Runder Tisch: Erinnerung als Gratwanderung
Das Erbe der osteuropäischen Juden
Delphine Bechtel, Michael Brenner, Frank Golczewski, François Guesnet, Rachel Heuberger, Anna Lipphardt, Cilly Kugelmann
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Abstract in English
Abstract
Ein Gespräch mit Delphine Bechtel, Michael Brenner, Frank Golczewski, Francois Guesnet, Rachel Heuberger, Anna Lipphardt und Cilly Kugelmann. Das Wissen über das Leben der osteuropäischen Juden und über die Schoa ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen. Doch die angemessene Vermittlung der osteuropäisch-jüdischen Geschichte und Kultur stellt hohe Anforderungen. Mitunter besteht die Gefahr, dass die Erinnerung an die Opfer des Holocaust in Kommerz und Kitsch abgleitet und über einer Musealisierung die Renaissance jüdischen Lebens in Vergessenheit gerät. Delphine Bechtel, Michael Brenner, Frank Golczewski, Rachel Heuberger, François Guesnet, Cilly Kugelmann und Anna Lipphardt äußern sich darüber, welche Konsequenzen sie für ihre Arbeit in Museen, Bibliotheken, Lehre und Forschung daraus ziehen.
(Osteuropa 8-10/2008, S. 5366)
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Remembrance between Scylla and Charybdis
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Osteuropa: Die osteuropäischen Juden wurden Jahrzehnte vor allem durch das Prisma des Holocaust betrachtet. Welche Folgen hat das für die Wahrnehmung jüdischen Lebens in Osteuropa? Beginnt der Blick sich zu ändern?
Cilly Kugelmann: Nach 1945 gibt es kaum noch Juden in Osteuropa, die man unter einem vom Völkermord distanzierten Blick betrachten könnte. Das Bild der Juden in Osteuropa vor dem Nationalsozialismus ist durchaus differenziert, je nachdem, ob man sich mit der Geschichte der Juden im Baltikum, in Polen oder in der Sowjetunion befasst. Das reicht von der Romantisierung des Schtetl, der Erforschung und Beschreibung seiner wenig schwärmerischen Realität über das Engagement von Juden für die sozialistische Revolution, in den Kommunistischen Parteien und der Teilhabe in der Nomenklatur der Sowjetregierungen und ihrer Institutionen.
Michael Brenner: Angesichts der nahezu vollständigen Auslöschung jüdischen Lebens in Osteuropa ist es nur allzu verständlich, dass die Schoa den heutigen Blick auf die jüdische Geschichte prägt. Anders als in Deutschland, wo eine polare Täter-Opfer-Beziehung den Blick zurück prägt, ist die Situation in Osteuropa komplexer. Angesichts der deutschen Besatzung in großen Teilen Osteuropas kam es häufig zu einem Opferwettstreit, der in der kommunistischen Zeit nicht selten dazu führte, dass ein spezifisch jüdisches Leiden nicht anerkannt wurde. Bis heute etwa weigern sich einige Kreise der polnischen Gesellschaft, Auschwitz vor allem als Ort der Vernichtung von Juden anzuerkennen. Die Aufarbeitung der Ermordung von Juden im Ort Jedwabne durch ihre polnischen Mitbürger hat die Frage aufgeworfen, inwieweit auch polnische Opfer des Nationalsozialismus während des Krieges Verbrechen an Juden begingen. Diese Debatte spitzt sich in der Diskussion über antijüdische Pogrome nach dem Krieg weiter zu. Schließlich ist das Bild „Juden = Kommunisten“ aus den Nachkriegsjahren bis heute tief in der Gesellschaft verwurzelt und dient oft als Vorlage für antijüdische Propaganda.
Rachel Heuberger: Bereits vor der Schoa war die Sichtweise des Westens auf das osteuropäische Judentum sehr einseitig und reduziert auf eine idealisierte Vorstellung einer prämodernen religiös intakten Gemeinschaft. Denken Sie an die romantisierenden Bilder von Roman Vishniac, die verklärende Deutung des Chassidismus durch Martin Buber oder die Trivialisierung der ostjüdischen Literatur eines Scholem Alejchem. Die städtische Intelligenz und das aufgeklärte polnische Judentum, die sich ins bürgerliche Leben zu integrieren versuchten, wurden ebenso übersehen wie die Mitglieder der sozialistischen Bewegungen. Durch die Schoa mit ihrer Vernichtung des osteuropäischen Judentums hat sich diese falsche Wahrnehmung in unserer Gedenkkultur vielfach reproduziert und als einzige tradiert. Die wenigen Überlebenden wurden und werden nicht mehr als authentische Juden wahrgenommen. Bislang kann ich keine wesentliche Änderung des Blicks erkennen.
François Guesnet: Dass osteuropäische Juden vor allem durch das Prisma des Holocaust betrachtet wurden, kann für den deutschsprachigen Raum festgestellt werden. International gilt das nicht. Für den deutschsprachigen Raum bedeutete diese Sichtweise im Grunde eine Fortführung der rassistischen und totalitären Perspektive der deutschen Herrenmenschen: Wahrgenommen wurden lediglich der Mord an den osteuropäischen Juden und Jüdinnen, nicht jedoch das, was durch diesen Völkermord an individuellen Existenzen, Hoffnungen, Lebensentwürfen ausgelöscht wurde. Es steht jedoch außer Frage, dass es auch in der deutschsprachigen Forschung schon seit längerem um diese verdrängte Perspektive geht. In den 1980er Jahren begann man, sich mit den „Ostjuden“ zu befassen, übrigens ein irreführender und stereotypisierender Begriff. An erster Stelle wäre Trude Maurer mit ihren Arbeiten zu nennen. Gerade die Historiker und Historikerinnen und Kulturwissenschaftlerinnen bemühen sich seit Jahren, den Verlust an menschlichem Leben in seiner Komplexität stärker nachvollziehbar zu machen. Hier kann man selbstverständlich die Lebenswelt-Forschung von Heiko Haumann anführen, aber auch die Einzelforschungen von Gabriele Freitag, Yvonne Kleinmann, Heidemarie Petersen, Gertrud Pickhan oder Katrin Steffen. Weniger zufällig als auffällig ist der hohe Anteil von Kolleginnen und die geringere Beteiligung von Kollegen. Auch das ist international anders.
