Der Ort spricht nicht
Fotografieren in Auschwitz
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Abstract
Auschwitz kann man höchst unterschiedlich fotografieren. Doch das Bild, das man sich von Auschwitz macht, bleibt unscharf, man findet keine Erklärung für das Geschehene. Die höchst unterschiedlichen Bilder eines Fotoseminars in Auschwitz erzählen die Geschichte einer vergeblichen Annäherung.
(Osteuropa 8-10/2008, S. 387394)
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The Place Does not Speak
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„Could you take a picture of me, please?“, fragt der freundliche Tourist, überreicht die Kamera, posiert und bedient dabei alle Klischees – inklusive den zum „V“ ausge-streckten Fingern. Im Bildhintergrund ist nicht der Eiffelturm zu sehen, sondern das Lagertor von Auschwitz. Es ist nur eines von unzähligen Photos, die heute hier entstehen. Denn über eine Millionen Menschen besuchen das ehemalige Vernichtungsla-ger jährlich und fast jeder bringt seine Kamera mit. An nur wenigen Orten in Europa wird wohl mehr photographiert als hier. Vielleicht sind alle diese Bilder Ausdruck von Unsicherheit. An der Kamera kann man sich festhalten und Abstand schaffen. Bei jeder Gaskammer, jedem Galgen steht man sicher hinter seinem Apparat und sieht alles nur ganz klein durch den Sucher oder auf dem Bildschirm. „Allein schon das Hantieren mit der Kamera ist beruhigend und mildert das Gefühl der Desorientierung.“ Aber Photographieren kann auch mehr als beruhigen. Es kann verstehen helfen, zum Nachdenken anregen. Deshalb veranstaltet die Jugendbegegnungsstätte Oświe-cim/Auschwitz seit mehreren Jahren das Photoseminar „Hopes“ für junge Photographen aus Israel, Polen und Deutschland. Im Jahr 2008 photographierten 20 Teilnehmern zehn Tage lang das Lager Auschwitz und die Stadt Oświecim, trafen Zeitzeugen, diskutierten Photos und bereiteten in nächtelanger Arbeit in der Dunkelkammer eine Ausstellung vor. Die fertigen Bilder erzählen ganz unterschiedliche Geschichten der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Oft ist es ein Befragen der Oberfläche, die so banal scheint, wie sie ist: Gras, Steine, Sand. Doch alles ist kontaminiert mit der Geschichte. Dabei ist „an der Stelle des Massengrabs […] das Gras nicht weniger grün als anderswo.“ Nur unsere Eindrücke passen sich unseren Vorstellungen an. Manche verlassen sich lieber auf sich selbst. Sie müssen die Dinge berühren. Sie he-ben Steine auf, finden alte Löffel und Knöpfe und können doch nicht verstehen. Um sich zumindest dessen gewiss zu sein, photographieren sie sich dabei. Es werden Er-innerungsbilder an die fehlende Erinnerung. Denn der Ort spricht nicht, lässt alleine. Er bietet keine räumliche Perspektive, die auch eine zeitliche wäre. Erklärungen gibt es hier nicht. Alles wirkt leer, eigentlich gibt es hier nichts zu sehen. Der Blick durch den Sucher ist auf einmal eher verstörend als beruhigend.
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