Lüge-86
Die geheimen Tschernobyl-Dokumente
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Abstract in English
Abstract
Alla Jarošinskaja stieß bei ihrer Suche nach der Wahrheit über Tschernobyl auf geheime Dokumente, die eine massive Vertuschung durch die sowjetische Führung und eine gezielte Desinformationspolitik offenbaren. Wider besseres Wissen verharmloste die Staats- und Parteiführung das Ausmaß der Kontamination, schickte Menschen in die verstrahlten Gebiete zurück, brachte belastete Nahrungsmittel in Umlauf und bot dem Ausland ein beschönigtes Bild des Geschehens.
(Osteuropa 4/2006, S. 3956)
Volltext
In meinem persönlichen Tschernobyl-Archiv befinden sich Zeugnisse eines Verbrechens: Kopien von Schreiben der KPdSU und der sowjetischen Regierung, die bezeugen, daß man unverzüglich das Ausmaß und die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl zu vertuschen suchte. Diese Politik bezahlten Zehntausende von Menschen mit ihrem Leben und neun Millionen Menschen im kontaminierten Gebiet mit dem Verlust ihrer Gesundheit und Lebensqualität. Eines dieser Geheimdokumente ist die Anweisung der Dritten Hauptabteilung des Gesundheitsministeriums der UdSSR vom 27. Juni 1986 „Über die verschärfte Geheimhaltung bei der Ausführung der Arbeiten an der Beseitigung der Folgen der Havarie im AKW Tschernobyl“. Die verhängnisvollen Punkte lauten: 4. Informationen über den Unfall sind geheimzuhalten. […] 8. Informationen über medizinische Behandlungsergebnisse sind geheimzuhalten. 9. Informationen über den Grad der radioaktiven Verseuchung des an der Beseitigung der Folgen des Unfalls im AKW Tschernobyl beteiligten Personals sind geheimzuhalten. […] Der Leiter der Dritten Hauptabteilung des Gesundheitsministeriums der UdSSR Šul’ženko Ein weiteres erschreckendes Schriftstück aus derselben Serie ist die „Erläuterung der zentralen militärärztlichen Kommission des Verteidigungsministeriums der UdSSR“ Nr. 205 vom 8. Juli 1987, die an die Militärkommissariate versandt wurde. Darin heißt es: 1. Zu den langfristigen Folgen, die durch ionisierende Strahlung hervorgerufen wurden und in einem kausalen Zusammenhang mit dieser stehen, zählen Leukämie oder Leukose, die 5–10 Jahre nach einer Bestrahlung mit Dosen von über 50 rad auftreten können. 2. Das Auftreten von starken somatischen Störungen sowie von Symptomen der Verschlimmerung chronischer Erkrankungen bei Personen, die zur Beseitigung der Unfallfolgen herangezogen wurden und die nicht an akuter Strahlenkrankheit leiden, ist nicht in einen kausalen Zusammenhang mit ionisierender Strahlung zu bringen. 3. Bei der Ausstellung eines Krankenscheins für erkrankte Personen, die zuvor zu Arbeiten am AKW Tschernobyl herangezogen wurden und sich keine akute Strahlenkrankheit zugezogen haben, sind […] weder die Beteiligung an den genannten Arbeiten noch die summarische Strahlendosis […] anzuführen. Der Leiter der 10. Ärztlichen Beratungskommission Oberst des Medizinischen Dienstes Bakšutov Das folgende Rundschreiben Nr. 423 vom 24. September 1987 wurde von der mit Tschernobyl befaßten Regierungskommission selbst herausgegeben: „Liste der Informationen über den Unfall im AKW Tschernobyl, die nicht in frei zugänglichen Druckerzeugnissen, in Radio- oder Fernsehsendungen bekanntgegeben werden dürfen“. In diesem Schreiben wurde auch die Geheimhaltung von „Informationen über Anzeichen einer Verschlechterung der physischen Arbeitsfähigkeit bzw. der Berufsunfähigkeit beim Betriebspersonal, das unter Spezialbedingungen im AKW Tschernobyl arbeitete, oder bei Personen, die zur Beseitigung der Unfallfolgen herangezogen wurden“, angeordnet. Das waren keine leeren Worte. Solche Schreiben erzeugten Angst und Schrecken bei den Zeitungs-, Zeitschriften-, Radio- und Fernsehredaktionen. Ein allgemeines Stillschweigen über die tatsächlichen Ereignisse in Tschernobyl und Umgebung war die Folge. Statt dessen verkündeten Presse und Fernsehen auf das Zeichen des Kreml hin im Lande und weltweit, daß alles in bester Ordnung und die Gesundheit der Menschen in keiner Weise gefährdet sei. Viele Jahre waren die streng geheimen Dokumente niemandem zugänglich. Erst 1991 gelang es mir, Einblick zu erhalten. Diese Gelegenheit erhielt ich als Abgeordnete des letzten Volksdeputiertenkongresses der UdSSR und Mitglied des Untersuchungsausschusses, der das Verhalten der Amtsträger nach dem Unfall im AKW Tschernobyl untersuchte. Über einige dieser Dokumente und über den verantwortungslosen Schriftverkehr der medizinischen Behörden in Moskau und Kiev schreibe ich erst jetzt zum ersten Mal – 20 Jahre nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl. Nachdem der Präsident der RSFSR im August 1991 die KPdSU per Dekret verboten hatte, begann die Übergabe ihrer Archive, und so erhielten wir endlich Zugang zu den Geheimprotokollen der Sitzungen der Einsatzleitungsgruppe des Politbüros des ZK der KPdSU unter Leitung des Ministerpräsidenten der UdSSR, Nikolaj Ryžkov, das mit dem Unfall im AKW Tschernobyl befaßt war. Aber die Bitte unserer Experten, zumindest eine einzige