Delphine Bechtel: Nach der Schoa blieb die Geschichte der lebenden Juden tatsächlich ausgeblendet. Besonders in Deutschland wurden Juden nur noch als „tote Juden“ wahrgenommen. Das geschah implizit durch die systematische Aufarbeitung der Schoa, durch die Rekonstruktion der Anfänge, der Vorbereitungen bis zum Vollzug der Vernichtung. Juden wurden so zu von den Deutschen vernichteten Juden. Alles, was mit Judentum zu tun hat, wurde von der Aura der Schoa erfasst und damit „sakralisiert“, „unantastbar“. Und es gab die „imaginären Juden“. In Frankreich, wo viele aschkenasische Juden leben, meinte Alain Finkielkraut damit die Nachfahren der Opfer der Schoa, die selbst keine Ahnung mehr von der Kultur ihrer Großeltern haben. Aber ihre jüdische Identität gründet auf der Negativerfahrung der Schoa. In Deutschland, wo bis in die 1990er Jahre viel weniger Juden lebten, wurden diese „imaginären Juden“ von den jungen Deutschen konstruiert. Man wusste, die Juden waren „die Opfer“, aber ansonsten blieben sie unbekannt.
Anna Lipphardt: In der breiten westlichen Öffentlichkeit gibt es zwei Prismen: Horror (Auschwitz) und Kitsch (Klezmer-shtetl-Ostjuden). In Osteuropa ist der Holocaust jahrzehntelang ausgeblendet worden. Nun rückt er ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das bindet viel intellektuelles Engagement osteuropäischer Juden. Aus jüdischer Sicht wurde das Leben der Juden in Osteuropa ebenfalls oft durch die Prismen „Horror“ und „Nostalgie“ wahrgenommen. Doch es gab nach 1945 auch eine differenzierte Sicht. Da sind das Forschungsinstitut YIVO in New York und die jiddische Kulturbewegung zu nennen. Josh Waletzkys Dokumentarfilm Image Before My Eyes (1981) beleuchtete das vielfältige jüdische Leben in Polen zwischen den Kriegen. Inzwischen kommen immer mehr Impulse aus der jungen jüdischen Generation in Osteuropa, die ihr kulturelles Erbe nicht auf den Holocaust und das shtetl reduziert sehen will, sowie aus Israel, wo das eindimensionale zionistische Geschichtsbild, das die Diaspora als Vorstufe zu Auschwitz sieht, an Strahlkraft verloren hat. Das Interesse an den osteuropäischen Wurzeln wächst. Frank Golczewski: Man muss zwischen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit differenzieren. Für die Öffentlichkeit trifft die Annahme, dass die Schoa der Wahrnehmungsfilter ist, weitgehend zu. Das hat eine politische Dimension, weil die Schoa-Problematik „klarer“ ist als eine Diskussion heutiger „jüdischer Fragen“ und die Vor-Schoa-Geschichte als Geschichte eines „Scheiterns“ konnotiert ist. Für die Wissenschaft sind die Lebenswelten osteuropäischer Juden vor der Schoa seit langem aktuell. Denken Sie an die Arbeiten von Verena Dohrn, Yvonne Kleinmann, Kai Struve, François Guesnet und Gertrud Pickhan. Hier würde ich im Gegenteil sagen, dass die Forschung zur Schoa – sofern es nicht reine Täterforschung war – erst in den letzten Jahren stärker angelaufen ist. Hier möchte ich an die Studien von Dieter Pohl, Michael Alberti, Jacek Andrzej Młynarczyk, Christoph Dieckmann, Joachim Tauber erinnern. Allerdings ist die Erforschung der Schoa immer noch beschränkt, weil etwa die Arbeit mit sogenannten „Ego-Quellen“ wie Gedenkbüchern kaum entwickelt ist. Diese Arbeit erfordert viel Quellenkritik und Sprachkenntnisse. In Bezug auf die Eigenwahrnehmung der verfolgten Juden wird immer noch eher die eigene Einstellung projiziert. Osteuropahistoriker in Deutschland überlassen das Thema Schoa gerne Deutschland-Historikern wie Christian Gerlach, Götz Aly oder Andrej Angrick. Doch diese wiederum können häufig die ungarischen, slavischen, jiddischen und hebräischen Texte nicht nutzen. Das ist zwar ein „technisches“ Argument, aber eines, das sich in der Forschung deutlich abbildet. Trotz manchen differenzierenden Arbeiten hat in der Öffentlichkeit, aber oft auch in der Wissenschaft, eine durch den Zionismus bedingte Ethnisierung der Juden Raum gegriffen: In Statements ist von „Deutschen und Juden“ die Rede, statt von „jüdischen und nichtjüdischen Deutschen“ zu sprechen. Ähnliches gilt für Osteuropa, wo der Kontrast zwischen der vollständigen diskursiven Verdrängung der Juden (Schoa-Opfer als „sowjetische Bürger“) und ihrer administrativen Verfestigung (Punkt 5 des Sowjetpasses) kaum bewältigt ist. Das führt zu terminologischen Verwirrungen. Da wird einerseits etwa Trockij als Jude bezeichnet oder diffamiert, andererseits wird erklärt, er sei ja gar kein „richtiger“ Jude, weil er schließlich Bolschewik gewesen sei. Die Assimilation (auch für assimilierte Zionisten ein Schimpfwort) als normaler Prozess der Modernisierung – auch und gerade für die Sowjetunion, wo sie ganz besonders wirksam geworden ist – ist praktisch unbearbeitet.
