Titelbild Osteuropa 3/2006

Aus Osteuropa 3/2006

Garantiert ohne Garantie
Rußland unter Putin

Lilija Ševcova

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Abstract in English

Abstract

Die politische Entwicklung Rußlands folgt einer ebenso paradoxen wie furchteinflößenden Logik. Die herrschende Klasse ist an der Stabilisierung der bestehenden Ordnung interessiert. Diese spezifische Ordnung kann jedoch nur gefestigt werden, wenn sie im Fluß ist. Die Unbestimmtheit ist ihr Wesen. Die herrschende Clique arbeitet mit Nachdruck an einem Staat, der nicht nur eine riesige Gefahr für die rußländische Gesellschaft darstellt, sondern ihr selbst außer Kontrolle geraten könnte. Doch gegenwärtig gibt es keine politische Kraft, die verhindern könnte, daß Rußland in einen Gesellschaftszerfall oder eine Diktatur abgleitet.

(Osteuropa 3/2006, S. 3–18)

Volltext

Rußlands· Polit-Beobachtern sind seit einiger Zeit in Pragmatiker und Idealisten gespalten. Die Pragmatiker sagen, Rußlands Gesellschaft habe den Staat, den sie verdiene. Man könne nicht mit einem Satz vom Totalitarismus in die liberale Demokratie hinüberspringen. Erst müsse eine Mittelschicht entstehen und das Lebensniveau der Bevölkerung steigen. Dann könne man sehen, ob es mit der liberalen Demokratie klappt. Erst kommt das Fressen und dann die Moral. Die Pragmatiker sind in der Mehrheit. Zu ihnen gehören die wichtigsten Propagandaunternehmer des Kremls. Im Lager der Pragmatiker stehen aber auch all jene Liberalen, die den Westen dafür verantwortlich machen, daß es in Rußland mit der Demokratie nicht klappt. Die Idealisten dagegen sagen, Rußland habe heute eine gute Politik nötiger als eine gute Wirtschaft. Rußlands Gesellschaft stehe einer liberalen Demokratie nicht mehr im Weg. Das Problem bestehe darin, einen Rechtsstaat zu schaffen, der Ordnung und Freiheit zum Ausgleich bringt. Die ökonomische Modernisierung Rußlands ist nach Ansicht der Idealisten zum Scheitern verurteilt, wenn alle Macht weiter in den Händen einer Person konzentriert ist. Die Idealisten sind in der Minderheit, ihr Einfluß auf die öffentliche Debatte in Rußland ist marginal. Die Realität scheint den Pragmatikern recht zu geben. Die Bevölkerung unterstützt Putin und ist zufrieden mit den herrschenden Zuständen. Von Putins Umfragewerten können seine Kollegen aus der G-8 nur träumen. Die Hoffnung der Opposition auf einen Systemkollaps und Massenproteste entbehren jeder Grundlage. Der Westen will vor allem ein stabiles Rußland. Ob es demokratisch ist, interessiert weniger. Einige wissen, wie begrenzt ihr Einfluß auf die innere Entwicklung ist. Andere spielen sich als Kremladvokaten auf. Silvio Berlusconi zum Beispiel. Er erzählt den Italienern, die Russen seien noch nicht reif für die Demokratie. Oder Gerhard Schröder. Ob er es will oder nicht: Wird er den Vorsitz der Gazprom-Tochter übernehmen, die die Ostseepipeline baut, dann stellt er dem System Putin einen Persilschein aus und legitimiert dessen Politik. Was sagen die Idealisten dazu? Jawohl, Rußlands Bevölkerung unterstützt das herrschende System und den Präsidenten. Sie tut dies aber, weil sie das kleinere Übel wählt oder auf Reformen in kleinen Schritten hofft. Schließlich hatten bei den Präsidentenwahlen 2004 viele für Putin gestimmt, weil sie meinten, er würde die Verbindung von Freiheit und Ordnung garantieren. Jawohl, sagen die Idealisten, das Volk schweigt. Denn überleben läßt es sich auch alleine, ohne bei kollektiven Protesten mitzumachen. Nur kann ein solches Schweigen wohl kaum die Zustimmung zur herrschenden Politik bedeuten, wenn in repräsentativen Meinungsumfragen 35 Prozent der Befragten meinen, Rußland bewege sich „in die richtige Richtung“, aber 49 Prozent glauben, das Land habe den „falschen Weg“ eingeschlagen. Das Volk schweigt deshalb, weil es keine anderen politischen Kräfte sieht, die Vertrauen verdienen und in der Lage wären, das Land aus der Sackgasse zu führen. Besonders konsolidiert ist die Macht kaum, wenn 65 Prozent der Befragten ihre Unzufriedenheit mit der Regierung bekunden und nur 16 Prozent darauf hoffen, daß diese ihre Lage verbessern wird. Wichtig ist nach Ansicht der Idealisten, daß die Gesellschaft in Rußland zum ersten Mal in der Geschichte für eine neue politische Ordnung bereit sei. Nur gilt das nicht für die Elite. Nehmen wir einmal an, die Pragmatiker hätten recht. Wenn die Gesellschaft ganz allmählich an die Freiheit herangeführt werden soll, warum zieht dann die herrschende Klasse in Rußland die Schraubzwingen an, anstatt sie zu lockern? Räumen wir mal ein, daß es unmöglich ist, Rußland unter demokratischen Bedingungen zu modernisieren. Wie kommt es dann aber, daß sich das Wirtschaftswachstum trotz zunehmender Zentralisierung der Macht verlangsamt? Und läßt sich die Entwicklung Rußlands zu einem Petrostaat etwa als Modernisierung begreifen? Bis vor kurzem versuchten uns die Pragmatiker eine starke Exekutive dadurch schmackhaft zu machen, daß sie sagten: „Wartet ab, sobald eine starke Präsidialmacht etabliert ist, beginnen die Reformen!“ Nachdem alle anderen Institutionen verdrängt wurden, haben wir heute eine Hyperpräsidialmacht. Was diese Präsidialmacht nun daran hindert, Reformen durchzuführen, können selbst die Pragmatiker kaum erklären. Allerdings können auch die Idealisten nicht überzeugend erklären, weshalb eine Gesellschaft, die in einem freien Land leben will, es der Elite gestattet, eine Politik zu verfolgen, die sie mehrheitlich ablehnt. Der Streit zwischen Pragmatikern und Idealisten ist keine spezifisch rußländische Angelegenheit. In Übergangsgesellschaften gab es einen solchen Streit immer wieder. Je nachdem, wie er ausging, schlugen die Länder entweder den Weg zur Stagnation oder zur Transformation ein. Weltweit zeigt die Erfahrung, daß der Glaube, autoritäre Regimes seien in der Lage, eine liberale Modernisierung durchzuführen, nichts als reine Illusion war. Südkorea ging mit autoritären Mitteln die Industrialisierung an, doch die Anforderungen der postindustriellen Ära zwangen das Land zur Demokratisierung. Die Erfahrung zahlreicher Staaten – von Ägypten bis Indonesien – bestätigt, daß eine autoritär-bürokratische Herrschaft dringende ökonomische Reformen blockiert. Dagegen belegt die Erfahrung von Portugal oder Polen, die noch vor kurzem rückständige Staaten waren und den Weg der Demokratisierung einschlugen, daß der Übergang zur Demokratie auch in Gesellschaften gelingen kann, in denen eine starke Mittelschicht noch fehlt. Der Wille und die Überzeugung der politischen Klasse von