Arbeitskopie der Protokolle anfertigen zu dürfen, wurde abgelehnt. An einem Dezembertag des Jahres 1991, als die UdSSR bereits in den letzten Zügen lag, sah ich, wie Archivmaterial der Abgeordneten aus dem Gebäude am Novyj Arbat, in dem die Ausschüsse und Komitees des Obersten Sowjet der UdSSR untergebracht waren, in einen Wagen geladen und an einen unbekannten Ort abtransportiert wurden. Mir wurde schlagartig bewußt, daß möglicherweise auch die Geheimprotokolle der Sitzungen der Tschernobyl-Einsatzleitungsgruppe des Politbüros weggebracht würden und daß sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden könnten. Auf diese Weise würde es den Ausschußmitgliedern unmöglich, diese außerordentlich wichtigen Dokumente zu lesen. So beschloß ich, um jeden Preis Kopien dieser Protokolle anzufertigen. Ich ging ins Arbeitszimmer, in dem gewöhnlich unser Tschernobyl-Ausschuß tagte, öffnete den Safe und entnahm ihm einen schweren Packen Dokumente. Ich sah sie bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal. Beim Durchblättern begriff ich, daß es sich um einen Schatz von unschätzbarem Wert handelte, der den Vermerk „geheim“ bzw. „streng geheim“ sowie Stempel des Politbüros und Originalunterschriften der sowjetischen Führung trug. Ich beauftragte unverzüglich das Kopierbüro mit der Anfertigung von Kopien von vierzig Geheimprotokollen mit insgesamt 600 Seiten Text. Bis zum nächsten Morgen sollten sie fertig sein. Zu dieser Zeit gab es in der UdSSR noch so gut wie keine Kopierer, zu den wenigen existierenden hatten die meisten Menschen keinen Zugang. Den Abgeordneten des gesamten Volksdeputiertenkongresses stand ein einziges Kopierbüro zur Verfügung. Die UdSSR befand sich bereits in der Selbstauflösung, und der Volksdeputiertenkongreß hatte nur noch einige wenige Arbeitswochen. Noch hatte ich als Abgeordnete das Recht, jedes beliebige Dokument zu kopieren. Am nächsten Morgen jedoch teilten mir die Mitarbeiter des Büros verlegen mit, daß ihnen die Erlaubnis verweigert worden war, die Tschernobyl-Protokolle zu kopieren. Es stellte sich heraus, daß das Veto von einem gewissen Vladimir Pronin eingelegt worden war, der sich als Berater der Zweiten Geheimdienststelle des Obersten Sowjet der UdSSR auswies. Ich war schockiert: Also wurden alle Tätigkeiten der Abgeordneten im Gebäude des Obersten Sowjet unablässig von den Geheimdiensten beobachtet. Ich ging zum Leiter der Geschäftsordnungsabteilung des Sekretariats des Obersten Sowjet der UdSSR, Anatolij Burko, und erklärte ihm entrüstet, daß ich noch Abgeordnete sei und ein Anrecht auf diese Kopien habe. Er aber erwiderte ungerührt, daß er das Kopieren dieser geheimen Dokumente nicht gestatten könne. Um eine Erlaubnis zu erhalten, müsse ich mich an die Institution wenden, die die Geheimhaltung beschlossen habe. Wohlgemerkt, das alles spielte sich nach dem Putsch im August 1991 ab. Boris El’cin hatte bereits die KPdSU verboten, und die Mitglieder ihres Politbüros, die am Putsch beteiligt gewesen waren, saßen im Moskauer Untersuchungsgefängnis des KGB Matrosskaja tišina (Matrosenstille). Die Geheimnisse dieser Organisation aber wurden von ihren Gehilfen im sterbenden Parlament der Sowjetunion weiterhin streng gehütet. Ich nahm die Dokumente wieder an mich, kehrte in mein Arbeitszimmer zurück und setzte mich mit Vadim Bakatin, dem nach dem Putsch von Michail Gorbačev neu ernannten Chef des sowjetischen KGB, in Verbindung. Ich bat Bakatin, seine Untergebenen im Kreml anzuweisen, mir die Erlaubnis zu erteilen, die geheimen Parteidokumente zu kopieren. Die Antwort Bakatins erschütterte mich: „Ich kann Ihnen nicht helfen“, sagte er. „Das sind nicht unsere Kader, sie sind mir nicht unterstellt.“ So erfuhr ich per Zufall, daß im Innern des Parlaments eine geheime Organisation existierte, die alle Tätigkeiten der Abgeordneten beobachtete und die, wie Bakatin sagte, unmittelbar seinem Vorsitzenden unterstellt war. Dieser Vorsitzende aber, der Putschist Anatolij Luk’janov, war bereits hinter Gittern … Kurz gesagt, mir wurde klar, daß niemand mir helfen würde. Doch konnte ich diese Dokumente auch nicht einfach wieder in den Safe zurücklegen und vergessen. Deshalb steckte ich sie in die Tasche und ging hinaus auf die Straße. Was nun? Copyshops gab es nicht. So ging ich zur Zeitung Izvestija. Dort befand sich das heißersehnte Kopiergerät. Zurück kam ich mit zwei Taschen – den Originalen und den Kopien der Dokumente. Nachdem ich die Originale zurück in den Safe gelegt hatte, dachte ich nach: In diesem Land ist alles im Fluß. Wenn die Kommunisten am nächsten Tag wieder an die Macht kämen, was würde dann aus mir und meiner Familie werden, sollte ich diese Materialien abdrucken lassen? Sie würden sagen, daß dies alles nicht stattgefunden habe und ich mir alles ausgedacht hätte, und ich würde mich genau dort wiederfinden, wo jetzt die Putschisten saßen! Also öffnete ich erneut den Safe, entnahm ihm das erste Protokoll – und zwar das Original – und legte an seine Stelle die Kopie. So hoffte ich, mich und meine Familie vor Unannehmlichkeiten schützen zu können. Jedesmal wenn ich diese geheimen Sonderdokumente lese, muß ich daran denken, daß das wichtigste und schrecklichste Isotop, das der Rachen des Reaktors ausspuckte, im Periodensystem der chemischen Elemente fehlt: die Lüge–86. Der Betrug ist ebenso global wie die Katastrophe selbst. Lüge Nr. 1 – über die radioaktive Kontaminierung Die erste Sitzung des Tschernobyl-Einsatzleitungsgruppe des Politbüros fand am 29. April 1986, drei Tage nach dem Reaktorunfall, statt. Vom 4. Mai an erhielt die Einsatzleitungsgruppe ständig neue Informationen über die Einweisung von Bewohnern der verseuchten Gebiete ins Krankenhaus. Geheim. Protokoll Nr. 5. 