Aufbruch durch Musik
Kulturelle Gegenelite in Belarus
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Abstract
Für die Demokratisierung in Belarus gibt es einen Partner, der bislang zu wenig zur Kenntnis genommen wurde. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich eine kulturelle Opposition aus jungen Menschen gebildet. Deren Kreativität und Aktivitäten sind ein zentraler Motor für demokratische Veränderungen. Das haben die Proteste nach den Präsidentschaftswahlen im März 2006 gezeigt. Demokratieförderung aus dem Westen darf nicht nur auf die Oppositionsparteien blicken. Es gilt, diese neue informelle Opposition stärker zu berücksichtigen und ihr ein Forum in Europa zu bieten. In diesem Milieu entsteht eine junge Gegenelite, die das Belarus von morgen formen wird.
(Osteuropa 1/2007, S. 4956)
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Europa·habe in Belarus versagt. Das konstatiert Hans-Georg Wieck in Osteuropa und stellt den europäischen Demokratisierungsbemühungen in Belarus ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Er kritisiert, daß die europäische Staatengemeinschaft, die deutsche Regierung und politische Stiftungen bis dato vor allem auf einen Dialog mit der autoritären Regierung des Landes setzten, um so den Weg für demokratische Reformen zu ebnen. Dieser Weg sei gescheitert. Kaum war dieses Verdikt öffentlich, geriet das IX. Minsk Forum, eine von der Deutsch-Belarussischen Gesellschaft, der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und der deutschen Botschaft in Minsk veranstaltete Konferenz, die diesen Dialog nach eigenem Bekunden zu unterstützen versucht, Anfang November 2006 in die Schlagzeilen. Die belarussische Regierung verweigerte den Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) und Georg Schirmbeck (CDU), einigen EU-Parlamentariern sowie zwei deutschen Journalisten die Einreise und damit die Teilnahme an dieser Konferenz. Dialog, so sind diese Einreiseverbote wohl zu deuten, ist nur möglich, wenn die belarussische Regierung die Bedingungen und Spielregeln bestimmen darf. Einen groben Fehler sieht Wieck deshalb darin, daß Europa es neben seinen Bemühungen um einen Dialog verpaßt habe, eine funktionale Strategie zu entwickeln, die in der Lage wäre, die demokratische Alternative in Belarus erfolgreich zu unterstützen und zu fördern. Er betont, daß es nicht reiche, Sanktionen gegen die belarussische Regierung zu beschließen und sich mit der gesellschaftlichen und politischen Opposition in Belarus zu solidarisieren – wie es ja vor allem seit den März-Protesten nach den Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr geschehen ist. Statt dessen sei es nötig, die Demokratie in Belarus „proaktiv“ zu unterstützen. Wieck fordert deshalb eine stärkere Kooperation mit der Demokratiebewegung in Belarus. Als Grundlage für diese Forderung sieht er die 1990 verfaßten KSZE-Dokumente, mit denen sich auch die osteuropäischen Staaten zu einer demokratischen Ordnung und zu den Menschenrechten bekannten. Die Kritik an der Tatenlosigkeit und der Uneinigkeit der EU gegenüber Belarus ist nicht neu. Es ist tragisch, daß sie seit Jahren immer wieder geäußert wird, ohne daß sich Nennenswertes ändert. Punktuelle Unterstützung und Projekte gab es und gibt es immer wieder. Bessere, weil langfristige Maßnahmen sind die relativ neue Förderung einiger Medienprojekte wie das belarussische Programm der Deutschen Welle, um den Belarussen den Zugang zu kritischen Informationen zu ermöglichen. Vielleicht aber ist das bürokratische, schwer manövrierbare Schiff der EU einer zentralisierten Präsidialverwaltung wie der belarussischen, die schnell entscheiden und statt nur zu reagieren vor allem agieren kann, nicht gewachsen? Vielleicht verhält sich die EU gegenüber Belarus so reserviert, weil sie Rußland nicht verärgern will? Vielleicht will sie durch ein zu starkes Engagement keine falschen Beitrittserwartungen wecken? Sicher