diesem Ziel können fehlende sozioökonomische Voraussetzungen kompensieren. Wenn die Pragmatiker darüber räsonieren, daß Rußland unreif für eine liberale Demokratie sei, legitimieren sie die Rückkehr des Landes zum traditionellen System. Mehr noch, sie beenden die Diskussion über die künftigen gesellschaftlichen Entwicklungswege: Da alles vorbestimmt sei, solle man sich entspannen und mit dem Strom schwimmen – ganz egal, wohin die Reise auch gehen mag. So erweist sich der Pragmatismus als Apologie der herrschenden Macht, in welcher Form sie auch immer zutage tritt. Die Rückkehr zum traditionellen Staat Vladimir Putin hat sich als außerordentlich effizienter Herrscher erwiesen. Es ist ihm gelungen, das von Boris El’cin übernommene, ziemlich chaotische System zu konsolidieren. Das System setzt die rußländische Tradition fort, in der der Staat der Gesellschaft übergeordnet ist. Heute tritt diese Tradition im technokratischen Gewande auf, was es der herrschenden Klasse erleichtert, ihre Stellung zu behaupten. Durch Personalpolitik – die El’cin-Gruppe wurde in den Hintergrund gedrängt, neue Leute übernahmen Führungspositionen – ist es Putin gelungen, die alt-neue herrschende Klasse neu zu formieren. Die überwiegende Mehrheit der politischen Klasse in Rußland hat sich darauf geeinigt, daß weder eine Revolution noch einschneidende Schritte erforderlich sind. Diesen Konsens teilen die wichtigsten Gruppierungen, die neoliberalen Technokraten ebenso wie die Repräsentanten der staatlichen Gewaltapparate. Putin verkörpert diesen Konsens, der sich als Verteidigung des Status quo definieren läßt. Es ist ihm gelungen, einen minimalen Interessenkonsens nicht nur unter den wichtigsten Eliten, sondern auch bei einem Teil der Gesellschaft herzustellen. Freilich basiert dieser Konsens in Rußland auf kurzfristigen Interessen und der Erinnerung an die Erschütterungen der 1990er Jahre. Er ist nicht zukunftsweisend, sondern rückwärtsgewandt. Er ist eine Reaktion auf das Gestern und bietet keine Orientierung für das Morgen. Jedenfalls hat das von El’cin und Putin in Rußland geschaffene postsowjetische System, das noch vor kurzem amorph und zusammengestückelt wirkte, nun klare Konturen erhalten. Grundlage dieses politischen Systems ist ein bürokratisch-autoritäres Regime, das manche Ähnlichkeit mit lateinamerikanischen Regimes der 1960er und 1970er Jahre aufweist. Charakteristisch für diese Regimes war, daß die Bürokratie, die Oligarchen und die Repressionsapparate als Stützen eines autoritären Führers dienten. Die Einbindung von Liberalen und Technokraten gab einen Modernisierungsimpuls – oder erweckte zumindest einen solchen Anschein. Der rußländische bürokratische Autoritarismus stützt sich auf einen Staatskapitalismus, einen selektiven sozialen Paternalismus und auf Multipolarität in der Außenpolitik. Drei Eigenschaften des Systems El’cin-Putinscher Prägung, die in mehrfacher Hinsicht dessen Entwicklungstendenz bestimmen, verdienen besondere Aufmerksamkeit: Hybridität, Kontinuität und Imitation. Die Hybridität kommt darin zum Ausdruck, daß sich das System auf unvereinbare Prinzipien stützt: Markt und Dirigismus, Alleinherrschaft und Wahlen, Paternalismus und soziale Gleichgültigkeit, Freiheit und Autoritarismus. Wie ein Allesfresser verleibt es sich alles ein. Es spricht alle sozialen Schichten der Bevölkerung an; dadurch ist nahezu ausgeschlossen, daß eine Opposition entsteht. Was die Kontinuität betrifft, handelt das Putin-Regime nach dem Motto „Neuer Wein in alten Schläuchen“. Offiziell lautet das Leitmotiv der Kreml-Strategen „Putin als Abkehr vom El’cinismus“. Der Vergleich von Gegenwart und jüngster Vergangenheit wird als zentraler Beweis für die Lebensfähigkeit der heutigen Macht angeführt. Tatsächlich verdrängte Putin jenen Teil des vorherigen Regimes, der versuchte hatte, eine dominante Position zu erreichen im Staat. Auch machte er Schluß mit der Spontaneität seines Vorgängers. Insofern wechselte er das Genre der Machtausübung. Doch dieses überaus vorsichtige Manöver, eine Art Häutung, war ein Mittel, um die Fundamente des Systems zu sichern – die personalisierte Macht sowie die Verschmelzung von Macht und Eigentum. Eine weitere eindrucksvolle Eigenschaft des rußländischen postsowjetischen Systems stellt dessen verblüffende Fähigkeit zur Imitation dar. Es ist kompliziert geworden, zwischen Realität, Einbildung und Provokation zu trennen. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist: Das Putin-Regime verdient Respekt dafür, wie fulminant es die Technik beherrscht, Phantome zu konstruieren, die eine vielfältige politische Wirklichkeit vorspiegeln, während die Politik des Kreml auf einfache arithmetische Übungen hinausläuft. Sogar die kritisch gesonnene Minderheit wird zur Mitwirkung an der vom Kreml inszenierten Show genötigt. Die Tatsache ihres schwachen Protestes soll beweisen, daß das postsowjetische System die Möglichkeit zur Selbstentfaltung bietet. Das Redesign der Staatsstrukturen, das die Kreml-Mannschaft mit Nachdruck betrieb, führte neben der Herausbildung der Machtvertikalen zur Duplizierung politischer Einrichtungen. Der Staatsrat (Gossovet) kopiert den Föderationsrat (Sovet Federacii), die Gesellschaftskammer (Obščestvennaja palata) das Parlament (Duma), die Präsidialverwaltung die Regierung, und verschiedene Beiräte kopieren sich gegenseitig. Äußerlich erweckt diese Verdopplung einen absurden Eindruck. In Wirklichkeit folgt die Schaffung dieser Parallelstrukturen, die sich bis in die Regionen fortsetzt, der Logik eines Systems, das Verantwortungslosigkeit reproduziert. Diese Verdoppelung von Organen imitiert nicht bloß gesellschaftliche Aktivität. Sie verdichtet auch die klientelistischen Patronagebeziehungen in der politischen Klasse. Und vor allem lenkt die Duplizierung die Aufmerksamkeit vom tatsächlichen Entscheidungszentrum ab. Das ist – ganz in der Tradition der Günstlingsherrschaft, wie sie unter El’cin entstanden war – das direkte Umfeld des Präsidenten. Dieser „situativen bürokratisch-autoritären Staatlichkeit“, die sich in Rußland etabliert hat, ist eine spezifische Konflikthaftigkeit eigen: Das zentrale Merkmal einer solchen Staatlichkeit ist, daß ihre Stärkung ihr strategisches Potential schwächt. Denn diese Staatlichkeit bedeutet, daß die Gesellschaft in einem passiven, atomisierten Zustand erstarrt und der Quellen und Stimuli für eine Erneuerung beraubt ist. Mehr noch: Früher oder später wird klar werden, daß das situative Staatswesen ebenfalls eine Imitation darstellt, hinter der sich die