4. Mai 1986. Es waren anwesend: die Mitglieder des Politbüros des ZK der KPdSU, Genossen N.I. Ryžkov, E.K. Ligačev, V.I. Vorotnikov, V.L. Čebrikov; die Kandidaten für das Politbüro des ZK der KPdSU, Genossen V.I. Dolgich, S.L. Sokolov; der Sekretär des ZK der KPdSU, Genosse A.N. Jakovlev; Innenminister Genosse A.V. Vlasov […] Bericht des Genossen Ščepin [des Ersten stellvertretenden Gesundheitsministers der UdSSR – A.J.] über die Hospitalisierung und Behandlung der Bevölkerung, die einer Strahlenbelastung ausgesetzt war. Zur Kenntnisnahme: Bis zum 4. Mai wurden insgesamt 1882 Personen ins Krankenhaus eingewiesen. Untersucht wurden insgesamt 38 000 Personen. Bei 204 Personen, darunter 64 Kinder, wurde eine Strahlenkrankheit unterschiedlichen Grades festgestellt. Der Zustand von 18 Personen ist als ernst zu bezeichnen. Geheim. Protokoll Nr. 7. 6. Mai 1986. […] Nach Stand vom 6. Mai, 9 Uhr, wurden insgesamt 3454 Personen ins Krankenhaus eingewiesen. 2609 davon befinden sich in stationärer Behandlung, darunter 471 Kinder. Nach präzisierten Angaben leiden 367 Personen an der Strahlenkrankheit, darunter 19 Kinder. Bei 34 dieser Personen ist der Zustand ernst. Den Protokollen nach zu urteilen stieg die Zahl der ins Krankenhaus eingelieferten und an schwerer Strahlenkrankheit leidenden Personen mit jedem Tag an. Die Zahl ging allmählich in die Tausende. Geheim. Protokoll Nr. 12. 12. Mai 1986 […] In stationärer Untersuchung und Behandlung befinden sich 10 198 Personen, wovon 345 Personen Symptome der Strahlenkrankheit aufweisen. Darunter sind 35 Kinder. Wie ist zu erklären, daß die Einsatzleitungsgruppe ständig neue Nachrichten erhielt, die Medien aber über die Tausende von Strahlenopfern berichteten? Gibt es eine Wahrheit für die Herren und eine für die Sklaven? Nachdem die Zahl der ins Krankenhaus eingewiesenen Personen aus den kontaminierten Gebieten auf über 10 000 angestiegen war, begannen die Krankenhäuser ab dem 13. Mai 1986 reihenweise verstrahlte Menschen einfach zu entlassen. Je mehr Menschen unter der Strahlenkrankheit litten, desto gesünder wurde das sowjetische Volk. Die Lösung dieses Rätsels der wundersamen „Heilung“ Tausender verstrahlter Personen findet sich ebenso in den Dokumenten. Geheim. Protokoll Nr. 9. 8. Mai 1986. […] Das Gesundheitsministerium der UdSSR bestätigte die neuen Grenzwerte der zulässigen radioaktiven Strahlenbelastung der Bevölkerung, die um den Faktor 10 höher sind als die vorherigen (siehe Anhang). In besonderen Fällen können die neuen Grenzwerte auch um den Faktor fünfzig höher sein als die bisherigen. Zur Verdeutlichung: Die neuen Grenzwerte überstiegen sogar die zulässigen Strahlenwerte für den Personenkreis, der in den Maschinenhallen des AKW arbeitete, um das Fünffache. Weiter heißt es im Protokoll: Auf diese Weise wird die gesundheitliche Unbedenklichkeit für die Bevölkerung jeder Alterstufe sogar im Falle eines Anhaltens der gegenwärtigen Strahlenbelastung für die kommenden zweieinhalb Jahre garantiert. Diese Normen galten ebenso für Schwangere und Kinder. So wurden Tausende Strahlenopfer auf einen Schlag ohne jegliche Behandlung auf wundersame Weise „geheilt“. Man hätte genauso eine Richtlinie verabschieden können, die die normale Körpertemperatur vom 1. Mai an statt bei 36,6 bei 38 oder in „besonderen Fällen“ bei 39 Grad ansetzt. Zweifelsohne diente die Anhebung der zulässigen Strahlendosen auf das Zehn- bis Fünfzigfache der vorher zulässigen Dosen durch die sowjetische Parteiführung der Verheimlichung des tatsächlichen Ausmaßes der radioaktiven Kontamination der Menschen. Und dieser ideologische Schachzug hatte großen Erfolg. Um dieses Ziel zu erreichen, war dem Kreml jedes Mittel recht. Es waren noch keine drei Monate seit der Evakuierung der Menschen aus der „schwarzen“ Zone – wie der Erste Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine, Volodymyr Ščerbic’kyj, die 30 Kilometer umfassende Evakuierungszone in geheimen Schreiben nannte – vergangen, da leitete die Staatsführung hastig die Reevakuierung, in die Wege. Geheim. An die Sonderabteilung [Geheimdienstabteilung] der Geschäftsstelle des Ministerrats UdSSR zurückzuleiten. Protokoll Nr. 29. […] 23. Juni 1986. […] Begutachtung einer möglichen Rückkehr von Kindern und Schwangeren in die Gebiete, in denen die Strahlenbelastung 2–5 Milliröntgen pro Stunde beträgt. 