natürlich entspricht das ganz dem Bild, das die breite Masse der Bevölkerung von den superreichen Neokapitalisten Rußlands, den „Oligarchen“, hat, und es liegt auf der Hand, daß es den Strafverfolgungsorganen gerade darauf ankam, die wohl bekannte Einstellung in der Bevölkerung für ihre Zwecke zu nutzen. Wenn man sich nicht schon auf die Legalität, auf die Verfassung und das Strafprozeßrecht, auf das Wirtschafts- und das Finanzrecht stützen kann, dann wenigstens auf den Schein der Legitimität, auf das „gesunde Volksempfinden“ sozialer Gerechtigkeit! Nach Art. 35 Abs. 3 StGB RF ist die „organisierte Gruppe“ eine Form der gemeinschaftlichen Begehung von Straftaten. Sie befindet sich etwa in der Mitte zwischen einer „kraft Vereinbarung agierenden Gruppe“ (Art. 35 Abs. 2) und einer „kriminellen Organisation“ (Abs. 4). Davon ausgehend versteht das Oberste Gericht Rußlands unter ihr „eine dauerhafte Gruppe aus zwei oder mehr Personen, die durch den Vorsatz verbunden [sind], eine oder mehrere Straftaten zu begehen“. Sie sei in aller Regel durch ein hohes Maß an Organisiertheit, Planmäßigkeit und die sorgfältige Vorbereitung der Straftat, durch die Verteilung der Rollen zwischen den Teilnehmern gekennzeichnet. Anklageschrift und Urteil sehen diese Kriterien im Falle der Menatep- und Jukos-Manager als erfüllt an. Die „organisierte Gruppe“ sei von Chodorkovskij als Aufsichtsratsvorsitzenden der Menatep-Bank gegründet worden. 1994 sei Lebedev, Präsident jener Bank, dazugestoßen. Ferner hätten dazu gehört Natal’ja V. Černyševa, die Leiterin der Privatisierungsabteilung in der Bank, der im Prozeß mitangeklagte Andrej V. Krajnov, Mitarbeiter der Menatep-Tochter und Geschlossenen Aktiengesellschaft MFO-Menatep, Michail B. Brudno, Stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Geschlossenen Aktiengesellschaft Jukos-PM, die Leiter der Abteilung für Bergbau und Chemie der Geschlossenen AG Rosprom, Andrej G. Gur’ev und Aleksandr V. Gorbačev, sowie, wie es formelhaft in allen Dokumenten heißt, „von der Voruntersuchung nicht festgestellte Personen“. Chodorkovskij sei Chef der Gruppe gewesen, Lebedev habe die bei Menatep tätigen Gruppenmitglieder gesteuert, Krajnov sei für die Gründung von Scheinfirmen und Černyševa für Urkundenfälschungen „zuständig“ gewesen. Als Beweis galten Staatsanwaltschaft und Gericht die in Komsomolzeiten bzw. die Perestrojka zurückreichenden engen persönlichen Beziehungen zwischen Chodorkovskij, Lebedev, Nevzlin und weiteren Spitzenmanagern von Menatep und Jukos. Hier dürfte im wesentlichen die Erklärung dafür liegen, wie wenig Mühe die Staatsanwaltschaft und das Gericht darauf verwendet haben, die Beteiligung namentlich Chodorkovskijs und Lebedevs an der Begehung der behaupteten Straftaten durch konkrete Tatsachen im einzelnen auch nur darzulegen. Statt dessen wurde auf schlüssige Beweise fast durchweg verzichtet. Durchaus typisch ist die folgende Passage aus der Anklageschrift: Zur Begehung von Straftaten wurden unter Führung von Lebedev und Chodorkovskij durch ihnen untergebene Mitarbeiter der Bank Menatep und der MFO Menatep verschiedene juristische Personen gegründet, um sie als Instrument zur Begehung von Betrug und der Verschleierung von Straftaten einzusetzen. Vielleicht glaubten Staatsanwaltschaft und Gericht, der Last konkreter Darlegungen und Beweise deswegen enthoben zu sein, weil die Mitglieder der „organisierten Gruppe“ sich ihre Taten wechselseitig zurechnen lassen müssen (vgl. Art. 35 Abs. 5 StGB). So interpretiert, scheint die persönliche Zuordnung von Tatbeiträgen entbehrlich zu sein, es überhaupt auf Einzelheiten nicht besonders anzukommen. Gerade im vorliegenden Fall kann eine solche Position aber nicht überzeugen. Denn der Umstand, daß die Menatep- bzw. Jukos-Spitzenmanager Chodorkovskij, Lebedev und andere „organisiert“ handelten und in verschiedener Weise zusammenwirkten, belegt noch nicht, daß sie eine „organisierte Gruppe“ im Sinne des Strafrechts waren. Sie waren schließlich ausnahmslos Manager bei Menatep, Jukos und sonstigen mit diesen verbundenen Gesellschaften und handelten in Ausübung ihrer Aufgaben und Positionen selbstverständlich – „organisiert“. Nicht ihnen persönlich als Mitgliedern einer imaginären „Gruppe“ war ihr Handeln in aller Regel zuzurechnen, sondern denjenigen Unternehmen und Firmen, in deren Namen sie auftraten, für welche sie Erklärungen abgaben, Anträge stellten, Dokumente verfaßten, über deren Konten Zahlungen liefen und sonstige Transaktionen erfolgten. Die „organisatorischen“, „dauerhaften“, „planmäßigen“ Beziehungen zwischen Chodorkovskij, Lebedev und anderen angeblichen Gruppenmitgliedern lassen sich ganz zwanglos mit ihren unternehmerischen Funktionen, ihren dienstlichen Aufgaben in ihren Firmen