ist, daß die EU, wenn sie sich tatsächlich als die gern beschworene Wertegemeinschaft – und eben nicht nur als Einheit mit Wirtschaftsinteressen – versteht und wenn sie als solche von der internationalen Staatengemeinschaft ernst genommen werden will, selbstbewußt Strategien und Konzepte entwickeln muß, um ihre Werte wie Menschenrechte und Demokratie konsequent einzufordern und zu fördern. Belarus könnte in dieser Hinsicht zum Versuchsfeld werden und zu einem Prüfstein dafür, wie stark die EU an ihre eigenen Werte glaubt. Bei einem Erfolg würde das die EU nach innen und außen stärken und festigen. Vor allem die neuen ostmitteleuropäischen EU-Mitglieder wie die baltischen Länder, hier insbesondere der Nachbar Litauen, sowie Polen sollten stärker in die Strategieentwicklung einbezogen werden. Denn sie sind historisch mit Belarus eng verbunden. Außerdem sind sie aufgrund ihrer eigenen Geschichte für die Problematik der Demokratisierung in Belarus sensibilisiert. Heute jedenfalls müssen wir feststellen: Eine Strategie gegenüber Belarus gibt es nicht. Wieck ruht sich lobenswerterweise nicht auf dieser alten Erkenntnis und Kritik aus, sondern schlägt in seinem Aufsatz richtige und gute Maßnahmen vor, um die gesellschaftliche und politische Opposition in Belarus nachhaltig und erfolgreich zu unterstützen. In der Diskussion über die Unterstützung der belarussischen Opposition ist ein Aspekt bisher kaum berücksichtigt worden: Neben der parteipolitischen Opposition und den traditionellen NGOs sind neue potentielle Träger einer solchen Demokratisierung entstanden. Kultur ist Politik Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich in Belarus eine starke Underground-Bewegung entwickelt, die vor allem von der lebendigen Musikszene des Landes getragen wird und zu einer Basis für die gesellschaftliche Opposition geworden ist. Dabei handelt es sich nicht einfach um ein kulturelles Phänomen, das erstaunliche Musiker und Rock-Bands wie Ulis, N.R.M. oder neuerdings auch Rapper wie Krou hervorgebracht hat, sondern um ein Sammelbecken, in dem die informelle-kulturelle Opposition entsteht. Sie ist zwar Teil der gesellschaftlichen Opposition, unterscheidet sich aber deutlich von ihr durch ihren jugendlichen Mut, ihren Aktionismus und ihre Kreativität. Sie ist stark fragmentiert, und ihre politischen Ansichten sind äußerst heterogen, zeitweise auch diffus, aber sie hat sich unter den Liedern der Szene und der Losung des „Anti-Lukašismus“ zusammengefunden. Ohne diese Szene hätte es die erfolgreichen Proteste nach den Präsidentschaftswahlen im März 2006 nicht gegeben, als sich bis zu 20 000 Menschen in Minsk versammelten. Vielen Beobachtern sind die Bilder der jungen Menschen noch vor Augen, die fünf Tage auf dem Oktober-Platz in Minsk in einer Zeltstadt ausharrten, ebenso die gewaltsame Auflösung des Protestzuges am 25. März 2006 durch die Staatsmacht. Neben der Ablehnung des Lukašėnka-Regimes kann man die politischen Ideale der jungen Oppositionsszene grob mit den Schlagworten „Demokratie“, „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ bezeichnen. Ihre symbolischen Farben sind Weiß-Rot-Weiß – die Farben der Flagge, die bis 1995 belarussische Staatsfahne war und die dann vor allem durch die national-konservative Partei BNF als Farben der Opposition etabliert wurden. Die Szene ist größtenteils gar nicht oder nur lose organisiert, wie etwa der Internet-Think Tank Tretij Put’ (Der Dritte Weg). Ihre Sprache ist weitgehend das Belarussische, das sich als Sprache der Abgrenzung gegen den Lukašėnka-Staat und damit als Sprache des Protests und der Opposition etabliert hat. Was will diese Szene? Diese Jugendlichen haben selten klare politische Vorstellungen, die sich klassisch als „links“ oder „rechts“ einstufen lassen würden. Es geht ihnen vor allem darum, ein selbstbestimmtes Leben, ein Leben ihrer Wahl, führen zu können, ihre Sprache zu sprechen und ihre Musik hören