präsidiale Macht verbirgt, welche sich alle anderen Institutionen unterworfen hat. Doch sie sind nur die Instrumente, mit denen Rußlands Bürokratie, die byzantinisch geprägt ist und wenig mit der Bürokratie im Weberschen Sinne gemein hat, ihre eigenen Interessen verwirklicht. Der Apparatschik-Kapitalismus auf dem Vormarsch Ein Ergebnis Putinscher Herrschaft ist, daß der Streit zwischen Dirigisten und liberalen Technokraten beendet ist. Die Anhänger einer stärkeren Rolle des Staates in der Wirtschaft haben den Sieg davongetragen. Es gelang dem Kreml, den von Oligarchen gelenkten Kapitalismus umzuformen. Hier kam es zu einem Bruch mit dem El’cin-Regime. Freilich schaufelten sich die Oligarchen ihr eigenes Grab, als sie räuberischen Instinkten nachgaben und die Gesellschaft ignorierten, womit ihre soziale Basis soziale Basis verloren ging. Seit Putin an der Macht ist, hat sich in Rußland ein Kapitalismus des Staatsapparats herausgebildet. Der Fall Jukos hat diesem neuen ökonomischen Modell einen Schub verliehen. Dieser Fall hat klargemacht, daß die Bürokratie die Kommandohöhen in der Wirtschaft zurückerobert hat. Damit ist der Übergang von der indirekten Kontrolle über die Wirtschaft durch bestimmte Oligarchen zur direkten Kontrolle vollzogen. Das bestätigt auch, daß die Oligarchen unter den Bedingungen einer situativen Staatlichkeit eine vorübergehende Erscheinung sind. Das war übrigens vorhersehbar, verlangt die exekutive Machtvertikale doch eine Fortsetzung in der Wirtschaft. Andernfalls würde sie nicht nur nicht funktionieren, sondern von der freien Wirtschaft untergraben werden. Dazu paßt, daß die Propagandisten der staatsdirigistischen Wende gerne auf die Erfolge des ostasiatischen Staatskapitalismus verweisen. Doch die rußländischen Dirigisten verschweigen, daß Rußland auf dem besten Wege ist, die Fehlentwicklungen zu wiederholen, welche die asiatischen Tigerstaaten überwunden haben, nachdem ihr Staatskapitalismus in schwere Krisen geraten war. Die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre haben den Rahmen für die Beziehungen zwischen der Macht und den Großunternehmen in Rußland neu abgesteckt. Von irgendeiner politischen Partnerschaft ist keine Rede mehr. Ein Beleg dafür ist, daß der rußländische Unternehmerverband Rossijskij sovet promyšlennikov i predprinimatelej, der unter dem „frühen“ Putin eine wesentliche Rolle als Interessenvertreter der Wirtschaft gegenüber dem Kreml spielte, sein „goldenes Zeitalter“ bereits hinter sich hat. Bei der Umsetzung der eigenen Prioritäten drängt die politische Führung die Wirtschaft nun offenkundig in den Hintergrund. Die Wirtschaft sucht ihr Glück in den Regionen, wo sie den Machtzuwachs des Staates überdauern will. Doch auch in der Provinz wird sie von der Bürokratie bedrängt. Es wäre auch merkwürdig, wenn der Staat, der die Kontrolle über das Erdöl zurückerobert hat, die Ausbeutung der übrigen Rohstoffe sowie andere Bereiche der Wirtschaft dem Zufall überlassen würde. Der Apparatschik-Kapitalismus duldet keine selbständigen Großunternehmen, egal in welchem Bereich. Die bloße Existenz eines umsatzstarken Unternehmens bereitet den Boden für finanzielle und politische Unabhängigkeit, die das bürokratisch-autoritäre Staatswesen untergräbt. Von daher widerspricht die Existenz von Wirtschaftsimperien wie dem von Vladimir Potanin oder jenem von Oleg Deripaska der Logik des Systems, selbst wenn sich Potanin oder Deripaska systemkonform verhalten. Der Logik dieses Staatskapitalismus entspräche es, daß Bürokraten Aufsichtsratsvorsitzende der größten Privatunternehmen wie Noril’sknikel’, Bazovyj element und Severstal’ werden. Das wäre das höchste Stadium der Verschmelzung von Politik und Wirtschaft. Der Übergang zum Apparatschik-Kapitalismus kommt die Gesellschaft teuer zu stehen. Die Expansion des Staates geht auf Kosten des einfachen Steuerzahlers. Um die Firmen Juganskneftgaz und Sibneft’ zu erwerben, mußte die Regierung zusätzlich zum Griff in die Staatskasse sogar im Ausland Kredite aufnehmen. Da Staatsbetriebe weniger effizient sind als Privatunternehmen, bringen sie dem Fiskus weniger Steuern. Wenn die Verlierer bekannt sind, drängt sich die Frage auf, wer von diesen Verstaatlichungen profitiert. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, die jüngsten Transaktionen des ukrainischen und rußländischen Staates zu vergleichen. Es besteht kein Zweifel, welcher Staat dabei mehr an das Wohl des eigenen Volkes dachte. Die Privatisierung von Kryvorižstal’ Ende Oktober 2005 bescherte der Ukraine 4,8 Mrd. US-Dollar Einnahmen. Rußland gab 13 Mrd. US-Dollar für die Verstaatlichung von Sibneft’ aus. Dabei bleibt unklar, an wen diese Summe gezahlt worden ist und in wessen Interesse sie erfolgte. Das untergräbt die Legitimität der gesamten Verstaatlichungswelle in Rußland. Es ist bezeichnend, daß der rußländische Staat nicht in der Lage ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen, und seine Ressourcen an Vermittler übergibt. Dabei handelt es jedoch wieder um Apparatschiki oder um Figuren aus deren Umfeld. So wird das rußländische Staatseigentum noch undurchsichtiger: Formal ist es staatlich. Schaut man allerdings auf die Verteilung der Einnahmen und die Kontrolle über die Kapitalflüsse, so ist es privat. Nun muß unsere Darstellung des Apparatschik-Kapitalismus westliche Investoren nicht erschrecken. Selbst für den Fall, daß der Staat die gesamte Wirtschaft kontrolliert, wird sich für sie ein Platz auf dem rußländischen Markt finden lassen. Der Westen wird von Rußland nicht nur zur Finanzierung, sondern auch zur Selbstbestätigung des rußländischen Staatskapitalismus mit seinen wechselnden Führungsmannschaften benötigt. Allerdings sollten westliche Investoren keine allzu großen Ambitionen haben, zumindest nicht in nächster Zeit. Der Einstieg von ConocoPhillips bei Lukoil zeigt, welche Art der Beteiligung westlichen Kapitals in der rußländischen Wirtschaft gewünscht ist. Sie dürfen einen kleinen Anteil am Unternehmen erwerben, als Juniorpartner bleiben sie jedoch ohne Einfluß auf die Firmenpolitik. Das von der Regierung unter Ministerpräsident Fradkov verabschiedete „Gesetz über die Bodenschätze“ und das jüngst von Putin unterzeichnete Verzeichnis strategischer Unternehmen, sollen festlegen, in welchem Rahmen westliches Kapital in Rußland agieren darf. Das Problem für westliche Investoren ist weniger die Einengung der Möglichkeiten, sondern die Unsicherheit, ob sich der Staat an seine eigenen Regeln halten wird. Westliche Geschäftsleute haben leider allen Grund zur