erklären. Wieso sollten sie eine gegenüber Menatep, Jukos und anderen Firmen verselbständigte, durch Sonderinteressen und eine spezifische Loyalität zusammengehaltene spezielle, eben „organisierte“ Gruppe gewesen sein? Staatsanwaltschaft und Gericht haben sich diese Frage nicht gestellt und sich mit dem Problem nicht auseinandergesetzt. Dies wäre aber unerläßlich gewesen, weil die Erfüllung gewöhnlicher Managementfunktionen und dienstlicher Obliegenheiten im Firmenverbund prima vista keine kriminelle Tätigkeit darstellt und darstellen kann. So drängt sich die Vermutung auf: Staatsanwaltschaft und Gericht haben sich nicht nur zur Rechtfertigung des erhöhten Strafmaßes, sondern auch deswegen für diese Konstruktion entschieden, weil sie ihnen einen – scheinbar – bequemen Ausweg aus ihren Beweisnöten lieferte. Aber es gibt wohl noch tieferliegende Gründe dafür, weswegen Staatsanwaltschaft und Gericht sichtlich dazu neigen, wirtschaftliche und rechtliche Vorgänge aus dem Blickwinkel des Strafrechts wahrzunehmen: ihr Unverständnis für kapitalistische Unternehmer, die, mit beträchtlicher Phantasie ausgestattet, in einem schwierigen, unübersichtlichen Umfeld teils fehlender, teils noch wenig erprobter Regeln agieren, um möglichst hohe Gewinne für ihr Unternehmen zu erwirtschaften und ein Minimum an Steuern zu zahlen. So wird die in einer Marktwirtschaft übliche, jedenfalls aber verbreitete Nutzung und Ausnutzung des zivilrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen, des wirtschafts-, finanz- und prozeßrechtlichen Instrumentariums von Ermittlungsbeamten, Untersuchungsführern, von Staatsanwaltschaft und Richtern mit Argwohn, Unverständnis und einem tief sitzenden stereotypen Antikapitalismus wahrgenommen. Und noch etwas anderes dürfte hinzukommen: die Sozialisation ganzer Generationen von Juristen. Wie in der Sowjetunion dominiert in der Juristenausbildung in Rußland noch immer das Strafrecht, bei relativer Vernachlässigung des Zivil- und Wirtschaftsrechts. Das hat verhängnisvolle Folgen für die juristische und rechtspolitische Orientierung im politischen, sozialen und ökonomischen Transformationsprozeß. So nimmt es nicht wunder, daß gewöhnliche zivil- und wirtschaftsrechtliche Vorgänge über den Leisten des Strafrechts geschlagen werden und als „Abgründe“ bösartiger krimineller Machenschaften erscheinen: völlig legal, unter Beachtung der Vorschriften des Gesellschaftsrechts gegründete und staatlich anerkannte („registrierte“) Tochterunternehmen sind „Scheinfirmen“, von ihnen ausgestellte Dokumente „Fälschungen“, bestimmt zur Täuschung im Rechtsverkehr; ökonomisch motivierte Anträge bei staatlichen Organen zur Gewährung gesetzlich vorgesehener Leistungen, Vergünstigungen oder Privilegierungen sind Täuschungshandlungen und dienen der Irreführung. So zeigt die Analyse der gegen Chodorkovskij und Lebedev erhobenen Strafvorwürfe mitsamt ihren Begründungen ein durchgehendes Muster: Aus Voreingenommenheit gegenüber den Angeklagten werden ihre geschäftlichen Tätigkeiten, Entscheidungen und Transaktionen ohne hinreichende zivil-, wirtschafts- und finanzrechtliche Prüfung, also unbegründet, für rechtswidrig erklärt und den Angeklagten kriminelle Absichten unterstellt. Davon ausgehend werden die Tatsachen einseitig zu Lasten der Angeklagten ausgewählt und ausnahmslos zu ihrem Nachteil interpretiert. Die von der Verteidigung zur Widerlegung der Anklage vorgebrachten Argumente werden ebenso ignoriert wie die angebotenen Entlastungsbeweise. Unbeachtet ließ das Meščanskij-Bezirksgericht in Moskau selbst solche Beweise (Dokumente; Zeugenaussagen usw.), die zwar auf Initiative der Staatsanwaltschaft erhoben worden waren, aber dazu geeignet waren, die Angeklagten zu entlasten oder sie gar tatsächlich entlasteten. Durch seine einseitige Prozeßführung hat es die Verteidiger de facto in die unwürdige Rolle von Statisten versetzt. Indem das Gericht während der Hauptverhandlung einseitig den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgte, hat es systematisch und gröblich beinahe sämtliche strafprozessualen Grundrechte der Angeklagten sowie die (auch) in ihrem Interesse normierten rechtsstaatlichen Prozeßprinzipien verletzt: das Recht auf wirksame Verteidigung (Art. 48 Föderalverfassung; Art. 16 StPO); die Gleichstellung und Waffengleichheit von Angeklagten und Verteidigung (Art. 123 Abs. 3 Föderalverfassung; Art. 15 StPO); die zugunsten der Angeklagten streitende Unschuldsvermutung und den mit ihr verbundenen Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ (Art. 49 Föderalverfassung; Art. 14 StPO); das Verbot der Verfolgung Unschuldiger (Art. 6 Abs. 2 StPO); die Bindung des Gerichts an Verfassung und Gesetz (Art. 7 StPO) und seine Verpflichtung zur unparteilichen und