zu können. Diese Möglichkeiten werden ihnen heute durch einen Staat, der immer stärker versucht, das gesellschaftliche Leben zu kontrollieren, nahezu ganz verwehrt. Ihre kraftvolle Kreativität lebt die Szene vor allem im Internet auf einschlägigen Seiten aus. Anders als die Parteien, die auf eine programmatische Politik setzen, versuchen die Mitglieder der Underground-Szene, Informationen durch Musik, Literatur, Satire, Hauskonzerte zugänglich und durch sogenannte Flash-Mobs, spontane Kurzdemos, in der Öffentlichkeit auf Mißstände aufmerksam zu machen. Nach der Ankündigung im April 2006, daß das Erscheinen der Zeitung Naša Niva eingestellt werden solle, marschierten etwa zwei Dutzend Jugendliche – demonstrativ Naša Niva lesend – im Zentrum von Minsk über den „Prospekt der Unabhängigkeit“. Diese Art des Protests lehnt sich in seiner Guerilla-Taktik bewußt an die Tradition der Partisanen-Taktik an, die es ihm ermöglicht hat, neue Kommunikationsräume für Kultur und letzten Endes auch für die Politik zu besetzen und damit ein neues Publikum zu erobern. Dies bestätigt etwa der Gründer der Belarussisch-Musikalischen Alternative (BMA), Vital Supranovič. Auf die Frage, ob der alternative Rock geholfen hat, eine Identifikation mit der belarussischen Kultur und mit demokratischen Werten zu entwickeln, antwortete er: Im Prinzip haben wir das erreicht. Wenn wir uns mit jungen Leuten mit demokratischen Ansichten unterhalten, wird uns klar, daß sie unsere CDs, Kassetten hören und daß sie unsere Bands sehr gut kennen. Und das Wichtigste: Sie identifizieren sich mit einer modernen nationalen Kultur, die nicht chauvinistisch ist, sondern wie etwa im Baltikum als Modernisierungspool fungiert. Früher haben wir dieses Ziel vielleicht nicht unmittelbar gesehen, aber jetzt wird uns klar: Alles, was wir tun, zeigt sich früher oder später als ein Einfluß auf die Formierung eines neuen kulturellen Raumes. Eines belarussischen Kulturraumes, der in unserem Land von einem politischen Regime methodisch vernichtet wird. Nischen der Freiheit Damit sind Räume entstanden, die der parteipolitischen Opposition häufig verschlossen sind. In diesen Räumen agieren Menschen, die sich nicht per se als Anhänger der parteipolitischen Opposition begreifen, aber auch nicht mit Lukašėnka sympathisieren. Der Staat hat diese „Nischen der Freiheit“ und deren Macher längst als Problem für den eigenen Kontroll- und Machtverlust identifiziert. Aber trotz der verstärkten Repressionen und der Gefahren, aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden, ist die Szene in den vergangenen fünf Jahren gewachsen. Sicher sind diese Jugendlichen immer noch in der Minderheit, aber ihre Zahl und ihr Wille zum Protest und zur Veränderung sind größer und stärker als weithin bekannt. Wie wichtig diese Szene für die gesellschaftliche Opposition ist, beweist das Verhalten der belarussischen Behörden. Denn seit zwei, drei Jahren traktiert der Staatsapparat viele Bands mit Repressionen wie Auftrittsverboten und Spielverboten in den Radiostationen. Die Studentenzeitschrift Studumka, die sich als kreatives Forum der Szene etabliert hatte, wurde im November 2005 verboten. Studenten wurden exmatrikuliert. Statt dessen versucht das Regime selbst, die Themen Belarus und belarussische Kultur für sich zu besetzen, um sie der Opposition zu entreißen. So wurde Anfang 2005 eine Radioquote eingeführt, nach der 75 Prozent der im Radio gespielten Musik belarussischer Provenienz sein müssen. Ausgeschlossen waren selbstverständlich alle Bands, die auf dem inoffiziellen Index der Präsidialverwaltung stehen. Zudem initiierte die Präsidialverwaltung im Zuge des diesjährigen Wahlkampfes die „Za Belarus-/Für Belarus“-Kampagne, die mit Konzerten und Veranstaltungen durch das Land zog. Diese wurde im Internet zur satirischen Zielscheibe der informellen Opposition. Außerdem versucht der belarussische Staat seit einiger Zeit, die Jugend stärker