1. Die Reevakuierung (Rückkehr) von Kindern und schwangeren Frauen in alle Orte, in denen die berechnete Gesamtdosis innerhalb des ersten Jahres 10 rem nicht übersteigen wird (insgesamt 237 Orte), ist zu gestatten. […] wo die berechneten Strahlendosen (ohne Einschränkung des Konsums kontaminierter Lebensmittel) 10 rem übersteigen, ist die Reevakuierung ab dem 1. Oktober 1986 zu gestatten […] (174 Orte) […] Izraėl’, Burenkov, Aleksandrov Dabei hatte der Leiter des Staatlichen Komitees für Hydrometeorologie, Jurij Izraėl’, in einem geheimen Bericht einen Monat zuvor folgendes erläutert: Gebiete mit einer Strahlenbelastung von über 5 Milliröntgen pro Stunde […] sind als für die Bevölkerung gefährliche Wohnorte einzustufen. […] In Gebieten mit einer Strahlenbelastung von weniger als 5 Milliröntgen ist eine strenge Kontrolle der radioaktiven Strahlenbelastung von Lebensmitteln, insbesondere von Milch, in die Wege zu leiten. Ein Vergleich dieser Stellungnahme mit einem geheimen Vortrag des Kommandanten der Kampfmitteltruppen des Verteidigungsministeriums der UdSSR Vladimir Pikalov auf der Sitzung des ZK der KPdSU vom 15. Juni 1987 ist äußerst aufschlußreich. In diesem Vortrag merkte er an, daß im „roten“ Wald durch Baumschlag und das Zuschütten mit Sand die Strahlenbelastung von 5 Röntgen pro Stunde auf 7,5 Milliröntgen pro Stunde gesenkt werden konnte. Dieser Wert übersteigt die zulässigen Grenzwerte immer noch um das Fünfzehnfache. Als „rot“ wurde der abgestorbene Wald in der Nähe des AKW bezeichnet. Das bedeutet, daß schwangere Frauen und Kinder in diesen eigentümlichen „roten“ Wald hätten reevakuiert werden können! Ohne jeglichen Skrupel wurden mit einem Federstrich Schwangere und Kinder in das atomare Ghetto, in die „schwarze Zone“ zurückgejagt. 20 Jahre nach der Katastrophe stieß ich bei der Durchsicht meines Tschernobyl-Archivs auf ein sensationelles Dokument, das in direktem Zusammenhang mit den Geheimprotokollen steht und aufs neue die ungeheure Dimension der Verlogenheit und verbrecherischen Haltung der Staatsführung bestätigt. Hierin ist zum ersten Mal von den konkreten Dosen die Rede, denen die Menschen in den ersten Monaten nach der Katastrophe im AKW Tschernobyl ausgesetzt waren. Am 26. Mai 1987 hatte der Gesundheitsminister der Ukrainischen Sowjetrepublik, Anatolij Romanenko, dem Gesundheitsminister der UdSSR, Evgenij Čazov, in einem Schreiben „Über die Umsetzung der Anordnung des Gesundheitsministeriums der UdSSR Nr. 527-dsp vom 13.4.1987“ unter der Nr. 428 mit den Vermerken „geheim“ und „nicht zur Veröffentlichung“ folgendes mitgeteilt: In den Kreisen mit einer erhöhten Strahlenbelastung in den Gebieten Kiev, Žytomyr und Černygov leben 215 000 Einwohner, darunter 74 600 Kinder. Es wurden 39 600 Erkrankungen festgestellt, die vorher nicht erfaßt waren. Bei Personen mit unterschiedlichen somatischen Erkrankungen wurde eine dynamische Beobachtung angeordnet. Ihre Behandlung wird ambulant und stationär durchgeführt. Insgesamt wurden innerhalb eines Jahres 20 200 Menschen ins Krankenhaus eingewiesen, darunter 6000 Kinder. Jetzt folgt das eigentlich Bemerkenswerte: In den ersten Monaten nach dem Unfall im AKW Tschernobyl wurde bei allen Kindern eine dosimetrische Untersuchung der Schilddrüse durchgeführt. Bei 2600 Kindern (3,4 Prozent) wurde eine Konzentration von Jodradionukliden von über 500 rem festgestellt. Dieses entsetzliche Schreiben stammt vom 13. April 1987. Die Anhebung der zulässigen Strahlendosen um das Zehn- bis Fünfzigfache durch das Politbüro galt zu diesem Zeitpunkt bereits ein knappes Jahr. Dies bedeutet, daß die Zahl der Kinder, die eine gesundheitsgefährdende Dosis aufgenommen hatten, viel größer war. Sogar zurückhaltende medizinische Schätzungen sprechen von einem hohen Schilddrüsenkrebsrisiko ab 100 rem. Die Frage ist, bei wie vielen Kindern in der Ukraine und anderen Sowjetrepubliken, die Opfer radioaktiver Strahlung wurden, eine Konzentration von unter 500 rem in der Schilddrüse gemessen wurde. Solche Detailangaben sucht man leider in offen zugänglichen Quellen bis heute vergeblich. Ein weiteres Schriftstück aus dem fortgesetzten geheimen Schriftverkehr sei hier zitiert. Es handelt sich um einen Bericht von Čazov an das ZK der KPdSU vom 11. November 1987 Nr. 3634, erneut mit den Vermerken „geheim“ und „nicht zur Veröffentlichung“. Er teilt darin folgendes mit: Bis zum 30.9.1987 wurde bei 620 016 Menschen eine Vorsorgeuntersuchung durchgeführt. Zum Zwecke einer genaueren Untersuchung und Diagnostizierung von Erkrankungen, die bei der Vorsorgeuntersuchung festgestellt wurden, die aber in keinem Zusammenhang mit einer Verstrahlung stehen, wurden 5213 Menschen ins Krankenhaus eingewiesen. Der ukrainische Gesundheitsminister Romanenko berichtete Čazov, daß sich binnen eines Jahres bei über zweieinhalbtausend Kindern eine Konzentration von 500 rem an radioaktivem Jod in der Schilddrüse angesammelt habe – was man als Krebs bezeichnen kann. Čazov teilt dem ZK mit, daß „keine Erkrankungen festgestellt worden seien, die mit der Strahlenbelastung in Zusammenhang gebracht werden können“! Wenn nicht eine solche