Osteuropa: In Prag, Krakau oder dort, wo vor der Schoa bedeutende Stätten jüdischen Lebens waren, ist ein Anknüpfen an die jüdischen Traditionen zu beobachten. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Bechtel: Nicht in jeder Stadt ist es gleich. Die Form und die Zeit der Wiederaneignung der jüdischen Vergangenheit sind sehr unterschiedlich. In Prag sind die Synagogen und jüdischen Museen integraler Teil jeder Stadtbesichtigung. Die Musealisierung der Geschichte fing bereits zu kommunistischer Zeit an und ging unter fast totaler Abwesenheit der Juden sehr schnell voran. In Warschau ist das jüdische Museum immer noch nicht entstanden. Überhaupt gibt es verhältnismäßig wenig in dieser Hinsicht. Im Krakauer Kazimierz oder in Berlin auf der Oranienburger Straße hat sich ein jüdisches Ersatzleben (Café Silberstein, „Tacheles“, Café Ariel) für das Auge entwickelt, mit lauter gutem Willen und schlechtem Gewissen. Das hat etwas Gespenstisches. Und in der Ukraine gibt es praktisch nichts. Golczewski Dieses Anknüpfen ist partiell Mode, zum großen Teil Kommerz. Was für die einen Neuschwanstein ist, ist für die anderen die Remu-Synagoge oder die Altneuschul. Das „Anknüpfen“ ist eine Romantisierung, das „coming out“ auch eine Romantisierung eigener Viten – vergleichbar der „Roots“-Bewegung der Afroamerikaner. Insofern kann man weder dafür noch dagegen sein, weil dies einem menschlichen Bedürfnis entspricht, eben dem, seine Vergangenheit „greifbar“ zu machen. Dafür eignen sich religiöse Highlights besser als KZs. Auch Atheisten besuchen den Kölner Dom oder die Klagemauer. Nur sollte man dieses letztlich anachronistische „Revival“ nicht mit dem „wirklichen“ gegenwärtigen „jüdischen Leben“ gleichsetzen, das sich nur zu einem sehr geringen Teil in diesem Umfeld abspielt. In seiner Masse unterscheidet es sich in Bezug auf Säkularisierung und Modernisierung einschließlich sporadischer touristischer Ausflüge in religiös konnotierte Events – vergleichbar dem Papst-Hype– nicht von der gentilen Welt.
Lipphardt: Ich halte die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte in Osteuropa für sinnvoll und wichtig, nachdem sie über Jahrzehnte verdrängt wurde. Auf lokaler Ebene beginnt sich ein Bewusstsein für die jüdischen Vergangenheit zu entwickeln. Die Multiethnizität der Vergangenheit wird zunehmend auch als Potential denn nur als Ballast angesehen. Die Restaurierung ehemaliger jüdischer Stadtviertel, den Bau jüdischer Museen und Klezmerfestivals würde ich allerdings nicht als ein „Anknüpfen an jüdische Traditionen“ bewerten, zumal vieles davon über die Köpfe und Bedürfnisse der ortsansässigen jüdischen Gemeinden hinweg geschieht.
Guesnet: Es ist die Frage, was man unter Anknüpfen versteht. Grundsätzlich kann ich nur begrüßen, dass es in diesen und vielen anderen Städten Formen der Rückbesinnung auf jüdische Präsenz und multiethnisches Zusammenleben gibt – sei es mit Festivals, Filmreihen, literarischem Schaffen, akademischen Veranstaltungen oder anderen Formen öffentlicher Auseinandersetzung. Manchmal nimmt geschmäcklerischer Budenzauber überhand, um etwa amerikanischem, israelischem oder westeuropäischem Bedarf an passenden Souvenirs Genüge zu tun. Als ich vor über 20 Jahren meine ersten Polenaufenthalte absolvierte, gab es jedenfalls die geschnitzten, traditionelle Juden darstellenden Holzfiguren noch nirgends zu kaufen. Ist das schlimm, dass es sie mittlerweile in jedem Cepelia-Laden gibt? Ich finde nicht.
Heuberger: Diese Entwicklungen beurteile ich kritisch. Die sogenannte Renaissance jüdischen Lebens beruht auf einer Gemengelage von wirtschaftlichen Interessen des Tourismus, politischen Nützlichkeitserwägungen und den Bemühungen Einzelner, in der Regel Nichtjuden, eine verklärte Vergangenheit aufleben zu lassen. Die realen Probleme der kleinen jüdischen Gemeinden vor Ort werden ignoriert.
Brenner: Neben einigen bemerkenswerten akademischen Bemühungen geht es hier vor allem um die Kommerzialisierung des jüdischen Erbes. Golem-Figuren in Prag und tanzende chassidische Puppen in Krakau haben das einstmals reiche jüdische Leben an diesen Orten ersetzt. Daneben gibt es aber auch bemerkenswerte Versuche wie das große Klezmer-Festival in Krakau. Da wird an jüdische Kultur angeknüpft. Dies stellt jedoch angesichts der Abwesenheit einer signifikanten jüdischen Gemeinde eine „nichtjüdische jüdische Kultur“ dar. Ruth Gruber nannte dies „virtually Jewish“.
Kugelmann: Bislang sind die Aktivitäten auf dem Gebiet des kulturellen Rückbezugs auf die jüdische Vorkriegsbevölkerung Repertoiretheater. Es bietet nicht mehr, als dass es gut gemeint ist. Die Wiederentdeckung der jüdischen Kultur in diesen geographischen Regionen ist vielleicht eher eine erstmalige Konfrontation mit dieser Kultur für diejenigen, die sich damit befassen, insofern keine Anknüpfung, sondern eine erste Auseinandersetzung als Versuch, sich mit der Vernichtungsgeschichte zu befassen.
Osteuropa: Was bedeuten das Ende des Ost-West-Konflikts und die Auflösung der UdSSR für die Erforschung der jüdischen Geschichte in Osteuropa? Wo sind die größten Fortschritte erzielt worden. Wo bleiben Lücken?
Kugelmann: Bisher nicht zugängliche Archive haben ihre Türen geöffnet. Weitere Details aus dem Prozess der Massenvernichtung und die Haltung der lokalen Bevölkerung zu diesen Ereignissen können mit neuen Quellen erforscht werden.
