Titelbild Osteuropa 6/2006

Aus Osteuropa 6/2006

Editorial
Mythos Europa

Andrea Huterer, Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 6/2006, S. 5–6)

Volltext

Am Anfang war der Mythos. Und der Mythos handelt von Zeus, von Sex, Entführung und Gewalt. Was Roland Topors Vexierbild auf der Titelseite zeigt, ist der Ursprung Europas. In einen Stier verwandelt raubt der Göttervater Zeus die phönizische Königstochter Europa. Was im Mythos anklingt, hat eine beklemmende Aktualität gewonnen. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind viele Schranken gefallen, die den Austausch von Ideen und Gütern verhinderten, die Reisefreiheit und Freizügigkeit der Menschen zwischen Ost und West unmöglich machten. Nun sind Menschen, Ideen und Güter in Bewegung. Die neue Freiheit hat auch Schattenseiten. Zu den augenfälligsten gehört ein transnationaler west-östlicher Prostitutionsmarkt. Und wieder ist von Sex, Entführung und Gewalt die Rede. Die Rollen auf diesem Markt sind klar verteilt: Frauen aus Ostmittel- und Osteuropa bieten -- gemeinsam mit Frauen aus Südostasien, Südamerika und Afrika -- überall in Westeuropa sowie entlang der innereuropäischen Wohlstandsgrenze Sexdienste an; die meisten ihrer männlichen Kunden kommen aus Westeuropa. Weniger klar ist, wie dieses Phänomen zu bewerten ist und welche Ursachen es hat. Prostitution, Migration und Frauenhandel finden im Graubereich von Verdrängung, Tabuisierung, Schattenwirtschaft und Kriminalität statt. Deshalb sind verläßliche Zahlen über ihr Ausmaß nicht zu haben. Vor der Fußball-Weltmeisterschaft war von 40 000 Frauen die Rede, die extra zu den Spielen zusätzlich aus Osteuropa nach Deutschland hätten gelockt und verschleppt werden sollen, um sie zur Prostitution zu zwingen. Kaum war das erste Spiel angepfiffen, stellte sich heraus, daß davon keine Rede sein konnte. Nun ist nicht einmal mehr zu ermitteln, wie die Zahl in Umlauf kam. Wo die Fakten labil und die Daten instabil sind, ist es kein Wunder, daß die Debatte über Prostitution, Migration und Frauenhandel stärker von Weltbildern als von nüchterner Analyse geprägt ist. Vornehmste Aufgabe einer Zeitschrift wie Osteuropa, die wissenschaftliche Analyse mit der Verpflichtung zur Aufklärung verbindet, ist es, solche Weltbilder kritisch zu durchleuchten. Dreh- und Angelpunkt der Debatte über Sexarbeit und Frauenhandel ist die Frage, ob Prostitution freiwillig sein kann. Handelt es sich um eine moderne Form der Sklaverei, bei der skrupellose Menschenhändler ahnungslose Frauen aus Osteuropa mit falschen Versprechungen in ihre Fänge locken, um sie über die Grenzen nach Westeuropa zu schleusen und mit physischer Gewalt sowie ökonomischem Zwang in der Prostitution auszubeuten? Dies ist die Sicht der Abolitionisten, denen Prostitution per se als Ausbeutung der Frau gilt und die daher fordern, die Vermittler oder gar die Kunden von Prostituierten zu bestrafen, um so Sexsklaverei und Menschenhandel auszurotten. Oder haben wir es mit einer Form der Arbeitsmigration zu tun, die von dem sozialen Niedergang in einigen osteuropäischen Staaten und dem Wohlstandsgefälle zwischen Osteuropa und Westeuropa angefeuert wird. Anhänger dieser Haltung erhoffen sich von der gesellschaftlichen Anerkennung und staatlichen Regulierung der Prostitution eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Prostituierten. Beide Positionen sind, wie die Beiträge zu diesem