Sorge. Weil die Entwicklung in Rußland zyklisch verläuft, drohen immer dann, wenn eine Entwicklungsphase zum Abschluß kommt, neue Spielregeln. Mehr noch, im Rahmen des Apparatschik-Kapitalismus sichert die Macht ihre Kontrolle über das Eigentum in erster Linie durch ungenaue Regeln und die Möglichkeit, sie willkürlich auszulegen. Vorwärts zur Rohstoff-Supermacht! Rußlands politische Klasse hat eine neue Droge entdeckt, mit der sie die Gesellschaft aufputschen will: den Mythos von der Umgestaltung Rußlands in eine Rohstoff-Supermacht. Hieß es noch vor einem Jahr, die Abhängigkeit vom Rohstoffexport sei unerwünscht und ärgerlich, wird jetzt die gegensätzliche Strategie diskutiert. Indem die Welt von rußländischen Energiereserven abhängig gemacht wird, soll Rußland die Rolle einer Großmacht zurückerlangen. Rußlands politische Klasse ist dabei, das Land in einen Petrostaat zu verwandeln. Der Anteil von Rohstoffen am Export beträgt schon mehr als 54 Prozent. Und über 70 Prozent der Investitionen gehen in die Erdöl- und Ergasförderung. Wenn die Idee einer Rohstoff-Supermacht mittlerweile die Gehirne der rußländischen Elite okkupiert hat, so ist dies ein Eingeständnis, daß der Versuch gescheitert ist, die rußländische Wirtschaft zu diversifizieren. Da kam die weltweite Beunruhigung über die künftige Energieversorgung wie gerufen. Diese Beunruhigung bietet Rußlands Elite einen willkommenen Vorwand, ihr Scheitern für einen Erfolg oder zumindest für einen Etappensieg zu halten. Dies erklärt die Verwandlung von Erdöl und Erdgas in Schlüsselinstrumente der Innen- und Außenpolitik. Freilich werden nicht alle rohstoffreichen Länder zu Petrostaaten. Die USA, Kanada, Großbritannien und Norwegen haben es geschafft, dies zu vermeiden. Doch dieser Herausforderung waren nur jene Länder gewachsen, die eine entwickelte Bürgergesellschaft und eine verantwortungsbewußte Führungsschicht besaßen. Besonders aufschlußreich ist das Beispiel Norwegens. Das Land hat sich zu einem beispiellosen Schritt entschlossen und sowohl die Investitionen in die staatliche Erdölgesellschaft Statoil als auch die Ölfördermenge begrenzt, um das volkswirtschaftliche Gleichgewicht zu wahren. Rußland setzt mit derselben Entschiedenheit auf Rohstoffe als Faktor für den Wiederaufstieg. Dieselbe Illusion hegten sämtliche Petrostaaten der Gegenwart von Venezuela über Nigeria und Indonesien bis Algerien. Doch was kam dabei heraus? Korruption; eine neue Klasse von Rentiers, die auf parasitäre Weise von Öldividenden lebt; eine einseitige Ausrichtung der Volkswirtschaft; die Abhängigkeit des Landes von ausländischem Kapital sowie eine Verquickung von Staat und Wirtschaft. Soweit die Spezifika eines Petrostaates. Das Schicksal solcher Staaten ist alles andere als beneidenswert. Entweder sie verrotten wie Venezuela oder sie kollabieren wie Indonesien. Hinzu kommt, daß all diese Petrostaaten zwangsläufig in Abhängigkeit von den Abnehmerstaaten geraten. Wenn die Kreml-Apologeten von Souveränität redet, so ist dies angesichts der Exportabhängigkeit Rußlands entweder naiv oder ein Versuch, die Mißachtung der nationalen Interessen zu rechtfertigen. Gewöhnlich ziehen es die Eliten solcher Staaten vor, das eigene Geld außer Landes zu schaffen, für Investitionen aber Kredite bei internationalen Banken aufzunehmen. Rußlands herrschende Klasse verfährt genauso, ja sie macht sogar Schulden im Ausland, um Eigentum zu verstaatlichen. Eine Rohstoff-Supermacht auf Pump – Rußlands politische Klasse ist stets für neue Überraschungen gut! In der Zwischenzeit sucht die vom „Erdgas-Krieg“ zwischen Moskau und Kiew beunruhigte EU intensiv nach alternativen Energiequellen und diskutiert über den Ausbau der Atomenergie, um ein Diktat des Kreml zu vermeiden. Es gibt kaum eine Region der Welt, in der nicht darüber nachgedacht würde, wie der Gefahr zu entgehen ist, zur Geisel eines Exporteurs zu werden. Noch vor kurzem hoffte Rußland, die Kontrolle über die Energiequellen am Kaspischen Meer aufrecht erhalten zu können. Doch was ist daraus geworden? Die Baku-Ceyhan-Pipeline machte der Abhängigkeit des Kaspischen Beckens von der „Rußland-Röhre“ ein Ende. Heute konkurriert nicht nur Azerbajdžan, sondern auch Kazachstan mit Rußland um die Rolle als Energieversorger für Europa und Asien. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die rußländische Elite ungeachtet ihrer Rhetorik begriffen hat, welche Folgen der Versuch nach sich ziehen würde, Rußland in eine „Rohstoff-Supermacht“ zu verwandeln. Deshalb läßt sich diese Idee auch als Versuch des Kreml verstehen, die öffentliche Aufmerksamkeit davon abzulenken, daß das Land orientierungslos geworden ist. Der Minister für Naturressourcen, Jurij Trutnev, räumte ein, daß bereits 75 Prozent der bekannten Erdöl- und Erdgaslagerstätten Rußlands ausgebeutet werden. 89 Prozent der Fördereinrichtungen sind veraltet, die Hälfte der Trassen schon länger als 25 Jahre in Betrieb. Der Produktivitätszuwachs bei Gazprom beträgt kaum 0,8 Prozent. Von welcher Renaissance als „Rohstoff-Supermacht“ kann da die Rede sein? Szenarien für den Machterhalt der Herrschenden In den Jahren 2007 und 2008 stehen in Rußland Neuwahlen zur Duma und zum Amt des Präsidenten an. Solange Putins Amtsperiode nicht beendet ist, muß er sich bedeckt halten. Gäbe er bekannt, daß er keine neue Amtszeit anstrebt, käme es zu einer offenen Auseinandersetzung unter den Thronprätendenten. Welches ist das wahrscheinlichste Szenario, nach dem sich die Herrschenden 2008 an der Macht halten werden? Die Stabilität im Lande, der Zustand der Eliten und auch die Möglichkeiten, die das System bietet, sprechen dafür, daß Putin seinen Nachfolger selbst bestimmen wird. Es dürfte also zur Wiederholung der „(aus)gewählten Ernennung“ kommen, die El’cin 1999 bereits mit Putin praktiziert hatte. Für den derzeitigen rußländischen Staat wäre dies die optimale Variante, das eigene Überleben und den Machterhalt der politischen Klasse zu garantieren. Nach diesem Szenario ist es für den Präsidenten lebenswichtig, das „Austragen“ des Nachfolgers zu kontrollieren und die Geburt zu einem glücklichen Ende zu bringen. Eine Frühgeburt des Nachfolgers wäre – politisch gesprochen – dessen Tod. Auch für Putin und das Land wäre ein zu früh auftauchender Nachfolger gefährlich. Sobald die politische Elite glaubt, daß Putin abtritt, wird es nicht lange dauern, bis sich ein politisches Vakuum um ihn bildet und die Diadochenkämpfe einsetzen. Die Spaltung der Elite ist ein Albtraum für den Kreml, dem man mit ganzer Kraft zu entkommen sucht. Solange