fairen Prozeßführung (Art. 15 StPO). Die Generalstaatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren – Willkür in Aktion Die während des Prozesses und durch das Urteil zugelassenen Rechtsverletzungen kamen in ihrem Ausmaß und in ihrer Intensität einer Provokation gleich, und doch konnten sie nach jenen Erfahrungen nicht mehr sonderlich überraschen, welche die Angeklagten mit der Staatsanwaltschaft und dem Haftgericht, dem berüchtigten „Basmannyj sud“ Moskaus, im Ermittlungsverfahren gemacht hatten. Taktisches Agieren mit strategischem Ziel Das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden gegen die Menatep-Jukos-Manager folgte von Anfang an einem bestimmten Muster: Man zog alle Register. Mit der vollen Wucht der den Strafverfolgungsbehörden verliehenen Machtbefugnisse ging man gegen Lebedev, Chodorkovskij und die anderen vor. Dem widerspricht nicht, daß, als im Sommer 2003 die Aktionen gegen Jukos anliefen, die Strafverfolgungsorgane sich eher vorsichtig vortasteten, bisweilen unentschlossen, ob sie ins Visier genommene Personen zunächst nur vorladen und als Zeuge vernehmen oder aber gleich festnehmen und als Beschuldigte inhaftieren sollten oder ob man ihnen Zeit lassen und Gelegenheit geben sollte, sich dem Zugriff der Organe durch Flucht ins Ausland zu entziehen, wie es der „Oligarch“ Boris Berezovskij vorgemacht hatte. Die mögliche Alternative, frontal und „auf einen Schlag“ gegen Jukos, seine Hauptanteilseigner und Spitzenmanager vorzugehen, erschien der Präsidialexekutive aus übergeordneten politischen Gesichtspunkten indes wohl wenig ratsam. Rußlands fortgeschrittene Integration in die Weltwirtschaft, seine Stellung in der internationalen Politik, aber auch Jukos’ Aufstieg zu einem Wirtschaftsunternehmen globaler Bedeutung und gewiß auch die hohe Bekanntheit Chodorkovskijs in den Geschäftswelten der USA und Europas mahnten zu Vorsicht. So entschied man sich dafür, schrittweise vorzugehen. Das „gestreckte Verfahren“ hatte den großen psychologischen Vorteil, die Öffentlichkeit in Rußland und „im Westen“ langsam an das Vorgehen gegen Jukos und seine Manager zu gewöhnen, Härte und Ausmaß der Reaktionen aus Wirtschaft und Politik aufmerksam zu beobachten, eventuelle taktische Rückzieher zu machen, die Bedeutung der einzelnen, zeitlich auseinandergezogenen Vorgänge herunterzuspielen und immer wieder die vage Hoffnung in einflußreichen politischen Kreisen darauf zu nähren, es werde oder könne doch noch zu einer einvernehmlichen, „politischen“ Lösung des Falles, zu einem „glimpflichen Ende“, kommen, kurz: die im weitesten Sinne politischen Ziele der Jukos-Attacke zu erreichen, ohne dem Ansehen Rußlands in der Welt unverhältnismäßig großen Schaden zuzufügen. Obwohl von internen Auseinandersetzungen, Flügelkämpfen und Entscheidungsprozessen in Rußlands Führung heute ungleich weniger an die Öffentlichkeit dringt als in der El’cin-Ära, ist im Jukos-Komplex leicht erkennbar, daß zwei „Denkschulen“ sich gegenüberstehen. Auf der einen Seite sind es die Anhänger eines konsequenten, liberalen Kurses der entschlossenen Integration Rußlands in die Weltwirtschaft. Diese finden sich vor allem in den Wirtschafts- und Finanzressorts der „Regierung“, aber, wenngleich in geringerem Maße, auch in der Präsidialverwaltung. Auf der anderen Seite stehen die primär von machtstaatlichen, geostrategischen und Sicherheitsvorstellungen beherrschten Exponenten aus Geheimdiensten, Militär, Innenministerium und Generalstaatsanwaltschaft, kurz: die sogenannten Siloviki. Daß die Präsidialverwaltung an Chodorkovskij ein Exempel statuieren und zugleich die anderen noch im Lande und auf freiem Fuß befindlichen „Oligarchen“ warnen wollte, hatte der Stellvertretende Generalstaatsanwalt, Vladimir Kolesnikov, in einer Pressekonferenz bereits am 12.11.2003 unverhüllt klar gemacht: Man sagt, Chodorkovskij habe nicht getötet. Ja, er hat nicht getötet. Mit der Keule ging er nicht los. Das ist tatsächlich so. Aber im vorliegenden Fall muß eine andere Logik Platz greifen. Vor allem muß man schauen, unter welchen Bedingungen die Bevölkerungsmehrheit Rußlands lebt, während ein bedeutender Teil Spitzeneinkommen hat. Der Mindestlohn ist 600 Rubel, die Mindestrente 160. Und nun laßt uns diese Milliarden [gemeint sind Dollar – O. L.] in Rubel umrechnen. Dadurch, daß die Rußländer diese zusätzlichen Milliarden nicht bekamen, konnten für einen Monat 49 166 666 Personen keinen vollen Lohn bekommen, und 18 437 500 Personen keine volle Rente. Und drohend fügte Kolesnikov hinzu: Diejenigen, die noch nicht sitzen, sollten darüber nachdenken, womit sie sich letztlich beschäftigen. Obwohl die Ermittlungen zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht abgeschlossen waren, „prognostizierte“ Kolesnikov, daß Chodorkovskij eine Strafe von zehn Jahren zu erwarten habe. Das entsprach exakt dem späteren Antrag der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift gegen Chodorkovskij und Lebedev. Das Szenario stand also fest. Wo das Drehbuch verfaßt worden war, ließ Präsidentenberater Igor’ Šuvalov die Öffentlichkeit in der Schlußphase des Prozesses, im April 2005, in aller Deutlichkeit wissen: Der Staat hatte erkannt, daß man mit dem, was einem gehört, wirtschaftlich umgehen muß. […] Wenn es nicht Jukos gewesen wäre, dann eine andere Gesellschaft, welche sich für die Steuerverbrechen hätte verantworten müssen. Harte Maßnahmen, so Šuvalov, seien erforderlich gewesen, „wie immer sich das auch auf das Image des Staates auswirken wird“. Platon Lebedevs Verhaftung Der Angriff auf den Menatep-Jukos-Komplex begann damit, daß am 19. Juni 2003 Aleksej Pičugin in der Mordsache Gorin als Zeuge vorgeladen, dann aber festgenommen und aufgrund richterlicher Anordnung vom 21.6.2003 inhaftiert wurde. Das Haftgericht war das Basmannyj-Bezirksgericht der Stadt Moskau, dessen Name in Rußland mittlerweile zum Synonym für eine politisch willfährige Justiz geworden ist („Basmannyj sud“). Vorausgegangen waren Versuche des Inlandsgeheimdienstes FSB, den aus den Sicherheitsapparaten hervorgegangenen Pičugin für die „Zusammenarbeit“ in einem Prozeß gegen Jukos-Spitzenmanager und namentlich gegen Leonid Nevzlin zu gewinnen. Pičugin hatte das „Angebot“ abgelehnt. Zwar hatte die Verhaftung Pičugins bereits gewisse Befürchtungen geweckt; richtig aufmerksam darauf, daß Jukos ins Visier des Kreml, der Administration des Präsidenten, der Generalstaatsanwaltschaft und des FSB gekommen war, wurde die Öffentlichkeit aber erst, als der Vorsitzende von MFO Menatep, Platon Lebedev, am 2.7.2003 festgenommen wurde. Am 3.7. folgte seine Verhaftung. Am 4.7. wurden Michail Chodorkovskij und Leonid Nevzlin stundenlang beim Generalstaatsanwalt als Zeugen vernommen. Chodorkovskij hatte zuvor öffentlich erklärt, daß er nicht die Absicht habe, Rußland zu verlassen und zu emigrieren. Das Ereignis wurde in Rußland von Anfang als das wahrgenommen, was sich im weiteren Verlauf der Ereignisse immer klarer herausstellte und allenfalls noch auf „diplomatischer Bühne“ hinter bagatellisierenden Sprachregelungen und Rücksichtnahmen verschleiert blieb: eine vom Kreml in Auftrag gegebene Kampagne der Generalstaatsanwaltschaft mit dem doppelten Ziel, im Wahljahr Michail Chodorkovskij unschädlich zu machen, weil und nachdem er die in Opposition zu Putin stehenden politischen Parteien – Jabloko, Sojuz Pravych Sil (Union der Rechten Kräfte, SPS), sowie die Kommunisten (KPRF) – finanziell unterstützt und seinen Wechsel in die Politik angekündigt hatte, und den Jukos-Konzern wieder unter staatliche, das heißt unter die Kontrolle der Präsidialverwaltung zu bringen. Die Haftentscheidung gegen Lebedev ist höchst anfechtbar. Zwar ist sie von einem Gericht getroffen und im Oktober 2003 im Kassationsverfahren vom Moskauer Stadtgericht überprüft worden („Haftprüfungsverfahren“), aber überzeugen kann sie nicht. Das nachzuweisen ist keineswegs schwierig. Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft sind in Rußlands Strafprozeßordnung zweistufig aufgebaut: Es müssen allgemeine und weitere spezielle Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst muß zumindest eine jener Voraussetzungen vorliegen, welche das Gesetz formuliert, um gegen den Beschuldigten, in besonderen Fällen auch gegen den (nur) Verdächtigten überhaupt mit Zwangsmaßnahmen zur Sicherung des staatlichen Strafanspruches (mery presečenija) vorgehen zu können. Die Verhängung von Haft ist nur eine, freilich die schwerste der sieben von Art. 98 StPO zur Auswahl gestellten Maßnahmen. Als Alternativen könnten u.a. Hausarrest (Art. 107), Kaution (Art. 106), persönliche Bürgschaft (Art. 103) oder eine Erklärung, den Ort nicht zu verlassen (Art. 102), in Betracht kommen. Solche, die Freiheit mehr oder weniger stark einschränkenden Maßnahmen erklärt Art. 97 Abs. 1 StPO nur dann für zulässig, wenn der Beschuldigte sich vor den Ermittlungsorganen bzw. dem Gericht verbirgt oder seine kriminelle Tätigkeit fortsetzt oder wenn es möglich ist, daß er einen Zeugen oder sonstigen Prozeßbeteiligten bedroht, Beweismittel vernichtet oder auf sonstige Weise das Strafverfahren behindert. Als spezielle, zusätzliche Voraussetzungen der Anordnung von Haft verlangt Art. 108, daß erstens die Bestrafung wegen einer Tat droht, die mit mindestens zwei Jahren Freiheitsentzug bedroht ist, und daß es zweitens „unmöglich ist, eine andere, mildere, mit Zwang verbundene Sicherheitsmaßnahme anzuwenden“. Die Entscheidung darüber, welches der Sicherungsmittel gegen den Beschuldigten