Dosis, was dann kann mit der Strahlenbelastung „in Zusammenhang gebracht“ werden? War es dem ZK der KPdSU etwa genehmer, eine solche „Wahrheit“ zu hören? Werfen wir nun einen Blick auf den Entwurf des Beschlusses „Über die Ausführung der Resolution XXVIII des Parteitages der KPdSU zur politischen Bewertung der Katastrophe im AKW Tschernobyl und des Fortschreitens der Beseitigung der Folgen“ vom 28. Dezember 1990, den das Sekretariat des ZK der KPdSU an den neuen Generalsekretär der ukrainischen KP, Volodymyr Ivaško, sandte. In diesem Geheimdokument heißt es: Die Unfallfolgen wirken sich nach wie vor auf die Geburtenrate und die Lebenserwartung aus. So ist in der Belarussischen Sowjetrepublik in den letzten vier Jahren die Geburtenrate um zehn Prozent gesunken, während gleichzeitig die Sterberate der Bevölkerung aufgrund bösartiger Tumore angestiegen ist. In den Gebieten Mahilaŭ und Homel’ hat sie innerhalb der letzten fünf Jahre sogar um über 19 Prozent zugenommen. Angesichts dessen, daß diese Zahlen dem ZK der KPdSU bekannt waren, sind die offiziellen Einschätzungen der Strahlendosen nichts als blanker Zynismus. Einige Jahre nach dem Unfall mußte selbst das Akademiemitglied Prof. Leonid Il’in – dessen Konzept „35 rem in 70 Jahren“ traurige Berühmtheit erlangte – zugeben, daß selbst wenn es gelingt, die Strahlendosis in 35 Jahren auf 7 rem zu senken, anstelle der 166 000 Menschen, deren Evakuierung zum jetzigen Zeitpunkt anvisiert ist, zehnmal so viele zu evakuieren wären. Es handelt sich dabei um die Umsiedlung von über anderthalb Millionen Menschen […] Die Gesellschaft hat das Risiko und den Nutzen einer solchen Aktion abzuwägen. Während ich seiner damaligen Rede zuhörte, überlegte ich, wer sie eigentlich hielt – ein Arzt, der jedes einzelne Leben achtet, oder ein Buchhalter, der mit Leben wie mit Dominosteinen hantiert: ein Leben hierhin, ein anderes dorthin, was macht das schon aus? Später mußte selbst er zugeben, daß 1 600 000 Kinder einer besorgniserregenden Strahlenbelastung ausgesetzt sind, so daß hinsichtlich des weiteren Vorgehens eine Entscheidung getroffen werden muß. Lüge Nr. 2 – über die Unbedenklichkeit der Lebensmittel Die geheimen „Rezepte“ des Politbüros für die Verwertung radioaktiv belasteten Fleisches und verseuchter Milch gehören zu den bemerkenswertesten Stellen des Kreml-Bestsellers über Tschernobyl. Geheim. Protokoll Nr. 32. 22. August 1986, Punkt 4. […] Zur Kenntnis gegeben wird die Mitteilung des Genossen V.S. Murachovskij, daß Empfehlungen und Maßnahmen hinsichtlich der agrarindustriellen Produktion in den in unterschiedlicher Höhe mit langlebigen Isotopen kontaminierten Gebieten ausgearbeitet worden sind. Den Weisen im Kreml kann schwerlich verborgen geblieben sein, daß die Kühe radioaktive Milch gaben – schließlich grasten sie auf Weiden, die mit einem Curie Cäsium-137 pro km2 „gedüngt“ waren. Im selben Protokoll, Punkt 10 heißt es: Es wird als zweckmäßig betrachtet, gelagertes und für den Verkauf im laufenden Jahr bestimmtes Fleisch mit einem erhöhten Gehalt an radioaktiven Stoffen in die staatlichen Reservebestände zu überführen. Streng geheim. Beschluß des Politbüros des ZK der KPdSU vom 8. Mai 1986. Mitschrift des Genossen V.S. Murachovskij […] Der Sekretär des ZK der KPdSU M.S. Gorbačev. […] Beim Schlachten von Rindern und Schweinen wurde festgestellt, daß sich durch das Abwaschen der Tiere mit Wasser und das Entfernen der Lymphknoten zum Verzehr geeignetes Fleisch gewinnen läßt. Geheim. Anhang zu Punkt 10 des Protokolls Nr. 32 […] Das Fleisch von Schlachtvieh aus den Gebieten, die von der radioaktiven Strahlung aus dem AKW Tschernobyl betroffen sind, enthält teilweise radioaktive Stoffe in Mengen, die die zulässigen Grenzwerte überschreiten. Gegenwärtig lagern in den Kühllagern der Fleischindustrie einer Reihe von Gebieten der Belarussischen und Ukrainischen SSR sowie der Rußländischen Föderation ungefähr 10 000 Tonnen radioaktiv kontaminierten Fleisches […]. Für den Zeitraum August bis Dezember dieses Jahres wird ein zusätzlicher Ausstoß von 30 000 Tonnen solchen Fleisches erwartet. Es folgt eine erschütternde Empfehlung: Um eine größere Konzentration von radioaktiven Stoffen im menschlichen Organismus infolge des Konsums kontaminierter Lebensmittel zu vermeiden, empfiehlt das Gesundheitsministerium der UdSSR eine maximale Verteilung des kontaminierten Fleisches über das ganze Land und die Verarbeitung dieses Fleisches in Wurstprodukten, Konserven und Halbfertigprodukten in einem Verhältnis von 1:10 zu normalem Fleisch. […] Für die Verwertung dieses Fleisches zum Zwecke des Verzehrs und für die Gewährleistung einer den Anforderungen des Gesundheitsministeriums der UdSSR entsprechenden Produktion, d.h. der Einhaltung seiner zehnfachen „Verdünnung“ mit nicht kontaminiertem Fleisch, ist seine Verarbeitung in den Fleischkombinaten in der Mehrzahl der Gebiete der Rußländischen Föderation (außer Moskau), Moldovas, der transkaukasischen Sowjetrepubliken, des Baltikums, Kazachstans und Zentralasiens unerläßlich. Der Vorsitzende der