die Zukunft offen ist, bleibt der Präsident Herr der Lage. Noch mindestens ein Jahr wird das Land versuchen, den Namen von Putins Nachfolger herauszufinden. Aber wichtiger als der Name sind die an den Nachfolger gerichteten Erwartungen. Putin war als Stabilisator des El’cinschen Chaos in den Kreml eingeführt worden. Heute wächst in der Gesellschaft insgeheim der Ruf nach einem Mann, der das Land mal richtig säubert, was zu einer populistischen Schlagseite führen könnte. Falls dieses Verlangen auf breite Unterstützung stößt, könnte diese mühsam aufrechterhaltene Stabilität einen Riß bekommen. Da ist es verständlich, daß die politische Macht versucht, das Bedürfnis nach Sicherheit durch die soziale Neuausrichtung ihrer Politik zu befriedigen. Ob dieser Kurs für Putins Nachfolger zum Sprungbrett oder zum Friedhof wird, bleibt abzuwarten. Nicht auszuschließen ist, daß der Präsident genötigt sein wird, Kandidaten für die Nachfolge auszuwechseln, wie es El’cin getan hat, um den eigentlichen Favoriten zu halten. Die endgültige Entscheidung wird erst dann erfolgen, wenn ein Kandidat gefunden ist, der für die politische Klasse den Status quo verkörpern kann und zugleich verspricht, mit fester Hand zu regieren. Nicht weniger wichtig ist auch die Frage nach dem künftigen Herrschaftskonzept in Rußland. Theoretisch sind eine ganze Reihe von Varianten möglich, die sich aber alle zwischen zwei Polen bewegen: zwischen der Herrschaft einer starken Persönlichkeit und der Herrschaft einer mächtigen Bürokratie. Der derzeitige Präsident steht für ein gemäßigtes Regime, das auf einem Kompromiß zwischen Präsident und Apparat beruht. Sollte jedoch eine Krise eintreten, könnte diese einen radikaleren Führer nach oben bringen. Eine „Linkswende“, die einen rußländischen Peron an die Macht bringen würde, ist jedoch unwahrscheinlich. Rußlands herrschende Klasse zieht es vor, ihre Stellung mit Hilfe eines rechtszentristischen Führers zu verteidigen. Wie Putin müßte er biegsam wie Kautschuk sein und über die Fähigkeit verfügen, alle sozialen Gruppen anzusprechen. Eines jedoch ist sicher: Welcher „starke Mann“ in Rußland auch immer an die Macht kommen mag, er bleibt auf den Apparat angewiesen. Es sei denn, er riskierte es, sich über die politische Klasse hinweg direkt ans Volk zu wenden. In diesem Fall würde es sich um reinen Autoritarismus handeln. Dessen Ausrichtung und Erfolgschancen hingen davon ab, womit sich der Führer ans Volk wendet. Solange jedoch unter Putins Nachfolgern niemand zu sehen ist, dem ein solcher Schritt zuzutrauen wäre, ist die wahrscheinlichste Variante die, daß sich die herrschende Klasse auf einen relativ schwachen und leicht manipulierbaren Konsenskandidaten einigt. Das ist das wahrscheinlichste Zukunftsszenario unter der Voraussetzung, daß die wichtigsten Entwicklungen noch zwei Jahre so weiter gehen. Und wenn nicht? Dann sind auch andere Varianten nicht ausgeschlossen. Angenommen, Putin bleibt eine dritte Periode im Amt. Dann muß sich der Kreml eine Begründung einfallen lassen. Was käme dafür in Frage: eine terroristische Bedrohung; ein weiterer Bürgerkrieg; eine rot-braune Allianz; eine Bedrohung Moskaus und Sankt Petersburgs; der Zerfall Rußlands? Jede dieser Gefahren zwingt einen vernünftigen Menschen zu der Frage, warum der jetzige Führer, der unter dem Banner der Stabilität angetreten war, seine Aufgabe nicht gelöst hat und erneut an die Macht drängt? Wenn der Machterhalt nicht durch Stabilisierung zu garantieren ist, ließe sich dann nicht auf ökonomischen Erfolg spekulieren? In Anbetracht dessen, daß sich das Wachstumstempo der Wirtschaft in Rußland verlangsamt, scheint der ökonomische Faktor auch nicht unbedingt geeignet, um die Verfassung zu demontieren, die eine dritte Amtszeit untersagt. Putin hat sehr wohl verstanden, daß er sich mit einem solchen Schritt in vollkommene Abhängigkeit von seiner Umgebung aus Bürokraten und Angehörigen der Repressionsorgane begäbe. Er würde damit nicht nur den Dialog mit der westlichen Welt erschweren, den er zu schätzen weiß, sondern auch seinen künftigen Rückzug aus dem Kreml. Je länger der Aufenthalt hinter den Mauern des Kreml währt, desto schwieriger wird es, ihn wieder zu verlassen. Insofern stellt die Annahme, daß Putin noch eine dritte Periode im Amt bleiben würde, eine Beleidigung dar. Das hieße, seine intellektuellen Möglichkeiten zu unterschätzen. Dennoch gebietet ein System, das auf der Verstetigung von Ungewißheit beruht, daß man auch irrationale Varianten der Machterhaltung in Betracht zieht. Zwei weitere Szenarien: Der Präsident verliert die Kontrolle über den politischen Prozeß. Es kommt zum Kampf um den Thron, der zur Spaltung der Elite und zur selben Situation wie 1999 führt, als der El’cin-Mannschaft die Moskauer Gruppe um Jurij Lužkov und Evgenij Primakov gegenüberstand. Das zweite Szenario: Das Umfeld des Präsidenten ist mit Putins zögerlichem Vorgehen und seiner Auswahl des Nachfolgers unzufrieden und handelt auf eigene Faust. Noch vor dem Ende seiner Amtzeit wird Putin aus dem Kreml gedrängt. In seiner direkten Umgebung sind zwar kaum potentielle Verschwörer auszumachen. Gleichwohl ist jeder autokratische Herrscher gezwungen, Vollmachten an Günstlinge zu delegieren. Diese wiederum sind gezwungen, ihre Stellungen zu verteidigen. Die Erörterung solcher Szenarien ließe sich fortsetzen. Selbst daß Putin vorzeitig abtritt ist nicht ausgeschlossen. Fest steht jedoch eines: All dies sind Technologien der Machterhaltung. Momentan ist für uns aber der allgemeine politische Hintergrund wichtig, von dem die Wahl der Technologie abhängt. Wie aber wird sich die Politik nach der Zäsur von 2008 entwickeln? Wenn die äußeren Rahmenbedingungen stabil bleiben und die Überzeugung herrscht, daß dieser Zustand die nächsten Jahre andauern wird, kann sich das System erlauben, weiterzumachen wie bisher. Die Bevölkerung wird keine Veränderung verlangen, da sie eine Verschlechterung befürchtet. Sollten jedoch irgendwelche Zweifel daran aufkommen, daß die Petrodollars ausreichen, um Stabilität zu erkaufen und daß die Wirtschaft in Schwung kommt, liegt es in der Logik des Systems, daß die Symbole und das Personal ausgetauscht werden. Um sich an der Macht zu halten, wird die Elite genötigt sein, den Weg einer „doppelten Verneinung“ zu beschreiten und die eigene Avantgarde zu opfern. Das erste Putinsche Regime konsolidierte sich, indem es sich von der El’cinschen Herrschaftspraxis distanzierte. Ähnlich könnte sich das Post-Putin-Regime durch eine Abkehr von der jetzigen herrschenden