auszuwählen und anzuwenden ist, soll also offensichtlich von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gesteuert werden. Für die Haft als härteste Zwangsmaßnahme heißt dies, daß sie nur und erst dann angeordnet werden darf, wenn Strafverfolgung und Beweissicherung nicht ebenso wirksam mit einem der vom Gesetz zugelassenen milderen Mittel, also z. B. durch Kaution oder Hausarrest, erreicht werden könnten. Was den vorliegenden Fall anbelangt, hat die Staatsanwaltschaft die Festnahme und nachfolgende Inhaftierung Lebedevs damit gerechtfertigt, daß er versucht habe, sich der Ermittlung zu entziehen, daß die Gefahr auch noch weiter bestehe und daß eine aktive Behinderung der Ermittlung von seiner Seite zu befürchten gewesen sei. Überzeugend hat sie das nicht begründen können, denn Lebedev hatte im Gegenteil keinerlei Anlaß zu solchem Verdacht gegeben. Für die Staatsanwaltschaft mußte das offenkundig sein, denn Lebedev war am 20.6., nach der Verhaftung Pičugins, der Aufforderung zum „Gespräch“ bei den Untersuchungsführern Salavat K. Karimov, Michail A. Bezuglyj und Valerij A. Lachtin im Gebäude des Generalstaatsanwalts gefolgt, obwohl er nicht förmlich als Zeuge vorgeladen worden war – ein klares Signal seiner „Kooperationsbereitschaft“. Am 26.6.2003 wurde Lebedev erneut, vermittelt über seinen Anwalt Anton Drel’, für den 27.6. als Zeugen vorgeladen. Obwohl dies telefonisch bzw. mündlich, d. h. unter Verletzung des gesetzlichen Verfahrens (Art. 188 Abs. 1 und 2 StPO) , und äußerst kurzfristig geschah, erklärte sich Lebedev zum Erscheinen bereit. Noch am 26.6. hob die Staatsanwaltschaft den Termin indes wieder auf, und der Untersuchungsführer Bezuglyj teilte Drel’ mit, daß man weiter keine Fragen an Lebedev habe. Es kam jedoch anders, vielleicht deswegen, weil der für demagogische Ausfälle bekannte Dumaabgeordnete Vladimir Judin, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaftspolitik und Unternehmertum, – bestellt? – förmlich Anzeige beim Generalstaatsanwalt gegen Lebedev (daneben auch gegen den weiteren prominenten „Oligarchen“ Roman Abramovič) wegen der Apatit-Sache erstattet hatte. Am frühen Morgen des 2. Juli begab sich Lebedev wegen Übelkeit ins Višnevskij-Krankenhaus. Einige Stunden später händigte man Drel’ in der Generalstaatsanwaltschaft erneut ein Ladung für Lebedev als Zeuge aus, für den 3.7. um 10.00 Uhr. Anstatt den Termin einzuhalten, tauchte Untersuchungsführer Bezuglyj begleitet von zahlreichen Mitarbeitern des FSB und Krankenhauspersonal noch am 2.7. um 16.35 Uhr überraschend im Krankenhaus auf. Lebedev wurde festgenommen und in Handschellen abgeführt. Lebedev beantragte beim Generalstaatsanwalt, die diversen Ladungen seiner Person als Zeuge sowie die Aktenvermerke dem Gericht vorzulegen, und ebenso beim Basmannyj Bezirksgericht, den Generalstaatsanwalt zu ihrer Vorlage zu verpflichten, um den Nachweis führen zu können, daß er, Lebedev, zu keiner Zeit beabsichtigte, geschweige denn den Versuch unternommen habe, sich den Ermittlungen zu entziehen. Vergeblich! Statt dessen reichte die Generalstaatsanwaltschaft Monate später die Kopie eines Vermerks (spravka) zu den Gerichtsakten, den der Untersuchungsführer Bezuglyj verfaßt hatte, allerdings nunmehr förmlich „als Zeuge“ (!) der Tatsache, daß der „Untersuchungsführer Bezuglyj“ korrekt gegenüber Lebedev gehandelt habe. Die Abteilung für Innere Aufsicht der Generalstaatsanwaltschaft hatte die „Zeugenaussage“ – angeblich – bereits am 4.7.2003 beglaubigt. Obwohl die Willkür der Generalstaatsanwaltschaft im Umgang mit elementaren Verfahrensvorschriften der Zeugenvernehmung und des Haftrechts mit Händen zu greifen waren, schmetterte Richter Andrej V. Rasnovskij vom Basmannyj Bezirksgericht alle Anträge der Verteidigung ab und folgte uneingeschränkt dem Haftantrag des Generalstaatsanwalts. Auch soweit die Staatsanwaltschaft die Erforderlichkeit der Haftanordnung mit der Befürchtung begründete, Lebedev könne die Ermittlungen durch Beeinflussung von Zeugen, Vernichtung von Beweismitteln usw. behindern, blieb sie konkrete Fakten schuldig. Solche hätte sie nicht nur vortragen, sondern auch glaubhaft machen müssen. Art. 99 StPO schärft nämlich Staatsanwaltschaft und Gericht ein, bei den gegen den Verdächtigten bzw. Beschuldigten einzusetzenden Sicherungsmaßnahmen, hier also bei der Inhaftierung Lebedevs, insbesondere folgende Umstände zu berücksichtigen: 1. die Schwere der erhobenen Beschuldigung, 2. Fakten, welche den Beschuldigten als Persönlichkeit charakterisieren, 3. sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiären Verhältnisse, die Art seiner beruflichen Tätigkeit. Allein, weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht haben sich auf solche „Feinheiten“ bei der