Heuberger: Mit dem Untergang der UdSSR und der Öffnung der Archive haben die nationalgeschichtlichen Perspektiven Auftrieb bekommen. Allerdings ohne dass die jüdische Geschichte der einzelnen Staaten ausreichend erforscht und dokumentiert werden. Dies mag auch an den mangelnden Sprachkenntnissen liegen und ist von Land zu Land unterschiedlich. Polen nimmt eine Vorreiterstellung in der Erforschung der ostjüdischen Lebenswelten ein, wie die Zahl der neuen Arbeiten belegt. Der Antijudaismus und Antisemitismus in den Strömungen und Institutionen, die als traditionelle Gegner des Faschismus gesehen werden, wie die Nationalbewegungen, die Arbeiterbewegung und die Kirchen, sollten erforscht und aufgearbeitet werden.
Guesnet: Die Dynamisierung des Feldes ist enorm. Auch hier hinkt der deutschsprachige Raum weit hinterher. Der Fortschritt ist umfassend und lässt sich auf keine spezifischen Fragebereiche eingrenzen. Zu einem gewissen Teil hat das zwar mit den besser zugänglichen Forschungsressourcen in Osteuropa zu tun, zunächst aber mit der großen Neugier, mit der sich Kolleginnen und Kollegen international mit der jüdischen Geschichte und Kultur im östlichen Europa befassen. 80 Prozent der heute lebenden Juden und Jüdinnen haben Wurzeln im östlichen Europa. Die Intensität der Auseinandersetzung nimmt stetig zu. Die größte Dynamik weisen hier Arbeiten zu Polen und Russland auf. Das international dynamischste Feld war wohl in den letzten 20 Jahren die Erforschung der jüdischen Mystik, des Chassidismus. Die größten Potentiale bestehen darin, die osteuropäische Judenheit in die europäisch-jüdische Geschichte einzubinden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die osteuropäischen Judenheiten verfügten zwar über eine Reihe von Spezifika, waren jedoch gleichzeitig familial, ökonomisch, kulturell und religiös mit den mittel- und westeuropäischen Judenheiten durch teilweise sehr stabile und effiziente Netzwerke verbunden. Diese müssen erforscht werden. Zweites Beispiel: Es gab mehr als eine jüdische Moderne. Auch Osteuropa kannte eine spezifische jüdische Moderne, ohne die, so würde ich behaupten, die preußisch-jüdische Aufklärung kaum denkbar wäre. Diese Einflußnahme erfolgte nicht zuletzt durch die geistig-intellektuellen Anregungen durch Lehrer aus dem östlichen Europa, die, wie schon Heinrich Graetz maulend anmerkte, das deutsche Judentum „verdorben“ hatten. Es gab vor 1945 keinen Eisernen Vorhang in Europa.
Golczewski: Zunächst hat sich der Zugang zu Archivalien verbessert. Fragen, die früher tabuisiert waren, können nun bearbeitet werden. Viele Quelleneditionen und faktenorientierte Darstellungen sind in Polen erschienen. Die Publikationen in anderen osteuropäischen Staaten fallen dagegen quantitativ zurück. Auch in Bezug auf die Problematisierung der jüdisch-gentilen Beziehungen ist in Polen viel geleistet worden. Die politischen Debatten wie der Streit über Auschwitz, über Jedwabne und über das neue Buch von Jan Tomasz Gross haben viel bewegt. Ein wunder Punkt ist überall die Kollaboration, deren Darstellung möglichst minimiert wird. Man versucht, die Kollaborateure aus der eigenen nationalen Gemeinschaft auszugliedern, wenn ihre Existenz überhaupt zugegeben wird. Eine andere Strategie ist ihre Umwidmung in einen spezifischen Widerstand gegen Deutschland. Das ist in Lettland, in der Slowakei oder der Ukraine der Fall. Es wäre daher ein Desiderat für die osteuropäische Historiographie, den Schritt von der Nutzung der Geschichte zur nationalen Bestätigung und Apologetik zu einer kritischen Sicht der eigenen Geschichte (und Politik) zu tun. In Ostmitteleuropa wird Kritik oft auf die Jahre 1945 bis 1989 beschränkt und mit alten Feindbildern (darunter auch mit anti-jüdischen) gestützt. Auch ein kritischer Umgang mit nationaler Identität im allgemeinen (primordialistische Vorstellungen von Ethnogenese sind stark verbreitet) und der eigenen im besonderen (bei der das Postulat der Kontinuität und „Invention of Tradition“ vorherrschen) wäre von Vorteil. Auch wäre es sinnvoll, sich nicht mit „nationalen“ Judenheiten zu beschäftigen, sondern die quer zu den heutigen Staatsgrenzen verlaufenden historischen Gruppierungen zu untersuchen. Ezra Mendelsohn hatte seinerzeit damit angefangen.
Bechtel: Vor der Musealisierung war es besser. Ich werde nie vergessen, als ich Anfang der 1980er Jahre zum ersten Mal die Altstadt in Lublin sah: Sie war wie 1945, unbewohnt, halb zerstört, mit eingeschlagenen Fenstern, mit den jüdischen Aufschriften an den Wänden und den Stellen, wo die Mesusot an den Türen hingen; als wäre die Geschichte „eingefroren“. Es war, als könnte man sich durch eine Reise in den Osten in die Vergangenheit zurückzaubern. Da sah man das Eigentliche – die Vernichtung, ohne Verschönerung, frontal. Jetzt sieht man nur noch Rekonstruiertes. Auch wenn es niedlicher ist. Vielleicht beruhigender für die meisten. Aber ich finde den Wettlauf falsch, nach dem jede Stadt jetzt ihr Jüdisches Museum bauen muss. In Warschau zum Beispiel fände ich es viel besser, wenn die jüdische Geschichte im Stadtmuseum integriert wäre, als dass nun ein spezielles „Jüdisches Museum“ errichtet wird. Jüdische Geschichte ist nicht die Geschichte einer exotischen Minderheit, die man in einem Extramuseum „schön“ darstellt, darin auch eingrenzt, und sich dann die Hände reiben und sagen kann: „So, jetzt haben wir auch ein jüdisches Museum. Erledigt!“ In Warschau waren 40 Prozent der Bevölkerung Juden, also waren sie ein integraler Teil der Stadt. Deshalb sollten sie auch im Warschauer Stadtmuseum ein integraler Bestandteil der Dauerausstellung sein. Auf dem Gebiet der Forschung sehe ich das genauso. Ich bin gegen separate Jüdische Studien, wenn sie eine Art akademisches Ghetto bilden. In Abteilungen für Jewish Studies an amerikanischen Universitäten werden Spezialisten ausgebildet, die hervorragend die jüdische Kultur und Geschichte kennen, von den anderen Kulturen aber wenig wissen. Deswegen verfehlen sie schlicht deren Durchdringung. Es ist im Gegenteil sehr wichtig, in Krakau, Lemberg, Vilnius und wo auch immer, mit den Forschern vor Ort eine Verflechtungsgeschichte aufzubauen, in der die Juden nicht separat, sondern in ihren Wechselwirkungen mit den anderen Bewohnern der Stadt erforscht werden. Leider ist das an mancherorts noch ein Wunschtraum.