Ministeriums für Agrarindustrie [Gosagroprom] der UdSSR V.S. Murachovskij Die Praxis sah dann noch etwas anders aus. 2002 berichtete der ehemalige Mitarbeiter der landwirtschaftlichen Versorgungsstelle des ZK der KPdSU, A.P. Povaljaev, der Zeitung Spasenie über das tatsächliche Vorgehen: Das Fleisch des in Tschernobyl geschlachteten Viehs war ungenießbar, da der Gehalt an Cäsium-137 die nach den damaligen Vorschriften zulässigen Grenzwerte um das Vier- bis Fünffache überstieg. Wir verteilten es auf die Kühlhäuser und begannen mit der Lieferung von Portionen an die fleischverarbeitenden Kombinate mit der Anweisung, dieses Fleisch dem nicht kontaminierten Fleisch in einem Anteil von 20 Prozent beizumengen. Durch das allgemein angewandte Prinzip der „Verdünnung“ sollte eine zulässige Konzentration erreicht werden. Der ehemalige ZK-Wirtschaftsleiter „vergaß“ dabei ein nicht unwesentliches Detail zu erwähnen: Das Politbüro hatte angeordnet, das ganze Land – außer Moskau und Leningrad – mit diesem Fleisch zu versorgen. Ein weiterer Anhang des Protokolls Nr. 32 enthielt folgende Information: Seit 1. August gilt auf dem gesamten Gebiet der UdSSR für den Gehalt von radioaktiven Stoffen in der Milch ein zulässiger Grenzwert von 10-8 Curie pro Liter. […] Die Produktion aus den genannten Gebieten ist nicht für den Export bestimmt. Ist die Milch nicht „sauber“, so erhöht man einfach die zulässigen Werte, und schon wird aus kontaminierter Milch „saubere“. Aber für den Export ist diese Milch dann doch nicht geeignet – die radioaktiven „Nahrungsmittel“ sind lediglich für die eigene Bevölkerung bestimmt. Erst fünf Jahre nach dem Unfall und auf Anfragen von Abgeordneten leitete die Staatsanwaltschaft der UdSSR endlich ein Strafverfahren wegen „der Zurückhaltung von Informationen gegenüber der Bevölkerung“ mit der Folge einer „beträchtlichen Verstrahlung“ derselben sowie wegen des Vertriebs kontaminierter Produkte ein. Der Stellvertretende Generalstaatsanwalt der UdSSR V.I. Andreev gab auf meine Anfrage als Abgeordnete folgende Auskunft: Von 1986 bis einschließlich 1989 wurden in den genannten Gebieten 47 500 Tonnen Fleisch und zwei Millionen Tonnen Milch hergestellt, deren Kontaminierungsgrad die zulässigen Grenzwerte überschritt. Die genannten Umstände führten zu einer Kontaminierung der Lebensmittel mit radioaktiven Stoffen im ganzen Land und können sich negativ auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung auswirken. […] Die genannten Umstände gefährdeten ungefähr 75 Millionen Menschen […] und hatten eine erhöhte Sterblichkeit, ein verstärktes Auftreten von bösartigen Tumoren, Mißbildungen, Erb- und somatischen Erkrankungen sowie eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung zur Folge. […] Allein bei den 1,5 Millionen Menschen (darunter 160 000 Kinder unter 7 Jahren), die sich zum Zeitpunkt des Unfalls in dem am stärksten mit Jod-131 kontaminierten Gebiet aufhielten, betrug die Strahlendosis in der Schilddrüse bei 87 Prozent der Erwachsenen und bei 48 Prozent der Kinder 30 rem, bei 11 bzw. 35 Prozent zwischen 30 und 100 rem und bei zwei Prozent der Erwachsenen und 17 Prozent der Kinder über 100 rem. Doch dann zerfiel die Sowjetunion. Es blieb weder die Staatsanwaltschaft der UdSSR noch der Generalstaatsanwalt. Während selbst in Bulgarien ein Gerichtsverfahren gegen diejenigen geführt wurde, die Informationen über die Strahlenbelastung verheimlicht hatten, wurden dort, wo die globale Katastrophe ihren Ausgang genommen hatte, die Verantwortlichen für das Desaster von Tschernobyl nicht zur Rechenschaft gezogen – nicht solange die Partei die alleinige Macht hatte, die dazu aufrief, „die Propagandamaßnahmen zur Aufdeckung der verlogenen Lügenmärchen der bourgeoisen Medien und der Geheimdienste über die Ereignisse in Tschernobyl zu verstärken“, und auch nicht, als die Demokratie Einzug gehalten hatte: Die Staatsanwaltschaften der Nachfolgestaaten der UdSSR bewahren die Grabesstille. Lüge Nr. 3 – über die Pressemitteilungen Fast 20 Jahre nach der Katastrophe fiel mir ein einzigartiges Dokument mit dem Vermerk „Streng geheim. (Arbeitsmitschrift.) Einzelexemplar“ über die Sitzung des Politbüros des ZK der KPdSU vom 29. April 1986 in die Hände. Möglicherweise war dies die erste oder eine der ersten Sitzungen, auf denen der Atomunfall in Tschernobyl besprochen wurde – am dritten Tag nach der Explosion. Die Sitzung wurde von Michail Gorbačev persönlich geleitet. Alle Mitglieder des Politbüros waren anwesend. Es hat den Anschein, als sei hier zum ersten Mal darüber entschieden worden, welche Informationen über den Unfall innerhalb der Sowjetunion und ins Ausland weitergegeben werden sollten. Nach dem Bericht von Politbüromitglied V.I. Dolgich über den „leuchtenden Krater“ des zerstörten Reaktors, über „das Abwerfen von Säcken aus den Hubschraubern“ („zu diesem Zwecke wurden 360 Menschen und zusätzlich 160 Freiwillige mobilisiert, aber es gab Arbeitsverweigerungen“) und über die drei „Wolkenzungen“ – die „westliche, nördliche und südliche“ – wurde die Informationspolitik