Haftentscheidung eingelassen, sondern die völlig abstrakt vorgetragene Befürchtung ausreichen lassen, Lebedev könne und werde, wenn er in Freiheit sei, Druck auf Zeugen ausüben oder Beweismittel unterdrücken. Darin liegt ein schwerer Verstoß gegen Art. 108 i. V. m. Art. 99 StPO. Beide Justizinstitutionen stehen damit allerdings in einer starken und, wie man sieht, bis heute ungebrochenen Tradition sowjetischer Strafverfolgungspraxis. Befragungen an der Schwelle zu den neunziger Jahren belegen nämlich, daß Untersuchungsführer und Ermittlungsbeamte durchschnittlich zu 80 Prozent der Auffassung folgen, eine Glaubhaftmachung der Haftgründe durch entsprechende Beweismittel sei nicht erforderlich, verzichtbar. Die neue Strafprozeßordnung stellt sich dieser Einstellung und Praxis entschieden entgegen. Das Verfassungsgericht Rußlands hat das jüngst unterstrichen: Aufgrund einer von Lebedev eingelegten Verfassungsbeschwerde hat es in einer Entscheidung vom 22.3.2005 die Verpflichtung der Strafjustiz festgestellt, konkrete, reale Beweise für die Begründung der Haftentscheidung anzuführen. Das Basmannyj Bezirksgericht hat mit seinem Verhalten außerdem den dem Haftverfahren innewohnenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, denn es hat nicht begründet, warum der Sicherungszweck nicht ebenso gut erfüllt worden wäre, wenn Lebedev eine Kaution gezahlt hätte oder unter Hausarrest gestellt worden wäre. Mit seiner Entscheidung, sofort die härteste Einschränkung der persönlichen Freiheit zu verfügen, hat das Gericht darüber hinaus auch die für Lebedev streitende Unschuldsvermutung (Art. 49 Abs. 1 Verfassung RF) mißachtet. Es hat ihn – fraglos – wie einen Schwerverbrecher behandelt. Die Verhaftung Michail Chodorkovskijs Chodorkovskij sollte es nicht besser ergehen als Lebedev. Eher im Gegenteil. Er wurde unter dramatischen Umständen am 25.10.2003, einem Sonnabend, um 5.00 Uhr morgens auf dem Novosibirsker Flughafen Tolmačevo festgenommen. Chodorkovskij befand sich an Bord einer von Jukos bei der privaten Fluggesellschaft Meridian gecharterten TU-134. Die Maschine war von Nižnij Novgorod gekommen. Chodorkovskij hatte am Vortag die Mitarbeiter der Jukos-Tochter Samaraneftegaz in Samara über die Perspektiven der Fusion von Jukos mit Sibneft’ informiert, das regionale Zentrum seiner Stiftung Otkrytaja Rossija (Offenes Rußland) besucht und vertrauliche Gespräche mit den Gouverneuren Konstantin Titov (Samara) und Dmitrij Ajackov (Saratov) über eine Zusammenarbeit in der Region geführt. Nun war er auf dem Wege nach Irkutsk, um ein zweitägiges Stiftungsseminar zum Thema „Staatsmacht, Business, Gesellschaft“ mit 120 Politikern und Journalisten aus Sibirien zu eröffnen. Chodorkovskijs Maschine war angeblich zum Nachtanken, tatsächlich aber aufgrund einer Weisung aus Moskau, aus der „Lubjanka“, zur Zwischenlandung in Novosibirsk veranlaßt, in eine Außenposition bugsiert und dort blockiert worden. Einige Dutzend Angehörige der FSB-Antiterrorgruppe Alfa in kugelsicheren Kampfanzügen und mit maskierten Gesichtern drangen in Chodorkovskijs Kabine mit dem Ruf ein „FSB! Hände hoch, hinsetzen, keine Bewegung, Ausweiskontrolle, Waffen auf den Boden, sonst wird geschossen!“ Mit den Worten „Gut, gehen wir“, schickte sich Chodorkovskij in das Unvermeidliche. Von Rechts wegen hätte Chodorkovskij nun innerhalb von acht Stunden dem Haftrichter des Bezirksgerichts von Novosibirsk vorgeführt werden müssen, da für die Haftentscheidung dasjenige örtliche Gericht zuständig ist, in dessen Jurisdiktionsbezirk die Festnahme erfolgt ist (Art. 108 Abs. 4 StPO RF). Dies geschah indes nicht. Vielmehr flog man Chodorkovskij in einer vom FSB eingesetzten Sondermaschine TU-154 zwei Stunden später nach Moskau. Dort wurde er dem Haftrichter Rasnovskij vom Basmannyj-Bezirksgericht vorgeführt, der erwartungsgemäß dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft mit der Begründung stattgab, Chodorkovskij habe sich „böswillig“, ohne triftige Gründe (bez uvažitel’nych pričin) der Vorladung des Generalstaatsanwalts zur Zeugenvernehmung entzogen. Die Begründung war unzutreffend und daher unhaltbar, denn erstens hatte die Staatsanwaltschaft den Vernehmungstermin unzumutbar kurzfristig angesetzt und zweitens hatte Chodorkovskij die ihm von der StPO RF auferlegten Pflichten als Zeuge korrekt erfüllt. Das beweist der folgende Ereignisablauf: Am Donnerstagabend, dem 23.10.2003, geht Chodorkovskijs Anwalt Drel’ aus der Generalstaatsanwaltschaft für Chodorkovskij eine Vorladung „als Zeuge“ für Freitag, den 24.10. 