für sich zu vereinnahmen. So lockt der staatliche Studentenverband B.R.S.M. mit Stipendien oder Wohnheimplätzen. Europa, verkörpert durch die EU, hat eine starke Anziehungskraft auf diese Jugendlichen. Die entsprechenden Symbole, die Jugendliche auf Demonstrationen zur Schau tragen, beweisen dies. Manche haben im Westen, in Prag, Warschau oder Vilnius studiert oder studieren noch im Ausland und versuchen dort, oppositionelle Arbeit zu leisten. Den Akteuren dieser Szene ist allerdings auch gemeinsam, daß sie die parteipolitische Opposition in ihrem Land mit großer Skepsis betrachten. Parteien haben bekanntlich einen schlechten Ruf in Belarus. Noch beeinflußt vom sowjetischen Verständnis des Einparteisystems gelten sie nicht als der Ort demokratischer Meinungsbildung. In der belarussischen Öffentlichkeit gilt die Opposition als weltfremd, zerstritten und korrupt. Man traut ihr bis heute nicht zu, in Belarus eine Veränderung zur Demokratie herbeiführen zu können. Wie der EU vorgeworfen wird, sie habe keine Strategie, um die Demokratie in Belarus zu fördern, so wird der Opposition vorgeworfen, sie habe keine Strategie, um die Demokratie im Land durchzusetzen. Das macht es Lukašėnka leicht, sich als alternativloser Herrscher zu präsentieren. Die informelle-kulturelle Oppositionsszene ist also nicht nur aus der Ablehnung des autoritären Lukašėnka-Staates entstanden, sondern speist sich auch aus dem Widerwillen vieler jungen Menschen, sich der „herkömmlichen“ Parteiopposition anzuschließen. Überschneidungen gibt es dennoch. Das zeigt das Beispiel der Malady Front (Junge Front), die Jugendorganisation der national-konservativen Partei BNF. Sie soll rund 3000 Mitglieder im ganzen Land haben. Ihre Mitglieder zeichnen sich durch besonderen Aktionismus aus. Erst im November 2006 wurde einer ihrer bekanntesten Aktivisten, Zmicer Daškevič, zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Zum Mitmachen bewegt junge Leute aber häufig nicht die vorgegebene politische Linie, sondern der Umstand, bei der Malady Front überhaupt auf Gleichgesinnte zu treffen, welche die Regeln des Lukašėnka-Staates nicht länger hinnehmen wollen. Gerade nach den unerwartet heftigen Protesten in Minsk nach den Präsidentschaftswahlen 2006 ist die Kritik an der parteipolitischen Opposition wieder gewachsen. Ihr wird vor allem von Mitgliedern der jungen, informellen, kulturellen Opposition vorgeworfen, daß sie die Gunst der Stunde nicht genutzt habe, um sich als starke Kraft zu konsolidieren. In einem Interview mit DW-Radio sagte beispielsweise eine 21jährige Studentin: Die Opposition hatte so eine große Chance. Doch anstatt sie zu nutzen, war sie mehr mit sich selbst und ihrer Strategie beschäftigt […] Man hat uns einfach unserem Schicksal überlassen. Und der belarussische Politologe Aljaksandr Feduta kommentiert: Die Opposition in Belarus geht wie bei einem Feueralarm vor. Wenn sie Feuer erkennt, fängt sie an, es zu löschen. Lukašėnka hingegen handelt immer nach einem strikten Plan und weiß genau, was er morgen macht. Gerade deswegen gelingt es ihm immer wieder, die Opposition zu besiegen. Doch hatten die März-Proteste den Erfolg, daß die Opposition zumindest vorübergehend in den politischen Raum zurückkehren konnte. Vor allem wegen der vielen Verhaftungen wurde die Opposition als politische Option wieder zu einem Thema. In den überfüllten Gefängnissen saßen die Menschen, vor allem Jugendliche, zusammen und sprachen über die Politik. Es wurde wieder untereinander kommuniziert, das ist vielleicht der größte Erfolg der März-Proteste. Allerdings gelang es weder dem Präsidentschaftskandidaten Aljaksandr Milinkievič noch den Parteien, diesen Erfolg für sich zu nutzen. Statt dessen ergingen sie sich in Führungsstreitereien und internen Zwistigkeiten. Milinkievič wollte eine gesellschaftliche, parteiübergreifende Bewegung gründen, über deren Strategie und Führung sich die parteipolitischen Kräfte