diskutiert. Gorbačev erklärte: „Je ehrlicher wir uns verhalten, desto besser“. Aber kurz darauf sagte er: Wenn wir die Öffentlichkeit informieren, sollten wir sagen, daß das Kraftwerk gerade renoviert wurde, damit kein schlechtes Licht auf unsere Ausrüstung geworfen wird. Wo bleiben hier Perestrojka, Glasnost’ und Neues Denken? Beim Tschernobyl-Unfall kamen sie jedenfalls nicht zum Tragen. Diese Informationspolitik spielte eine erhebliche katalytische Rolle beim Zerfall des kommunistischen Imperiums. Anhand der Mitschrift des Protokolls läßt sich das Schachern der Politbüromitglieder deutlich nachvollziehen. Sie diskutierten darüber, wie man die Welt und das eigene Volk am besten betrügen konnte. A.A. Gromyko: Es ist unabdingbar, […] die Bruderstaaten mit mehr Informationen zu versorgen und auch Washington und London bestimmte Informationen zukommen zu lassen. Auch die sowjetischen Botschafter hätten mit entsprechenden Erläuterungen versorgt werden müssen. V.I. Vorotnokiv: Und was soll mit Moskau geschehen? M.S. Gorbačev: Vorläufig muß noch nichts unternommen werden. Boris El’cin beobachtet die Lage. G.A. Aliev: Aber vielleicht sollte man unser Volk informieren? E.K. Ligačev: Man sollte wohl besser keine Pressekonferenz einberufen. M.S. Gorbačev: Es ist wahrscheinlich zweckmäßig, eine Information über den Gang der Liquidationsarbeiten herauszugeben. A.N. Jakovlev: Die ausländischen Korrespondenten werden bestimmt nach Gerüchten suchen. […] N.I. Ryžkov: Wir sollten drei Mitteilungen verfassen: eine für unsere Leute, eine für die sozialistischen Staaten und eine für Europa, die USA und Kanada. Nach Polen könnte man jemanden schicken. M.V. Zimjanin: Wichtig ist anzumerken, daß es keine atomare Explosion gegeben hat, sondern lediglich einen Austritt von Strahlung infolge eines Unfalls. V.I. Vorotnikov: Wir könnten sagen, daß die Abdichtung beim Unfall zerstört wurde. A.F. Dobronin: Richtig. Reagan hat doch bestimmt schon Fotos vor sich liegen. M.S. Gorbačev: […] Sind alle mit den vorgeschlagenen Maßnahmen einverstanden? Mitglieder des Politbüros: Einverstanden. M.S. Gorbačev: Der Beschluß ist angenommen. Die Stimmung bei dieser Politbürositzung und ihre Beschlüsse spiegelten sich deutlich in der weiteren Arbeit des Tschernobyl-Gremiums des ZK wider. Die Presse wurde nicht zu ihren Sitzungen zugelassen. Ein einziges Mal, am 26. Mai 1986 (Protokoll Nr. 18), wurden die Redakteure der landesweiten Moskauer Zeitungen eingeladen. Dort wurde ihnen folgende Anweisung erteilt: Das Hauptaugenmerk ist auf die Maßnahmen zu richten, die das ZK der KPdSU und die Regierung zur Gewährleistung normaler Arbeits- und Lebensbedingungen der evakuierten Bevölkerung sowie zur Beseitigung der Unfallfolgen ergreifen. Es sollte ausführlich auf die aktive Beteiligung der Werktätigen an der Umsetzung der genannten Maßnahmen eingegangen werden. Fast auf jeder Sitzung der Gruppe wurde über irgendeine Pressemitteilung für die Printmedien, das Fernsehen oder eine Pressekonferenz diskutiert. Jeder Text wurde per Abstimmung bestätigt und ein konkretes Veröffentlichungsdatum festgelegt. Geheim. Protokoll Nr. 1. 29. April 1986. […] Zum Thema Regierungsmitteilungen. Die für die Veröffentlichung in der Presse bestimmte Regierungsmitteilung unterliegt der Genehmigungspflicht. Dasselbe gilt für den Text der Mitteilung an die Staatsführungen einer Reihe von kapitalistischen Staaten über den Unfall im AKW Tschernobyl und Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen sowie für den Text für die Staatsführungen der sozialistischen Staaten über den Stand der Liquidationsarbeiten im AKW Tschernobyl. Am selben Tag wurde dieselbe Frage im Politbüro des ZK der KPdSU diskutiert. Dabei wurde u.a. beschlossen, einen Bericht über den Verlauf der Liquidationsarbeiten im AKW Tschernobyl an die Bevölkerung unseres Landes, an die Staatsführung der Bruderparteien in den sozialistischen Staaten sowie an die Staatsoberhäupter und Regierungschefs der anderen europäischen Staaten, der USA und Kanadas vorzubereiten (Texte sind beigefügt). Es geschah so, wie es Regierungschef Nikolaj Ryžkov auf der Politbürositzung zum Thema Tschernobyl vorgeschlagen hatte. Die eigene Bevölkerung erhielt eine Information – oder vielmehr Desinformation –, die Brüder im sozialistischen Denken eine zweite und die „Kapitalisten“ eine dritte Variante. Einer der Vorschläge enthält sogar konkrete Anweisungen: An die sowjetischen Botschafter in Sofia, Budapest, Berlin, Warschau, Bukarest, Prag, Havanna und Belgrad. Dem Genossen Živkov (Kádár, Honecker, Jaruzelski, Ceauşescu, Husák, Castro, Žarković) oder ihren Stellvertretern ist dringend ein Besuch abzustatten und […] folgendes mitzuteilen: […]. Erläutern Sie, daß die Staatsführungen der USA und einiger westeuropäischer Staaten analoge Informationen erhalten. Ergänzen Sie, daß unseren Freunden bei Bedarf zusätzliche Informationen weitergeleitet werden. Eine interessante Abstufung – „zusätzliche Informationen“ werden „unseren Freunden weitergeleitet“. Und was war mit denen, die keine Freunde waren? Geheim. Protokoll Nr. 3. 