12.00 Uhr zu. Chodorkovskij befindet sich zu dieser Zeit bereits in Saratov, auf seiner Dienstreise an die Volga und nach Sibirien. Weder findet daher die gesetzlich vorgesehene (Art. 188 Abs. 2 StPO RF) Aushändigung der Ladung an Chodorkovskij noch eine wirksame Ersatzzustellung statt. Wie im Fall Lebedev folgte die Generalstaatsanwaltschaft wiederum ihrer Gewohnheit, den Vorladungstermin äußerst knapp anzusetzen. Nach der Kommentarliteratur gilt die Ladungsverfügung nur dann als rechtzeitig (svoevremenno) zugestellt, wenn die vorgeladene Person den Termin wahrnehmen kann, „ohne außerordentliche Anstrengungen dafür unternehmen zu müssen“. Eine derartige Situation lag hier eindeutig vor. Chodorkovskij hätte seine lange geplante – dem FSB und auch der Generalstaatsanwaltschaft zweifellos bekannte – Dienstreise abbrechen und sofort nach Moskau zurückkehren müssen. Eine solche Entscheidung mitsamt den aus ihr resultierenden Nachteilen für seine berufliche Arbeit war ihm nicht zuzumuten. Das Gesetz nimmt darauf auch gerade Rücksicht, indem es dem Zeugen ausdrücklich gestattet, dem Termin mit einer „triftigen“, d.h. stichhaltigen Entschuldigung fernzubleiben. Art. 188 Abs. 3 StPO bestimmt, die vorgeladene Person habe zu dem bestimmten Termin zu erscheinen oder (sic!) vorher den Untersuchungsführer über die Gründe des Nichterscheinens in Kenntnis zu setzen. Dies tat Chodorkovskij, denn er ließ der Generalstaatsanwaltschaft unverzüglich durch Drel’ mitteilen, daß er wegen der Dienstreise zum Termin nicht erscheinen könne und um Anberaumung eines neuen Termins bitte. Dazu war die Staatsanwaltschaft nicht bereit. Nach den Regeln der StPO hätte sie dazu nach Lage der Dinge aber bereit sein müssen. Nur dann, wenn die vom Zeugen vorgebrachten Gründe nicht stichhaltig sind, hat die Staatsanwaltschaft das Recht, seine Vorführung anzuordnen. Chodorkovskij hatte offenkundig solche Gründe. Das Vorgehen der Generalstaatsanwaltschaft kann man nur als rücksichtslos und willkürlich bezeichnen. Die legitimen, von der Strafprozeßordnung ausdrücklich anerkannten und strukturell in ihre Verfahrensregelungen integrierten Interessen nicht nur von Zeugen, sondern auch von Verdächtigten, Beschuldigten und Angeklagten wurden ignoriert, mißachtet. Obwohl zu jener Zeit förmlich noch nicht als Verdächtigter eingestuft, sondern als Zeuge vorgeladen, wurde Chodorkovskij vom FSB wie ein Schwerverbrecher, wie ein Terrorist, behandelt. „Danach zu urteilen, wie die Arretierung erfolgte“, so der stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrates, Valerij Goregljad, „ist dies ganz klar eine Einschüchterungsmaßnahme“ (akcija ustrašenija). In der Tat. Aber zu ihr ermächtigt die Strafprozeßordnung die Ermittlungsbehörden nicht! Ebenso wie bei Lebedev war die Anordnung der Untersuchungshaft durch das Gericht auch im Falle Chodorkovskijs ungerechtfertigt. „Triftige“ Haftgründe konnte es nicht vorweisen. Der Verdacht, Chodorkovskij könne bzw. werde sich der Strafverfolgung durch die Flucht ins Ausland entziehen, war offenkundig unbegründet. Denn Chodorkovskij war am 13.10., also nur wenige Tage vor seiner Festnahme, von einer Geschäftsreise aus den USA zurückgekehrt, dies, obwohl die Durchsuchungs- und Beschlagnahmeaktionen der Generalstaatsanwaltschaft bei Jukos unmittelbar vor seiner Abreise einen neuen Höhepunkt erreicht hatten und seine eigene Inhaftierung gleichsam „in der Luft lag“. Mehr als das: Chodorkovskij hatte vor aller Öffentlichkeit seit Beginn der Attacken auf den Menatep-Jukos-Komplex wiederholt einen solchen Schritt abgelehnt. Am Vortage seiner Abreise in die USA sagte er noch einmal im Klartext: „Wenn es darum geht, mich aus dem Land hinauszudrängen oder mich einzusperren, dann muß man mich einsperren, denn ein politischer Emigrant werde ich nicht sein.“ Nicht ohne Ironie hatte er hinzugefügt, daß er „am Sonnabend“, sofort nach seiner Rückkehr, der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stehe. Ebenso unsubstantiiert, formal-abstrakt blieben Staatsanwaltschaft und Gericht auch bei der „Begründung“ der anderen Haftgründe. Man darf gespannt sein, ob sich an dieser rechtswidrigen Praxis nach der erwähnten Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts Rußlands vom 22.3.2005 etwas ändern wird. Einschüchterungsattacken auf die Jukos-Anwälte Zu den bösartigsten, schreiendsten Rechtsverletzungen der Generalstaatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren (und auch noch später) zählen die Aktionen gegen die Anwälte der Menatep-Jukos-Manager, insbesondere Durchsuchungen von Kanzleien, Vorladungen zur Vernehmung in Mandantenverfahren, Durchsuchungen und Beschlagnahmen von Handakten sowie Inhaftierungen; insgesamt massive Einschüchterungsmaßnahmen, welche einen Angriff auf die Möglichkeit einer effektiven Verteidigung im Menatep-Jukos-Komplex insgesamt darstellen, sie in einigen konkreten Fällen bereits unmöglich machen. Die Rechtslage ist eindeutig; sie verbietet – selbstverständlich – derartige Praktiken entweder uneingeschränkt oder bindet sie an enge gesetzliche Voraussetzungen. Strikt verbietet Art. 56 Abs. 3 StPO RF Staatsanwaltschaft und Gericht, den Anwalt als Zeugen zur Vernehmung zu laden, und zwar erstens generell zu Umständen, die ihm im Zusammenhang mit seiner Rechtsberatung bekannt wurden (Nr. 3) und zweitens –speziell – zu Umständen, die ihm bei seiner Tätigkeit als Verteidiger des Verdächtigten oder Beschuldigten zur Kenntnis gekommen sind (Nr. 2). Die Staatsanwaltschaft ignorierte die Bestimmungen. Überhaupt ging sie in den Tagen vor und nach Chodorkovskijs Verhaftung mit einer Dreistigkeit und Rücksichtslosigkeit gegen die Jukos-Anwälte vor, die man im neuen Rußland, unter seiner geltenden, rechtsstaatlichen Verfassung noch nicht erlebt hatte. Am Donnerstag, dem 9.10.2003, durchsuchten Untersuchungsbeamte der Generalstaatsanwaltschaft unter der Leitung S.K. Karimovs das Anwaltsbüro Drel’. Weder hatten sie Drel’ zuvor davon in Kenntnis gesetzt, wie es das Gesetz vorsieht, noch besaßen sie die gemäß Art. 3 Abs. 8 Anwaltsgesetz dafür erforderliche richterliche Anordnung. Deswegen nutzten sie – man kann es nur als zynisch bezeichnen – die „Gelegenheit“ bzw. den Umstand, daß sich Drel’ zur fraglichen Zeit auf dem Wege in das Moskauer Stadtgericht befand, wo über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung Lebedevs durch das Basmannyj-Bezirksgericht im Kassationsverfahren verhandelt werden sollte. Drel’, per Mobiltelephon informiert, fuhr zwar sofort zum Büro zurück, doch wurde ihm dort der Zutritt, selbst zum Gebäude, verwehrt. Seine sofortige telegraphische Beschwerde an Generalstaatsanwalt Vladimir Ustinov persönlich blieb ohne Wirkung. Eine Woche später, am 16.10., als sich Drel’ gerade im Lefortovo-Gefängnis zu einem Gespräch mit seinem Mandanten Lebedev befand, händigte ihm ein Untersuchungsbeamter eine Ladung zur Vernehmung in der Generalstaatsanwaltschaft aus. Genri Reznik, Präsident der Moskauer Anwaltskammer, war konsterniert: „Die Aktionen der Generalstaatsanwaltschaft sind schreiende Gesetzlosigkeiten (vopijuščee bezzakonie)“, empörte er sich. Die Kammer trat eilig zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen und verbot Drel’ unter Androhung, ihm die Zulassung als Anwalt zu entziehen, der Ladung zu folgen. Drel’ gehorchte. Die Generalstaatsanwaltschaft ließ ihn zunächst in Ruhe, lud ihn dann aber erneut, zum 27.10.2003 zur Vernehmung vor. Wiederum intervenierte die Moskauer Anwaltskammer und wiederum – im Ergebnis – mit Erfolg. Vorladungen erhielten ferner die Jukos-Anwälte Vasilij Aleksanjan und Dmitrij Gololobov, auch bei ihnen vergeblich. Opfer eines weiteren skandalösen Rechtsbruchs wurde die zum Anwaltsteam Chodorkovskijs gehörende Anwältin Ol’ga Artjuchova. Als sie am 11.11.2003 nach einem Gespräch mit Chodorkovskij in der GUIN-Sonderhaftanstalt Matrosskaja Tišina (Matrosenruhe), bei dem es um die Strategie seiner Verteidigung gegangen war, das Beratungszimmer verließ, verlangte man von ihr, alle ihr nicht gehörenden Sachen (gemeint waren Papiere Chodorkovskijs) herauszugeben. Sie verneinte, solche zu besitzen. Da das Gespräch mit Chodorkovskij unter permanenter Beobachtung stattgefunden hatte, handelte es sich offenkundig um eine Provokation und einen Einschüchterungsversuch zugleich. Darauf durchsuchte man die Handakten Artjuchovas. Als man sich anschickte, ihre Gesprächsaufzeichnungen wegzunehmen, gelang es ihr, eines der Blätter zu ergreifen. Sie eilte in eine Ecke des Raumes, um das Blatt zu zerreißen. Es kam zum Handgemenge. Auf ihren erneuten Protest hin, gab man ihr die Handakten bis auf eines der Blätter zurück. Die Vorgänge bedürfen keiner weiteren Kommentierung. Sie schreien für sich. Nachbemerkung Die schriftliche Fassung der Urteile wurde Chodorkovskij und Lebedev am 6. Juni 2005 übergeben. Da die zehntägige Frist für die Einlegung des Rechtsmittels – Appellation oder Kassation – mit dem Abschluß der Urteilsverkündung (31.5.2005) zu laufen begonnen hatte, blieben den Anwälten real noch vier Tage Zeit für die Einlegung der Kassation. Chodorkovskij legte am 9.6.2005 Kassationsbeschwerde beim zuständigen Moskauer Stadtgericht ein. Lebedev verzichtete darauf mit der Begründung, die schriftliche Fassung des Urteils enthalte Passagen, die das Gericht nicht vorgetragen habe, und umgekehrt fehlten darin wiederum Passagen der mündlichen Urteilsverkündung. Aus gesundheitlichen Gründen könne und wolle er sich die – absehbare – Farce des Kassationsgerichtsverfahrens nicht zumuten, sondern seine Kräfte für den Prozeß vor dem Obersten Gericht Rußlands und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schonen.
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