Lipphardt: Die Geschichte der osteuropäischen Juden kann endlich wieder in Osteuropa erforscht und gelehrt werden. Die Quellen sind zugänglich, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können sich frei mit jüdischen Themen beschäftigen. Viele jüngere Historiker und Historikerinnen haben einen Teil ihrer Ausbildung im Westen absolviert, sie sind international vernetzt und ihr Horizont reicht weit über den der jeweiligen Nationalgeschichte hinaus. Der Run auf die Archive, der 1989 einsetzte, hat viele Arbeiten über die Lage der osteuropäischen Juden im 18., 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht. Im Mittelpunkt stehen politische und institutionelle Fragen. Auch die jüdische Stadt- bzw. Lokalgeschichte hat neue Impulse erhalten. Dem Holocaust in den Gebieten, die erst 1941 von der Wehrmacht besetzt wurden, wird mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt. Allerdings bleiben kontroverse Themen oft ausgeklammert, oder sie lösen, wie Jan Gross’ Studien über die polnisch-jüdische Beziehungsgeschichte im und nach dem Zweiten Weltkrieg einen solchen Aufruhr aus, dass an einen differenzierten Austausch nicht zu denken ist. Über die Nachkriegsgeschichte der Juden in und aus Osteuropa wissen wir bislang wenig. Auch würde ich mir mehr Arbeiten zur jüdischen Alltags- und Kulturgeschichte (und zwar nicht nur zur Hochkultur!) wünschen. Die Verflechtungsgeschichte bietet großes Potential. Um zu einer integrierten europäischen Geschichte zu kommen, reichen differenzierte Einzelarbeiten nicht aus. Für viele Themen brauchen wir Forschungsverbünde, in denen Wissenschaftlerinnen mit verschiedenen sprachlichen, historischen und kulturellen Fähigkeiten gemeinsam arbeiten.
Osteuropa: Jüdische Geschichte und europäische Geschichte sind untrennbar verflochten. Dies gilt auch für die ostjüdische und osteuropäische Geschichte. Gleichzeitig ist jüdische Geschichte immer auch Verfolgungsgeschichte. Welchen Stellenwert haben die Erkenntnisse der Jüdischen Studien oder der Osteuropäischen Geschichte als Disziplin für Ihre Arbeit?
Brenner: Ich erforsche nicht die Geschichte der Juden Osteuropas, sondern die deutsch-jüdische Geschichte, die Geschichte der Juden in Westeuropa und den USA sowie die Vorgeschichte des Staates Israel. Dennoch muss für jeden Forscher, der sich mit der jüdischen Geschichte in der Neuzeit beschäftigt, Osteuropa im Blickfeld stehen, denn hier lebte bis zur Schoa der Großteil der jüdischen Gemeinschaft. Sowohl das amerikanische Judentum wie der Staat Israel sind bis heute von den Nachkommen osteuropäischer Juden geprägt, so dass jüdische Geschichte auch außerhalb Osteuropas nicht von dieser zu trennen ist.
Kugelmann: Der Grad der Verfolgung der Juden und die Art und Weise, wie sie organisiert ist, gibt Aufschluss über den Stand gesellschaftlicher Entwicklungen in Bezug auf die wirtschaftliche und demokratische Entwicklung einer Region. Für die Kulturgeschichte sind die religiösen und volkstümlichen Einflüsse der christlichen Kulturen auf die Ausprägung von Ritualen und Gebräuchen im Judentum interessant.
Golczewski: Zunächst einmal sind jüdische und nicht-jüdische Geschichte tatsächlich miteinander verwoben, auch wenn Vertreter beider Seiten oft versuchen, ihren jeweiligen Bereich „rein“ von dem anderen darzustellen. Im sprachlichen (Jiddisch), im „kulturellen“ (Kleidung), im religiösen (Chassidim und Pfingstler) Bereich haben wir aber quer und parallel zu den scheinbaren Grenzen verlaufende Entwicklungen. Deshalb ist jüdische Geschichte keineswegs immer auch Verfolgungsgeschichte. Sie ist auch eine Geschichte der religiösen und areligiösen Entwicklung, des Kulturtransfers, der Wirtschaft, der Modernisierung, des Sozialismus und des Nationalismus. Alle Kategorisierungen historischer Teildisziplinen sind zudem artifiziell hergestellt, um Komplexität zu bewältigen. Man sollte sie bewusst durchbrechen, ohne sie vollends zu beseitigen, um dies zu zeigen. Wenn man aber eine Opposition von Osteuropäischer Geschichte und Jüdischen Studien annimmt (was man nicht sollte, denn beide sind jeweils auch Teil des anderen), dann gestatten Jüdische Studien Normal-Osteuropa-Historikern, die geistige und materielle Binnenentwicklung des jüdischen Gesellschaftsteils zu erfassen, die man oft nur aus der Perspektive der gentilen Gesellschaft (und daher entsprechend optisch gekrümmt) oder aus der Sicht von atypischen „Grenzüberschreitern“ kennt. Die Eigengesetzlichkeit der Binnenperspektive kommt dabei oft zu kurz. Sie ermöglicht es, die Differenz zwischen der Eigenwahrnehmung von Juden und ihrer Fremdwahrnehmung zu erfassen und damit zur Konfliktanalyse, aber auch zur Begründung des Miteinander-Auskommens beizutragen.