allerdings nicht einigen konnten. Der Konflikt in der Opposition eskalierte schließlich, als führende Politiker der Vereinigten Demokratischen Kräfte wie der stellvertretende Vorsitzende der Partei Belarussische Volksfront (BNF), Viktor Ivaškievič, und der Vorsitzende der Vereinigten Bürgerpartei, Anatolij Lebedko, ihren Parteimitgliedern untersagten, sich der geplanten parteiübergreifenden Bürgerbewegung Für Freiheit des Ex-Präsidentschaftskandidaten Milinkievič anzuschließen. Auf ihn, den vernünftigen Intellektuellen, setzt der Westen. Im Dezember 2006 erhält er den Sacharov-Preis des Europaparlaments. Als Führungspersönlichkeit der parteipolitischen und gesellschaftlichen Opposition ist er jedoch umstrittener denn je. Deswegen wurde er oft als „General ohne Truppen“ bezeichnet. Für die Demokratiebewegung ist das ein herber und tragischer Rückschlag. Denn die März-Proteste waren vor allem Milinkievičs Erfolg. Als Intellektueller und Repräsentant der belarussischen NGO-Versammlung Ratuša stand er jenseits der Oppositionskämpen, die ihn brauchten, um zu neuer Stärke und gesellschaftlicher Akzeptanz zu gelangen. Ihn akzeptierte die gesellschaftliche Opposition deswegen als Leitfigur, für die er aber schließlich auch Zielscheibe ihrer Kritik wurde. Denn vielen gilt er als zu schwach, als Marionette der Oppositionsparteien. Heute ist Milinkievič nur noch formal der Führer der Vereinigten Demokratischen Kräfte. Im kommenden Jahr soll auf einer Versammlung über seine Zukunft als Leitfigur der Opposition erneut abgestimmt werden. Zwar ist die grundsätzliche Schwäche der Opposition auch darauf zurückzuführen, daß sie unter der Informationsblockade, dem Propagandabeschuß und den Repressionen durch das Regime leidet. Das hat zu einer Isolation der Opposition und zur Entwicklung einer oppositionellen Parallelwelt geführt. Allerdings ist die Schwäche der Opposition auch hausgemacht. Bis heute bestehen die führenden Kader in den Oppositionsparteien weitgehend aus der Oppositionsnomenklatura, die sich seit 1996 geformt hat. Viele Parteien verfügen über eine unzureichende Infrastruktur, gerade in der Provinz, geschweige denn über demokratische Strukturen. Viele Jugendliche fordern eine Reform und Verjüngung der Parteien und eine Öffnung für ihre Ideen. Milinkievič weiß als Mann der Basis um diese Entwicklung. Er weiß um den Hunger der Jungen, Verantwortung für ihr Land zu übernehmen und Veränderungen umzusetzen. Deswegen bewies er mit der Idee, eine gesellschaftliche, überparteiliche Bewegung aufzubauen, politisches Gespür. Doch diese Idee wurde geradewegs von der Parteiopposition zunichte gemacht, weil sie zurecht inneroppositionellen Machtverlust befürchten mußte. Wie wichtig diese kulturelle Oppositionsbewegung heute auch der parteipolitischen Opposition ist, zeigen die Versuche, mit Konzerten, dem „Jeans-Fest“, dem „Tag der Solidarität“ oder anderen kulturellen Events junge Menschen durch symbolische Aktionen zu begeistern und an sich zu binden. Was wir heute in Belarus erleben, ist die Entwicklung einer neuen, jungen Elite jenseits der nationalistischen Parolen, die Anfang der 1990er Jahre durch Belarus hallten, und jenseits des von Präsident Lukašėnka errichteten Neosowjetismus, der bis heute lediglich eine wirtschaftliche, kulturelle und politische „Nicht-Elite“ geschaffen hat. Unter schwierigsten Bedingungen entsteht in diesem informell-kulturellen Milieu eine Gegenelite, die einen Beitrag leisten könnte, jenen intellektuellen Aderlaß zu überwinden, den das Land unter dem Stalin- und Nazi-Terror erleiden mußte. Diese junge Opposition muß bei einer Strategiedebatte stärker berücksichtigt werden. Noch mehr: Man muß ihr die Hand reichen, ihr ein Forum in Europa bieten. Es reicht nicht, die Oppositionsparteien in ihren Bemühungen zu unterstützen. Denn es ist diese junge Elite, die das Belarus von morgen formen wird.
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