Gruppe herausbilden. Je mehr Schwierigkeiten auftreten, desto radikaler wird die Selbstbeschneidung der Macht sein müssen, die anfängt, ihre neue Herrschaftsform auszubilden. Rußland und der Westen: gespieltes Vertrauen Unter Vladimir Putin hat Rußland nicht nur einen klaren außenpolitischen Kurs eingeschlagen. Auch die grundsätzlichen Probleme dieses Kurses sind zu Tage getreten. Schon lange diskutieren Rußland und der Westen nicht mehr darüber, wie weit Rußland in die westliche Gemeinschaft integriert werden soll. Unter El’cin und in der Frühphase von Putins Herrschaft schlossen beide Seiten eine partielle Integration Rußland in die westlichen Strukturen oder eine stärkere Assoziierung noch nicht aus. Heute ist der Kreml jedoch bemüht, die für die Innenpolitik charakteristische Hybridität auch auf die Außenpolitik zu übertragen. Er versucht, eine Partnerschaft mit der westlichen Staatengemeinschaft, mit dem Ausbau des eigenen Großmachtstatus unter einen Hut zu bringen, der Autarkie und eine kontrollierte Gegenmachtbildung gegen den Westen impliziert. Der Westen akzeptiert dieses Selbstbild und betrachtet Rußland gleichzeitig als Partner und Konkurrenten; er kam Moskau sogar entgegen, indem er die Ambitionen des Kreml als Gegenleistung für die Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Energie anerkannte. „Symbole gegen Kompromisse“ heißt dieser Deal. Daß er funktioniert zeigen Rußlands Beteiligung an der G–8, in der Rußland nun den Vorsitz innehat und den nächsten Gipfel in Sankt Petersburg ausrichtet, sowie die Zusammenarbeit Rußlands mit der EU im Rahmen der sogenannten „vier Räume“. Doch für Rußland und den Westen hat es sich als höchst kompliziert erwiesen, das Modell „Partnerschaft trotz Gegnerschaft“ in die Praxis umzusetzen. Dies ist ein deutlicher Indikator dafür, daß es unmöglich ist, in den internationalen Beziehungen am Prinzip der Hybridität festzuhalten. Früher oder später muß man sich für eine Richtung entscheiden. Die „Orangene Revolution“ in der Ukraine geriet zum ersten offenen Konflikt zwischen Rußland und dem Westen im postsowjetischen Raum. Und dieser Konflikt mit dem Westen war weniger geopolitischen Differenzen als zivilisatorischen und systemspezifischen Unterschieden geschuldet. Der Ablauf dieses Konflikts zeigt freilich auch, daß Rußland zu einer direkten Konfrontation mit den westlichen Demokratien nicht bereit ist. Das Modell „Partnerschaft trotz Gegnerschaft“ steht unterdessen nicht nur im postsowjetischen Raum, sondern international auf dem Prüfstand. Moskaus Versuche, den Iran und Syrien vor dem Druck des Westens in Schutz zu nehmen, die unbeholfene Aktion, mit der palästinensischen Hamas in einen Dialog zu treten und damit die selbst eingegangenen Vereinbarungen des „Nahost-Quartetts“ zu brechen, das zur Lösung des Nahostkonflikt beitragen will, sind Belege für das wachsende außenpolitische Selbstvertrauen Rußlands. Immer häufiger versucht der Kreml, eine eigenständige Rolle zu spielen. Alleine dieses Bestreben zeigt, daß Rußland und der Westen nicht nur verschiedene Vorstellungen von Demokratie, sondern auch über den Weg zu globaler Stabilität und Sicherheit haben. Absorbiert von den eigenen Problemen und erschöpft von den Wendungen rußländischer Politik, beobachtet der Westen Rußlands Selbstentfaltung jenseits des westlichen Orbits mit Gleichgültigkeit. Der letzte Romantiker, der den Westen überzeugen wollte, daß die Transformation Rußlands eine der größten globalen Herausforderungen darstellt und der der rußländische Elite klarzumachen versuchte, daß allein ein Zusammengehen mit dem Westen Rußland zu einem zivilisierten Land machen kann, war Bill Clinton. Heute haben die politischen Kreise des Westens erkannt, wie beschränkt ihr Einfluß auf die inneren Prozesse in Rußland ist und sind vor allem an Stabilität in Rußland interessiert, an Stabilität auch um den Preis der Stagnation. Hauptsache, es kommt in diesem Teil der Welt nicht zu irgendwelchen Erschütterungen. Außerdem stellt Rußland einen der wichtigsten Energielieferanten Europas dar, was dessen führende Politiker nach Wegen suchen läßt, eine Isolation Rußland zu verhindern. Deshalb simulieren sie eine Partnerschaft mit Rußland. Unterdessen werden sich Rußland und der Westen immer stärker bewußt, wie fragil diese Partnerschaft und wie inkompatibel ihre Vorstellungen sind. Die Rede ist nicht nur von den eindeutig unterschiedlichen Wertesystemen in Rußland und der westlichen Gemeinschaft, die von dem Versuch der politischen Klasse Rußlands nicht kaschiert werden können, mit ihrer „souveränen Demokratie“ die westliche Demokratie zu imitieren. Und je aktiver die rußländische Elite versucht, ihre Position in Rußland durch Traditionalismus zu konsolidieren und im postsowjetischen Raum ihren Einfluß wiederzuerlangen, desto stärker wird ihr Großmachtgehabe. Gleichzeitig wünschen Rußlands Präsident und das Gros der politischen Klasse nicht, sich zu stark vom Westen abzusetzen oder gar eine Konfrontation mit ihm einzugehen. Denn Rußlands Elite ist es sehr wichtig, im Westen Anerkennung zu finden. Während die Angehörigen der Elite privat und als die Elite als Gruppe in den westlichen Lebensstil eingebunden sind, hält dieselbe Elite gleichzeitig den Westen von der eigenen Gesellschaft fern. Sie benutzt antiwestliche und fremdenfeindliche Ressentiments, um ihre Macht in Rußland zu behaupten. Rußlands heutige Elite kann Rußland schlicht nicht für eine Integration in den Westen (vor allem in Europa) öffnen, weil dies das Ende ihrer Herrschaft wäre. Sie ist unfähig, in einer offenen Gesellschaft mit unabhängigen Institutionen zu regieren. Die unterschiedliche Ausrichtung Rußlands und des Westens in der Weltpolitik wird immer offensichtlicher. Moskau versucht die Reste der alten Weltordnung möglichst lange zu bewahren, beharrt also – wie in der Innenpolitik – auf dem Status quo. Im Gegensatz dazu streben die USA und die Europäische Union eine neue Weltordnung an, auch wenn sie bislang keinen Konsens darüber erzielt haben, wie diese denn aussehen soll. Amerika erscheint als der größte Unruhestifter auf der Welt. Zugegebenermaßen stoßen die USA momentan an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, wie die ausweglose Lage im Irak bezeugt. Die EU strebt ebenfalls nach einem neuen Gesellschaftsmodell und einer anderen Weltordnung. Im Unterschied zur hierarchischen Weltordnung der USA zielt das eher konsensual angelegte europäische Modell auf einen Interessenausgleich in den internationalen Beziehungen. Da die westlichen Gesellschaften