Guesnet: Da ich weder die Osteuropäische Geschichte noch die Jüdischen Studien als eigenständige akademische Disziplinen mit spezifischem Methodenapparat betrachte, kann ich zu dieser Frage nicht viel sagen. Außer vielleicht soviel, dass das eine in den meisten Fällen ohne das andere nur schwer umfassend zu denken ist.
Lipphardt: Ich bin nicht der Meinung, dass die Geschichte der osteuropäischen Juden „immer auch eine Verfolgungsgeschichte“ ist. Sie ist sicher immer auch eine Minderheitengeschichte, die stärker als die anderer osteuropäischer Minderheiten (abgesehen von den Sinti und Roma) von Diskriminierungen und oft auch von Verfolgungen geprägt war, aber sie ist, trotz des Holocaust, nicht darauf zu reduzieren. Als Minderheitengeschichte ist sie Beziehungsgeschichte, aber sie verfügt auch über Eigensinn, sie ist auch eine Geschichte der jüdischen Selbstermächtigung, des jüdischen Alltags und eines eigenständigen jüdischen Kulturwesens – im Austausch mit der Umgebung. Doch zurück zur eigentlichen Frage: Seit Ende des Kalten Krieges hat die Osteuropäische Geschichte ein ganzes Repertoire an Forschungsperspektiven entwickelt bzw. adaptiert, die großes Potential für die Erforschung der jüdischen Geschichte in Osteuropa haben: die Empire and Border Studies, die multiethnische Stadtgeschichte und das Konzept der Nachbarschaft. Die Sensibilisierung für Raumzusammenhänge und lokale Bezüge, die mit dem spatial turn in der osteuropäischen Geschichte einherging, macht sich zunehmend auch in den Jewish Studies in Bezug auf Osteuropa bemerkbar. Auch das Konzept der Lebenswelt, wie es Heiko Haumann entwickelte, bietet für die Jüdischen Studien spannende Anknüpfungspunkte. Es gibt allerdings einige Strukturprobleme, die eine disziplinäre Annäherung zwischen der Osteuropäischen Geschichte und den Jewish Studies erschweren: Osteuropa-Historikerinnen und -Historiker, die sich mit jüdischen Themen beschäftigen wollen, müssen sich solide Kenntnisse des Jiddischen und Hebräischen aneignen sowie umfassende Kenntnisse der osteuropäisch-jüdischen Lebenswelten und des Judentums überhaupt. Umgekehrt lässt sich auch die osteuropäisch-jüdische Geschichte und Kultur nicht ohne osteuropäische Sprachen und solide Kenntnis der nichtjüdischen Umwelt erforschen. Dies geht weder im Crash-Kurs-Verfahren noch im Rahmen einer rein historischen Ausbildung. Der Austausch wird dadurch behindert, dass die Jüdischen Studien an deutschen Universitäten verständlicherweise überwiegend auf die deutsch-jüdische Geschichte und Kultur ausgerichtet sind, deren Erkenntnisse und Konzepte sich jedoch nicht auf die osteuropäischen Juden übertragen lassen. Begrüßenswert wären daher eine Stärkung osteuropäischer Themen innerhalb der Jüdischen Studien in Deutschland sowie eine stärkere Kooperation der Osteuropäischen Geschichte mit den wissenschaftlichen Einrichtungen in Nordamerika und Israel, an denen ‚ganzheitliche’, und damit auch interdisziplinäre Ansätze für die Lehre und Erforschung der osteuropäischen Juden praktiziert werden.
Bechtel: Das Leben kennt keine akademischen Disziplinen, die Forscher haben zu lange nach philologischen Kategorien gearbeitet (Germanistik, Slawistik, Judaistik etc). Immer noch ist viel zu stark zu spüren, welchen Hintergrund ein Forscher hat, was für eine Ausbildung er hat. Aus diesen Kategorien sollte man wie aus einer selbstgewollten Unmündigkeit endlich herauswachsen, um die Lebenswelten der Juden und ihrer Nachbarn wirklich frei begehen zu können. Trotzdem finde ich, dass die Osteuropa-Studien in Deutschland als eines der aktivsten Gebiete der Forschung vieles hervorgebracht haben: junge Forscher, die drei oder vier Sprachen, darunter Jiddisch, beherrschen, die auch die Vorgänge von mehreren Blickpunkten belichten können.
Heuberger: Für mich als Vertreterin der Jüdischen Studien sind vor allem vereinzelte lokal- und regionalhistorische Studien mit ihren zahlreichen Dokumenten hilfreich. Der interdisziplinäre Austausch wird vor allem dadurch behindert, dass die wichtigen hebräischen Arbeiten nicht übersetzt und deshalb in Osteuropa nicht bekannt sind, so wie auch der Westen viele der osteuropäischen Werke erst Jahre später kennenlernt.
Osteuropa: Jede Zeit richtet ihre eigenen Fragen an die Geschichte. Dan Diner bezeichnet die Geschichte der Juden als „Paradigma einer europäischen Historie“. Hat die Geschichte der osteuropäischen Juden auch eine spezifische Gegenwartsrelevanz für Europa?
Golczewski: Wenn Dan Diner damit meinte, dass in der Geschichte der Juden alles enthalten ist, was auch in anderen Teilbereichen der europäischen Geschichte thematisiert wird, dann gilt dies natürlich für Osteuropa auch. Aber daraus folgt nicht unbedingt eine Gegenwartsrelevanz. Dafür ist die jüdische Gruppe inzwischen in Relation zu klein, zu funktionslos – weil nicht von der gentilen Gesellschaft verschieden. Ich separiere hiervon ausdrücklich die Geschichte Israels, in der ich eine Kolonialgeschichte sehe. Von dieser wissen wir noch nicht, ob sie dem amerikanischen oder dem algerischen Modell folgen wird. Oder einem ganz anderen. Wenn man ganz ketzerisch sein will, dann kann man heute mehr Relevanz in der umstrittenen Aussage von Faruk Şen sehen, wonach die Türken die neuen Juden von heute seien, sehen, die zwar nicht wörtlich zutrifft, aber das gegenseitige Misstrauen von aufeinander angewiesenen Gruppen mit differenten Werteordnungen thematisiert, das bei entsprechender Politisierung in eine Katastrophe führen kann. Kugelmann: Die Behandlung von Minoritäten ist ein Maßstab für die Stabilität einer Gesellschaft. In diesem Sinn ist das „Paradigma“ zu verstehen und kann als Muster für die Analyse vergleichbarer Verhältnisse gelten.