1. Mai 1986. […] In die an Tschernobyl angrenzenden Gebiete ist eine Gruppe sowjetischer Korrespondenten mit dem Auftrag zu entsenden, Material für Presse und Fernsehen vorzubereiten, das als Beweis für die Rückkehr zur Normalität in diesen Gebieten dienen soll. Geheim. Protokoll Nr. 9. 8. Mai 1986 […] 4. Über den Fernsehauftritt der Genossen A.I. Vorob’ev und E.E. Gogin. Angesichts der Verbesserung der Lage beim AKW Tschernobyl ist es zweckmäßig, den Auftritt zu unterlassen. Der Izvestija-Journalist N. Matukovskij aus Belarus startete einen Versuch, die Staatsführung zu zwingen, der Notlage der Bevölkerung in den radioaktiv verseuchten Gebieten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Sein Schreiben ist den geheimen Protokollen beigefügt. Geheim. An die Fernschreiberinnen. Dieses Telegramm darf niemandem außer dem Chefredakteur gezeigt werden. Die Kopie ist zu vernichten. […] Information. Ich gebe Ihnen zur Kenntnis, daß die Strahlenbelastung in Belarus deutlich zugenommen hat. In vielen Kreisen [rajon] des Gebiets Mogilev wurde eine radioaktive Verseuchung festgestellt, die deutlich über der in den Kreisen liegt, über die wir berichtet haben. Nach den heutigen medizinischen Kenntnissen ist der Verbleib der Menschen in diesen Kreisen mit lebensbedrohlichen Risiken verbunden. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß unsere Genossen die Orientierung verloren haben und nicht wissen, was sie unternehmen sollen, um so mehr da die Moskauer Instanzen nicht glauben wollen, was geschehen ist […] Ich teile Ihnen dies per Telex mit, da uns jegliches Telefonat zu diesem Thema streng untersagt wurde. 8. Juli 1986 N. Matukovskij Hier nun ein Beleg dafür, wie sorgfältig Pressekonferenzen für sowjetische und ausländische Journalisten vorbereitet wurden: Geheim. 4. Juni 1986 […] Anhang zum Protokoll Nr. 21. Direktiven für die Erläuterung der wichtigsten Fragen auf der Pressekonferenz, die die Ursachen und den Verlauf der Beseitigung der Folgen des Unfalls im vierten Block des AKW Tschernobyl betreffen […] 2. Bei der Erläuterung des Verlaufs der Liquidationsarbeiten im AKW Tschernobyl ist die erfolgreiche Umsetzung großangelegter technischer und organisatorischer Maßnahmen zur Unfallfolgenbeseitigung darzulegen. […] 4. Es ist auf die Unhaltbarkeit der Vorwürfe und Einschätzungen einzelner öffentlicher Persönlichkeiten wie auch der Presse in einer Reihe kapitalistischer Staaten hinzuweisen, die von einem beträchtlichen ökologischen und materiellen Schaden durch die Verbreitung geringer Mengen radioaktiver Stoffe durch die Luftströmung aus der Zone um das AKW Tschernobyl ausgehen. Daraus folgte zwangsläufig der Entschluß, die Propagandamaßnahmen zur Aufdeckung der verlogenen Lügenmärchen der bourgeoisen Medien und der Spezialdienste über die Ereignisse in Tschernobyl zu verstärken. Diese Anordnung aus einem geheimen Zirkular des ZK der KPdSU vom 22. Mai 1986 geistert in unterschiedlichen Fassungen in nachfolgenden Dokumenten herum. Irgendwie mußte ja schließlich mit der Strahlung verfahren werden. Ein Beispiel findet sich in einem geheimen Schreiben des Ersten Sekretärs der KP der Ukraine, Volodymyr Ščerbic’kyj, an den Kreml: Die öffentliche Meinung wird aufmerksam beobachtet. Es findet eine regelmäßige Information des Parteiaktivs und der Bevölkerung statt, die Lügengeschichten der bourgeoisen Propaganda und unterschiedlichste Gerüchte werden aufgedeckt. Die Liste der Belege für den Betrug ließe sich endlos fortsetzen – so betrifft Lüge Nr. 4 die Anlage der neuen Stadt Slavutič auf einem „Zäsiumfleck“, Lüge Nr. 5 die Rede von den „sichersten Reaktoren der Welt“. Und dieser Betrug ist von den Herren des Kreml selbst in Geheimprotokollen, Mitschriften, Anhängen und Briefwechseln minutiös dokumentiert worden – in der Gewißheit, daß davon niemals irgend jemand erfahren würde. Die Geheimdokumente bestätigen eine alte Weisheit: Zur Selbsterhaltung erzeugt ein totalitäres System notwendigerweise immer aufs Neue das Böse und muß dieses ebenso zwangsläufig wieder vertuschen. Nach den geheimen Erschießungen der Kinder im Keller des Ipat’jev-Hauses in Ekaterinburg, deren „Schuld“ einzig und allein darin bestand, daß sie in eine Zarenfamilie hineingeboren worden waren, wurden Millionen von uns ohne Gerichts- und Ermittlungsverfahren erschossen, in Konzentrationslager und psychiatrische Anstalten gesteckt. Wir wurden auf der Demonstration in Novočerkassk getötet, als „schwarze Tulpen“ nach Afghanistan geschickt, in Tbilissi mit Nervengas vergiftet, in Baku und Vilnius von Panzern überrollt. Tschernobyl verkörpert das langsame Sterben im radioaktiven Abfall, das vorläufige traurige Ende der langen Kette von Verbrechen, die das System am eigenen Volk beging, das es jahrzehntelang systematisch auszurotten versuchte. Die Gorgone Medusa, die ihre eigenen Kinder fraß, ließ sich nur besiegen, indem man ihr den Kopf abschlug. Doch ihr Schwanz zuckt noch immer. Aus dem Russischen von Andrea Schindel, Berlin
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