einer Wertegemeinschaft angehören, gehen diese Differenzen über die angestrebte Weltordnung über wechselseitige Irritationen jedoch nicht hinaus. Rußland bemüht sich, das gegenwärtige System so lange zu konservieren, bis es sich stark genug fühlt, selbst an dem Aufbau eines neuen Systems mitzuwirken. Deshalb zieht sich der Kreml auf die ihm vertraute konservative Funktion zurück. Doch Rußland jagt einer Schimäre nach, denn ihm fehlen die Mittel, um ein neues internationales System zu verwirklichen. Auch China ist am Erhalt des Status quo interessiert, bis es genügend Kräfte gesammelt hat, um einen Vorstoß zu wagen. Hier sind die Interessen Rußlands und Chinas vorübergehend deckungsgleich. Doch Chinas Aufstieg wird unvermeidlich zu einer Veränderung des internationalen Kräftegleichgewichts führen und das wird Rußland tangieren, wahrscheinlich auf die denkbar unangenehmste Weise. Rußland möchte seine Hybridität in der Außenpolitik als „multivektorial“ verstanden wissen, was nichts anderes heißt als: „Heute mit dem, morgen mit dem!“ Verglichen mit Primakovs multipolarer Außenpolitik, die darauf abzielte, Rußland zum Zentrum einer Weltkoalition als Alternative zum Westen zu machen, ist der neue Kurs realistischer. Doch auch die multivektoriale Außenpolitik leidet daran, daß sie keine langfristige Perspektive hat. Im Moment hat Rußland noch das Potential, um eine eigenständige Rolle zu spielen. Doch das genügt nicht, um allein die globalen und inneren Herausforderungen zu bewältigen. Um so mehr, als es angesichts des Zivilisationsbruchs zwischen der westlichen Staatengemeinschaft und der islamischen Welt nicht gelingen wird, wie eine Katze alleine vor sich hinzustreuen. Moskau wird sich entscheiden müssen. Verweigert es sich einer Integration in die westliche Staatengemeinschaft, droht Rußland die endgültige Marginalisierung. Mittlerweile versucht die rußländische politische Klasse, den Westen zu einer Unterscheidung von Innen und Außen zu bringen: „Wir arbeiten mit Euch bei der Lösung internationaler Probleme zusammen, bekämpfen aber Euren Einfluß in unserem Land.“ Das illustrierte zuletzt die Verabschiedung des „Gesetzes über nichtkommerzielle Organisationen“ durch die Duma, das Präsident Putin am 10. Januar 2006 unterzeichnete und das im April 2006 in Kraft tritt. Es zielt darauf ab, westliche Nichtregierungsorganisationen (NGO) aus Rußland zu verdrängen und die Finanzierung der Zivilgesellschaft aus westlichen Quellen zu kontrollieren. Besonders pikant daran ist, daß dieses Gesetz vor dem G-8- Gipfel verabschiedet wurde. Ein Spionageskandal, in den die britische Botschaft und rußländische NGOs verwickelt waren, bekräftigte im Februar 2006 einmal mehr Rußlands veränderte Taktik gegenüber dem Westen. Indem es sich dem westlichen Einfluß entzieht, stärkt Rußland übrigens keineswegs seine eigene Souveränität. Es gerät dadurch in den Sog anderer weltpolitischer Akteure. Schon jetzt beteiligt sich Moskau aktiv an der Verwirklichung chinesischer Interessen und unterstützt die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Šanchajskaj organizacija sotrudničestva, ŠOS), die von den Chinesen zur Expansion nach Zentralasien und als Gegengewicht zu den USA benutzt wird. Die gemeinsamen Manöver im Sommer 2005 sind ein Beleg dafür, wie geschickt die chinesische Diplomatie agiert. Peking brachte den Kreml dazu, für China die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Denn mit Rußland wurden Manöver vereinbart, als sich die chinesischen Beziehungen sowohl mit Japan als auch mit den USA und Südkorea verschlechtert hatten. Dies geschah in einem Moment, als das Pentagon China zu einer potentiellen Gefahr erklärt hatte und alle Regierungen drängte, den Rüstungsexport nach China einzustellen. In diesem Moment reichte Moskau Peking die Hand und ließ sich für die Erpressung Washingtons und der Nachbarn Chinas benutzen. China konnte so seinen Einsatz im Dialog mit Amerika erhöhen. Nur was bekam Rußland – außer den gesteigerten Argwohn des Weißen Hauses? Souverän wie ein Tiger, der ein Affenspektakel beobachtet – so wünscht jede Diplomatie zu sein. Dumm nur, daß Rußland diesmal leider nicht die Rolle des Tigers bekam. Instabile Stabilität Die Welt wird sich weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, wie stabil Rußland ist. Wird sich in Rußland ein Spektakel ereignen, während sich die Weltgemeinschaft eigenen Problemen zuwendet? Es drängt sich der Eindruck auf, daß von Rußland aller Wahrscheinlichkeit nach bis zum Ende der Putischen Amtzeit keine besonderen Überraschungen zu erwarten sind. Eine Reihe von Faktoren sorgt dafür, daß die rußländische Gesellschaft weiter im Halbschlaf vor sich hindöst. Wie gehabt ist erstens der Ölpreis Schlüsselfaktor für Stabilität. Zweitens hält der wirtschaftliche Aufschwung im Lande an, was zu einer positiven Grundstimmung in der Gesellschaft beiträgt. Drittens hat sich das Volk noch nicht von seiner Erschöpfung erholt. Es ist nicht bereit, auf die Straße zu gehen. Ganze 29 Prozent der Bevölkerung würden sich an Protesten beteiligen. Viertens sind die Bürgerinnen und Bürger enttäuscht von der existierenden Opposition von links wie rechts. So lange keine neuen Gesichter auftauchen, wird sie niemand unterstützen. Nicht unwichtig ist fünftens auch, daß das heutige Regime Begriffe und Ideen der Opposition vereinnahmt hat. Sechstens schafft es das Machtzentrum, alle mehr oder weniger einflußreichen und berühmten Personen in eine Patronage-Klientel-Abhängigkeit einzubinden. Erwähnt sei siebtens die relative Milde des Systems, das Unzufriedenheit erträgt; auch das neutralisiert Spannungen. Achtens gelingt es den Politiktechnologen, das politische Vakuum mit Klonen zu füllen, was die Wahrscheinlichkeit senkt, daß vitale soziale und politische Bewegungen entstehen. Neuntens ist der Kreml stets darauf vorbereitet, auf einen Stimmungsumschwung zu reagieren. Dies bekräftigt der Schwenk des Präsidenten zur Sozialpolitik. Kurzum, Rußlands Machtzentrum hat unglaubliches Glück: Auf revolutionäre Erschütterungen folgen immer stabilere Zeiten und meist sogar eine Restaurationsphase. Es gibt jedoch systemimmanente Faktoren, die schleichend die rußländische Stabilität untergraben. Da ist zum einen der Konflikt zwischen der personalisierten Herrschaft und der demokratischen Legitimation, welche die Machtkontinuität in Frage stellt. Der zweite Faktor ist das Bestreben der herrschenden Gruppierung, den Status quo zu wahren, gleichzeitig aber die Machtressourcen umzuverteilen. Dies muß zwangsläufig zu Spannungen führen. Zudem verdient Beachtung, daß der Machtzirkel in seinem Bestreben, die eigene Stellung zu sichern, diese lediglich erschüttert, ganz nach dem Paradoxon, das der ehemalige Premierminister Viktor Černomyrdin auf den Punkt brachte, als er nach einem der üblichen Mißerfolge erklärte: „Wir wollten das Beste, aber gelaufen ist es wie immer.