Bechtel: Diese Paradigmen wurden schon zu Beginn der 20. Jahrhundert von der deutschen und amerikanischen Soziologie unterstrichen: der Jude als „Fremder“, also als Städter, als „modern“, als „Neurotiker“, als „Intellektueller“, als „Kosmopolit“, als „Außenseiter“, als Vermittler, als europäischer (Staats-)Bürger par excellence. Aber heute weiß ich nicht, ob das noch stimmt. Die Juden sind statistisch so „normal“, so (klein-)bürgerlich, voreingenommen, gebildet und ungebildet, kommunitaristisch … wie andere.
Guesnet: Nein, die Geschichte der osteuropäischen Juden hat keine spezifische Gegenwartsrelevanz für Europa. Jedenfalls keine, die sie interessanter oder relevanter machte als die Geschichte der Griechen oder Katalanen oder Deutschen. Sie ist für sich interessant und relevant. Sie bietet sich womöglich für den einen oder anderen Vergleich an. Im Moment wird zurecht vielfach auf die Parallelen in der Geschichte der europäisch-jüdischen Minderheiten zu jener der gegenwärtigen moslemischen Minderheiten in Europa hingewiesen. Die Unterschiede sollten hierbei jedoch nicht außer Acht gelassen werden.
Brenner: Sie zeigt, wie schnell und brutal eine die Gesellschaft so entscheidend mitprägende Kultur nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus dem Gedächtnis ihrer Umgebung verschwinden kann.
Heuberger: Während in Westeuropa das Modell der Emanzipation die angestrebte Integration der Juden als Individuen in die Gesellschaft bedeutete, waren die jüdischen Minderheiten in Osteuropa als Volksgruppe definiert und je nach Region in unterschiedlichem Maße als solche anerkannt. Diese Erfahrung kann als „Modell“ eines zukünftigen multikulturellen Europas mit verschiedenen Kulturen und ethnischen Identitäten gelten. Als Minderheit per se, die keiner anderen nationalen Bewegung angehörten, waren die Juden Osteuropas außerdem die einzigen „Europäer in einem geistigen Sinn“, die die Ideale und Vorstellungen eines übernationalen Europas verkörperten.
Osteuropa: Warum spielt die Erinnerung an die Opfer des Holocaust in den Staaten Osteuropas eine untergeordnete Rolle?
Golczewski: Stimmt ja gar nicht. Sie ist schließlich auch in der Negation und der Hervorhebung „eigener“ Opfer dauernd latent präsent. Die ganze Holodomor-Aktion der ukrainischen Regierung hat zum Ziel, die Hungertoten qualitativ und numerisch den Schoa-Opfern gleichzustellen. Darin ist die Anerkennung der Schoa enthalten – aber auch die Ausgliederung der Juden aus der „eigentlichen“ ukrainischen Gesellschaft. Zur Historisierung der neuen ukrainischen nationalen Identität eignen sich Bauern besser als Juden. Damit sagt dieser Prozess einiges über die Essentialisierung der „ukrainischen Nation“ aus. Diese Opferkonkurrenz ist in Polen stärker ambivalent. Hier kommt nämlich eine unterschiedliche christliche und jüdische Form des Gedenkens hinzu, welche die Konkurrenz anfacht. Dass bei einer Konkurrenz eine Parteinahme für die „Mannschaft“ erfolgt, die einem näher ist, wobei dann die andere Mannschaft leicht zum „Gegner“ wird, kennen wir aus dem Fußball. Letztlich ist dann der sowjetische Weg, die jüdischen Opfer in die eigenen sowjetischen ohne Kennzeichnung zu integrieren, so unsinnig nicht. Auch darin ist der seinerzeitige Versuch erkennbar, ein Sowjetvolk (sovetskij narod) zu konstruieren. Hinzu kommt, dass auch die Täter mit der Propaganda vom „jüdischen Bolschewismus“ operierten – und manche „Historiker“ noch heute so argumentieren. Aber diese Variante berücksichtigt nicht, dass Gruppen stets ihrer eigenen Opfer gedenken wollen. Wie sie sich diese Opfer aneignen ist sehr verschieden. Die DDR hat sich etwa (samt ihrer NDPD) zur Repräsentantin des deutschen „Antifaschismus“ erklärt. Und so stehen sich in Polen etwa die Israelis vom March of the Living und die polnischen Nationalisten gegenüber. Sie halten jeweils die Opfer der anderen Seite für weniger relevant als die eigenen. Aber um darüber zu streiten, müssen sie jeweils den diskursiven Wert der Schoa-Opfer in Rechnung stellen.
Bechtel: Für mich ist das heute eine der wichtigsten Trennlinien zwischen Ost und West: in Riga, in Lemberg, in Budapest, werden die Opfer des sowjetischen Terrors als „unsere Opfer“ den „anderen“, den Juden vorgezogen. Man baut noch eine Nationalgeschichte auf. Dabei ist das Bild der „Żydokomuna“ noch sehr prägnant. Juden erscheinen in der populären Darstellung zum Teil noch eher als Henker (NKVD-Leute, Kommunisten von Marx bis Trockij, Kaganovič als „Verantwortlicher für die Hungerkatastrophe in der Ukraine), denn als Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Die Traumata der sowjetischen Besatzung sind noch nicht bearbeitet, auch nicht die eigene Kollaboration mit den sowjetischen Behörden. Die Kollaboration mit den Nazis erst recht nicht. Wenn man die Opfer des Stalinismus verherrlicht, darf man nicht vergessen, dass dieselben Opfer des Stalinismus mitunter zuvor Arm in Arm mit den Nazis gegangen waren. Dies in seiner Komplexität aufzuarbeiten und anzuerkennen, hat in Deutschland oder auch in Frankreich Jahrzehnte gedauert. Mich beunruhigt, wie stark in Osteuropa Kategorien wie das „biologische Erbe“, das „ethnonationale Gut“, die „Gene des Volkes“ verbreitet sind. Das hat niemals Gutes verheißen.
