Editorial
Bollwerk der Hölle
Manfred Sapper, Volker Weichsel, Andrea Huterer
Abstract in English
(Osteuropa 6/2007, S. 58)
Volltext
Kolyma liegt im Dunkeln, am Ende der Welt. Kolyma ist mehr als eine unwirtliche Region zur Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Rohstoffen. Es ist ein Extrempol der Grausamkeit. „Im Labyrinth der Lager“, so Andrej Sinjavskij, „ist die Kolyma das letzte und unterste Bollwerk der Hölle.“ Aus dieser Hölle dringt die Stimme von Varlam Šalamov. Achtzehn Jahre seines Lebens mußte er in Gefängnissen und Lagern der Sowjetunion fristen, alleine vierzehn an der Kolyma. Varlam Šalamov ist eine Zumutung. Er mutet sich und seinen Lesern unerbittlich die zersetzende Wirkung des Lagers zu. Mit seiner anspruchsvollen Poetik schafft er eine Authentizität, die ihresgleichen sucht. In seiner Dokumentarprosa zeigt er die Abgründe des Menschen und die Zerbrechlichkeit von Humanität und Zivilisation. Šalamov verstand sein Schreiben als einen Akt des Widerstands gegen eine Welt, in welcher der Mensch zu Material degradiert wird. Varlam Šalamov gehört in eine Reihe mit Jorge Semprun, Primo Levi und Imre Ker-tész. Sie alle haben ihre Erfahrungen im Konzentrationslager in literarischen Werken verarbeitet, die zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts zählen. Während Semprun, Levi, Kertész mittlerweile weltweit auf Anerkennung gestoßen sind, ist Varlam Šala-mov, dessen Geburtstag sich am 1. Juli 2007 zum hundertsten Mal jährt, immer noch weitgehend vergessen – selbst in einer literarisch interessierten Öffentlichkeit. Dabei gehören die Werke von Šalamov (†1982), insbesondere seine Erzählungen aus Kolyma, zu dem Eindrücklichsten und Besten, was je über die Zerstörung des Men-schen durch den Menschen im Namen des Staates geschrieben wurde. Daß Šalamov kaum bekannt ist, hat damit zu tun, daß die westliche Öffentlichkeit während des Ost-West-Konflikts Aleksandr Solženicyns Werke und seine klaren moralischen und politischen Urteile leichter aufnahm als Šalamov. Aus dem Schatten des Archipel Gulag vermochten die Erzählungen aus Kolyma nicht herauszutreten. Auch hat es damit zu tun, daß die Erinnerung an die Opfer der Massenvernichtung im 20. Jahrhundert bis heute in Ost und West gespalten ist und der Holocaust und der Gulag unterschiedliche Resonanzräume haben. Während die Erinnerung an die Opfer der Shoa eine globale geworden ist und Eingang in die Massenkultur gefunden hat, ist die Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Massenvernichtung regional begrenzt. Zeugnisse über den Holocaust finden ein größeres Echo als Zeugnisse über den Gu-lag. Während wir über Auschwitz fast alles wissen, wissen wir über Kolyma so gut wie nichts. Šalamov warf die entscheidende Frage auf: „Ist denn die Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates etwa nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat?“ Wer Šalamovs anspruchsvolles Werk verstehen und einordnen will, kommt nicht umhin, das historische und politische Umfeld zu erfassen, in dem das Lagersystem in der Sowjetunion entstand. Nur so lassen sich die Spuren der Repression, der Zwangsarbeit und des Großen Terrors offenlegen. In Rußland verlaufen diese Spuren bis in die Gegenwart. Repression und Lager sind in das individuelle und kollektive Unter-bewußtsein von Millionen Menschen eingegangen. Sie prägen staatliche Praktiken und ihre Wahrnehmung in der Bevölkerung. Der in Rußland verbreitete Zynismus und die Geringschätzung für das individuelle menschliche Leben speisen sich nicht zuletzt aus der unbewältigten Vergangenheit. Die materielle Substanz, die durch die Ausbeutung von Millionen Zwangsarbeitern geschaffen wurde, bildet noch heute wichtige Bausteine der Infrastruktur in Rußland. Das gilt für Kanäle, Staudämme und Kraftwerke ebenso wie für Teile des Rohstoffsektors. Dafür ist der Fall Noril’sk exemplarisch. Auf den Knochen der Zwangsarbei-ter vollzog sich hier in Rußlands hohem Norden seit 1935 der Aufstieg und Wandel von einem Kombinat zum Erz- und Nickelabbau über einen sozialistischen Musterbetrieb zu einer kapitalistischen Holding, die nun Weltmarktführer im Buntmetallsektor ist. Doch im geschichtsvergessenen Rußland von heute werfen derartige Kontinuitä-ten kaum einen Schatten. Das fügt sich in das allgemeine Bild. Die Erinnerung an die Opfer der Repressionen und des Gulag ist in die Defensive geraten. Nach dem Aufbruch Ende der 1980er Jahre, als die Zensur und die Lüge verschwanden, die Archive geöffnet wurden und die Gesellschaft sich die Wahrheit über die jahrzehntelang verdrängte Geschichte anzueignen begann, ist es still geworden. Zwar ist das Wissen über die Repressionen und den Gulag erheblich gewachsen, seit die Quellen der Gulag-Bürokratie zugänglich sind. Doch eine Leerstelle ist frappierend. Über die Täter des Gulag wissen wir kaum etwas. Die Rede ist nicht von Stalin und seinem engsten Umfeld. Es geht um die Hunderttausende von Mitarbeitern in der Gulag-Administration, die Leiter der Lager, die Wachleute, die Exekutoren. Bis heute sind die Personalakten des Innenministeriums und des Geheim-dienstes gesperrt. Unter denen, die den Großen Terror von 1936–1939 überlebten, wur-de keiner strafrechtlich für sein Wirken zur Rechenschaft gezogen. Eine breite gesellschaftliche und politische Aufarbeitung der Vergangenheit gibt es nicht. Sie paßt nicht mehr zum Geist der Zeit. Von den Lehrplänen für den Literaturunterricht an Rußlands Schulen sind die Erzählungen aus Kolyma gestrichen worden. Statt dessen ist Nikolaj Ostrovskijs Mustererzählung des Sozialistischen Realismus Wie der Stahl gehärtet wurde wieder zur Pflichtlektüre avanciert. Ein Zufall bloß? Wohl kaum. An einer rechtlichen Bewertung der Verbrechen des Stalinismus, wie sie die Gesellschaft MEMORIAL in ihren Thesen „Das Jahr 1937 und die Gegenwart“ fordert, ist momentan kaum einer interessiert. In Rußland unter Putin macht sich eine kollektive Amnesie breit: „Verdrängen, wegschieben, vergessen“, lautet die Devise. Da paßt es, daß es bis heute kein zentrales Denkmal gibt, das die Erinnerung an die Opfer des Großen Terrors und des Stalinismus wachhalten würde. Um so wichtiger ist es, dem Gedächtnisverlust entgegenzuwirken und mit Varlam Šalamov das Lager zu lesen, sein Werk neu zu entdecken und die Frage aufzugreifen, die er sich zur Leitfrage seines Lebens gemacht hatte: Wie ist es möglich, daß Menschen, die in humanistischer Tradition erzogen werden, zu Auschwitz und Kolyma fähig sind?