“ Je aktiver das Machtzentrum versucht, eine virtuelle Bürgergesellschaft herzustellen, desto wahrscheinlicher werden Teile der real existierenden Gesellschaft Recht und Gesetz ignorieren, wenn eine Proteststimmung aufkommt. Zu den Voraussetzungen für die Stabilität von Staat und Gesellschaft gehört außerdem eine gut aufgestellte und in das System integrierte Opposition. Eine Opposition, die in Isolierhaft gehalten wird, ist hingegen stets unberechenbar und systemfeindlich. Übrigens wünschen 61 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Rußlands, eine Opposition zu haben. Nur 25 Prozent lehnen dies ab. 47 Prozent meinen, daß eine solche Opposition in der Gesellschaft nicht existiert. 30 Prozent behaupten das. Die Bevölkerung erwartet also, daß es zu den momentan Herrschenden einflußreiche Opponenten in Erscheinung treten werden. Überhaupt entsteht der Eindruck, daß der Kreml sich von Politologen beraten läßt, die glauben, daß die Welt auf dem Stand der 1970er und 1980er Jahre erstarrt ist. Politik ist ein gesellschaftliches Phänomen. Sie verändert ihre Formen, um sich einer vielgestaltiger gewordenen Welt anzupassen. Vor unseren Augen verlieren Parteien, Gewerkschaften und Massenbewegungen an Bedeutung; während der wachsende Einfluß von Interessengruppen immer offensichtlicher wird. „Die Ära der Parteien ist zu Ende“, lautete die vielleicht etwas voreilige Prophezeiung von Ferdinando Kardoso. Rußland muß sich jedoch darauf einstellen, daß Interessengruppen stärker als bisher versuchen werden, über offizielle Kanäle aufzusteigen und offizielle Institutionen für ihre Zwecke benutzen. Dadurch degenerieren offizielle Machtstrukturen und die Exekutive zur bloßen Dekoration. Beunruhigender ist eine andere Tendenz: die Entwicklung des postsowjetischen Systems im Nordkaukasus. Es hat dort in extremer Form die Gestalt autoritärer Klanstrukturen angenommen, die sich auf Bajonette und Subventionen aus Moskau stützt. Sollten die Konflikte im Kaukasus wieder entflammen, kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Kreml gezwungen ist, über die Regionen den Ausnahmezustand zu verhängen. Denn die rußländische Staatlichkeit kennt kein Verfahren der Konfliktregulation, um auf Herausforderungen dieser Art auf zivile Weise zu reagieren. Ein eskalierender Konflikt im Kaukasus würde der Föderation gewiß den letzten Schlag versetzen. Er könnte sich als entscheidender Faktor zur Unterminierung der imitierten Staatlichkeit erweisen. Es sei auch daran erinnert, daß situative Faktoren, die heute zur Stabilität beitragen, morgen das Gegenteil bewirken können. So vergißt die rußländische Elite, die auf die stabilisierende Rolle des Ölpreises hofft, daß dieser periodischen Schwankungen unterliegt. Was passieren wird, wenn die Preise sinken, bleibt unbedacht. Übrigens war es der Fall des Ölpreises, der 1986 den entscheidenden Anstoß für jene Prozesse gab, die binnen von fünf Jahren zum Untergang der Sowjetunion führen sollten. Mutmaßungen anzustellen, ob es gelingen kann, die Stabilität in einem geschlossenen System aufrechtzuerhalten, das nur für sich selbst arbeitet, ist eine undankbare Aufgabe. Einstweilen steht die situative Stabilität Rußlands außer Frage. Doch jeden Augenblick könnte der Funke überspringen, der auch die geduldigste Gesellschaft in Bewegung versetzt. Nicht weniger dramatisch ist Folgendes. Da die Gesellschaft über keine einflußreichen liberal-demokratischen Kräfte verfügt und „liberale Demokratie“ mit der Verschlechterung des Lebens assoziiert wird, können Spannungen nur zum Erstarken national-populistischer Kräfte führen. Das könnte den Kreml-Hausherrn mit ihren Warnungen recht geben, wonach das Regime von heute ein Muster an Zivilisiertheit darstellt im Vergleich zu jenem, welches im Falle eines Umsturzes an die Macht kommen könnte. Allerdings hat die herrschende Elite diese Logik, die sie selbst fürchtet, und in der Putin der einzige Europäer im Lande zu sein scheint, selbst erzeugt. Daher häufen sich die Anzeichen, daß Rußlands herrschende Elite schon jetzt um ihre Zukunft fürchtet. „Wir haben einfach Angst“, bekannte ein Kreml-Mitarbeiter. Die hektische Aktivität, mit der der Kreml Pseudoorganisationen und geklonte Politiker ins Leben ruft, gleichzeitig aber unabhängige Persönlichkeiten aus dem gesellschaftlichen Leben entfernt, die Wahlen behindert und versucht, die Gesellschaft von äußeren Einflüssen zu isolieren, all das spricht dafür, daß diejenigen, die momentan die Macht innehaben, sich ihrer nicht sicher sind. Die Gesellschaft sieht zu, wie die Machthaber unermüdlich eigene Interessen verfolgen, und beginnt zu begreifen: Es scheint, als sei die Macht am Wanken. Das aber könnte die Gesellschaft dazu verführen, die Stabilität der Macht zu prüfen. Fortsetzung folgt Die grundsätzlichen Entwicklungslinien in Rußland sind offenkundig. Sämtliche Machtinstrumente zielen darauf ab, die Stabilität in der Gesellschaft zu erhalten. und objektive Faktoren weisen in diese Richtung. Nicht nur die um ihre Macht fürchtende politische Klasse Rußlands sehnt sich nach Stabilität, sondern auch die Gesellschaft, die Angst vor Erschütterungen jeder Art hat. Und die Ironie des Schicksals will es, daß auch die westlichen Staaten und alternativ denkende Menschen in Rußland dieses Anliegen teilen. Sie haben Verständnis für die Nachwirkungen, die das Scheitern des liberalen Projekts in Rußland ausgelöst hat. Doch auf Stabilität in Rußland zu hoffen ist so sinnvoll wie anzunehmen, daß eine verrostete Wasserleistung nicht bricht. Bedenken wir, mit welcher Selbstvergessenheit die rußländische politische Klasse fortfährt, an dem Ast zu sägen, auf dem sie sitzt. Was ist von dieser Klasse zu erwarten? Wird sie Haushaltsdisziplin wahren und nicht an der Inflationsschraube drehen? Das Vertrauen der Investoren in die politische Herrschaft fördern? Wird sie die hausgemachte Terrorgefahr bannen? Dafür gibt es keine Garantie. In Rußland können alle möglichen Unwägbarkeiten eintreten. Darunter auch jene, welche die Macht selbst produziert, indem sie versucht, das Unerwünschte zu vermeiden. Aus dem Russischen von Christian Hufen, Berlin

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