Guesnet: Ich halte den Begriff „untergeordnet“ für problematisch. Wenn Sie Polen betrachten, so hat man dort in den Jahren seit der Veröffentlichung von Jan Tomasz Gross Buch ‚Nachbarn’ – und neuerdings über sein Buch ‚Angst’ – ausführlich über jene Opfer des Holocaust gesprochen, die in Jedwabne und anderswo von den polnischen Mittätern getötet wurden. Das war zweifelsohne notwendig, aber wo war da eine „Unterordnung“? Gleichzeitig gibt es einen ungeheuren Bedarf, an die Opfer von Unrecht und Gewaltherrschaft zu erinnern, die den diversen autoritären und diktatorisch-verbrecherischen Regime des 20. Jahrhundert gerade im östlichen Europa so zahlreich zum Opfer gefallen sind. Und das braucht Zeit. Franco starb 1975, und es hat etwa 30 Jahre gedauert, bis man in Spanien begonnen hat, die Opfer des Bürgerkriegs zu exhumieren. Hier geschieht wohl mehr, als man wahrnehmen kann, wenn man nur die großen Feuilletondebatten verfolgt. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: Im Łodzer Stadtteil Radogoszcz gibt es eine Abteilung des Muzeum Tradycji Niepodleglosciowych, das in den Ruinen eines Gefängnisses der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg errichtet wurde. Die Besatzer setzten das vollbesetzte Gefängnis in der Nacht vom 17. zum 18. Januar 1945 in Brand und ließen etwa 1500 Insassen bei lebendigem Leib verbrennen. In diesem Museum wurde in einer Fülle von Wechselausstellungen in vorbildlicher Weise an die polnischen und jüdischen Opfer der deutschen Besatzung gedacht, und es wird eben nicht mehr über einen Kamm geschert, sondern die Spezifik etwa des Łodzer Gettos sehr deutlich. Das heißt übrigens nicht, dass es nicht irritierend ist, dass es noch keine eigene Gedenkstätte für die vielen hunderttausend ermordeten Insassinnen und Insassen des Gettos gibt.
Heuberger Hier ist zunächst und vor allem auf den noch immer grassierenden Antisemitismus in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen hinzuweisen, vom virulenten politischen Antisemitismus in Ungarn, über den klerikalen in Polen, den nationalistischen in der Ukraine bis zur Verdrängung des Holocaust in Litauen. Dadurch fehlt bis heute eine Aufarbeitung der Schoah und des über Jahrhunderte existierenden Antijudaismus und Antisemitismus in seinen verschiedenen Facetten. Diese mangelnde Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit sowie der Rolle unter der NS-Besatzung und der Kollaboration führen dazu, dass die Opfer der Schoa verdrängt werden und vor allem die wenigen Überlebenden, die nicht ausgewandert sind, völlig negiert werden. Kugelmann: Die Heroisierung der Roten Armee, die Bewältigung der hohen Kriegsverluste und die kommunistische Meistererzählung vom Sieg über die kapitalistische Hemisphäre haben es nicht zugelassen, den Antisemitismus und die durch ihn motivierte Vernichtungspolitik überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Diese Erfahrung musste, wie andere nationale Narrative auch, unterdrückt werden.
Lipphardt: Ich halte es für wenig sinnvoll, den Stand der Aufarbeitung in Osteuropa mit Maßstäben zu messen, die sich an der gegenwärtigen Situation im Westen orientieren. Auch in der Bundesrepublik dauerte es nach dem Zweiten Weltkrieg sehr lange, bis die Auseinandersetzung mit dem Holocaust tatsächlich begann. Ob diese ohne die Anstöße von außen wie die Reeducation-Programme oder den Eichmann-Prozess in Gang gekommen wäre, wage ich zu bezweifeln. Auch wenn durch die EU-Integration erinnerungspolitisch vieles auf den Weg gebracht wurde, befinden sich die osteuropäischen Gesellschaften immer noch im Umbruch. Dazu gehört die Revision der sowjetischen und kommunistischen Geschichtsauffassung. Zunächst wurde das jahrzehntelange Ringen um politische Selbstbestimmung rehabilitiert, das von den Kommunisten bis 1989 als bürgerlich-faschistoider Nationalismus diskreditiert worden war. Diese nationale, mitunter gar nationalistische Neubewertung der Vergangenheit belastete die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Insbesondere werden die Vorfälle im Zweiten Weltkrieg gegensätzlich bewertet. Die großen Wissensdefizite über den Holocaust und der weitverbreitete Antisemitismus verschärfen dies. Im Baltikum etwa sehen sich viele Menschen, die auf eine lange Geschichte der politischen Unterdrückung zurückblicken, immer noch nur als Opfer. Aus dieser Verteidigungsposition sind sie weder bereit, ihr Verhalten während des Holocaust selbstkritisch aufzuarbeiten, noch erkennen sie, dass sie inzwischen die Mehrheitsgesellschaften souveräner Staaten bilden, die den einheimischen Minderheiten das Verständnis und die Toleranz zukommen lassen müsste, die sie früher für sich eingefordert haben. Die Erinnerung an die Opfer des Holocaust ist ohne Zweifel von zentraler Bedeutung für ein pluralistisches, historisch reflektiertes Gesellschaftsverständnis in Osteuropa. Diese Erinnerung muss mit einer umfassenden Aufarbeitung der Vergangenheit einhergehen. Da dürfen die Kollaboration, die hartnäckige Präsenz des Zerrbilds von der „Żydokomuna“ in Polen oder des „doppelten Genozids“ in Litauen nicht ausgespart werden. Diese Erinnerung schließt auch eine faire Rückübertragung von Eigentum und Entschädigung für Enteignungen ein.
Brenner: Für mich schließt sich da der Kreis. Darauf würde ich dieselbe Antwort geben wie zum Auftakt des Gesprächs.
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