Heft zeigen, verkürzt. Prostitution und Migration können freiwillig und selbstbestimmt, doch gleichzeitig auch mit Gewalt und Ausbeutung verbunden sein. Freiwilligkeit und Zwang hängen in den meisten Fällen zusammen. Hat eine Frau aus der Ukraine oder Rußland die Entscheidung getroffen, in Westeuropa in der Sexindustrie zu arbeiten, bedeutet dies keineswegs, daß sie nicht dennoch ausgebeutet werden kann. Ebenso weit wie die Beurteilung des ost-westlichen Prostitutionsmarkts klaffen die Konzepte zur Verbesserung der Situation der Frauen auseinander. Ist der Menschenhandel zu beenden, indem die Strafgesetze verschärft, organisierte Kriminalität bekämpft, Schleuserbanden und Zuhälterringe zerschlagen und die Grenzen besser kontrolliert werden? Oder verstärkt die polizeiliche Repression nur Gewalt und Ausbeutung, da sie weder die Nachfrage noch das Angebot austrocknen kann, die Arbeitsmigrantinnen im Prostitutionsgewerbe aber in ein illegales und damit jeglicher Kontrolle entzogenes Milieu abdrängt, um sie nach ihrer "Befreiung" rasch abzuschieben? Sind also vielmehr eine Legalisierung der Prostitutionsmigration und eine aktive Sozialarbeit Mittel zur Verbesserung der Lage der Frauen? Vieles spricht dafür, daß auch dies keine Alternativen sind. Der kriminologische Ansatz, wie ihn auch viele Frauenrechtlerinnen vertreten, läuft Gefahr, jede Prostitution, ja jede Migration als Menschenhandel zu definieren. Eine Politik, welche die Frauen in Osteuropa und anderen Weltregionen im Auge hat, muß, wie Julia O'Connell Davidson argumentiert, sich weniger um die Bekämpfung des "Menschenhandels" als um die Reduzierung der Armut in den Herkunftsländern der Migrantinnen und Migranten kümmern. Bei der Prostitutionsmigration von Ost nach West geht es nicht nur um Würde, Menschenrechte oder Wirtschaft. Der Diskurs über Prostitution hat auch spannungsgeladene symbolische und politische Dimensionen. Der Ort, an den die westeuropäischen Gesellschaften die Prostitution verweisen, ähnelt frappierend dem Rang, den "Osteuropa" im westeuropäischen Denken einnimmt. "Osteuropa" und die Prostitution stehen, wie Christiane Howe es nennt, für "das Verbotene, das Verruchte, das Ausgelagerte, das Andere, welches Sehnsüchte, geheime Wünsche, ungewollte Phantasien und Ängste auf sich zieht." "Osteuropa" steht für Drogen-, Waffen-, Frauenhandel; für illegale Milliardengeschäfte, Geldwäsche und Korruption; für extreme Armut und extremen Reichtum; für Geld, Sex und Gewalt. Es ist ein Dorado für schwere Jungs und leichte Mädchen. Darüber hinaus hat Prostitution, wie der "Fall Friedman" zeigte, immer auch enorme Sprengkraft. Von politischer Bedeutung ist nicht der jähe Absturz des Politikers und Fernsehmoderators, nachdem öffentlich geworden war, daß er Sex bei ukrainischen (Zwangs?)prostituierten gekauft hatte. Entscheidend ist, daß -- wie einige Monate später die sogenannte Visa-Affäre zeigte -- Zuhälter und Prostituierte ein integraler Bestandteil des Ukrainebildes und damit auch des Osteuropabildes in der deutschen Öffentlichkeit sind. Diese damit verbundenen Bedrohungsvorstellungen sind stets mobilisierbar und können das in einer demokratischen Revolution erworbene Image rasch verderben. Grund genug, diesem Zusammenspiel von Migration, Prostitution, Geschlechterverhältnissen und Machtbeziehungen historisch, gesellschaftlich, sozial, kulturell und politisch auf den Grund zu gehen.