Titelbild Osteuropa 8-10/2008

Aus Osteuropa 8-10/2008

Verdrängung, Aufarbeitung, Erinnerung
Das jüdische Erbe in Litauen

Vytautas Toleikis

Volltext als Datei (PDF, 94 kB)


Abstract in English

Abstract

Wichtige Zentren jüdischen Lebens in Osteuropa lagen auf dem Gebiet des heutigen Litauens. Die Nationalsozialisten und ihre litauischen Helfer ermordeten fast alle Juden. In der Sowjetunion waren das Gedenken an sie und die Pflege des jüdischen Erbes tabu. Dies änderte sich mit Litauens Unabhängigkeit. Doch eine Mitverantwortung an der Ermordung der litauischen Juden anzukennen, stößt in Teilen der Politik auf Widerstand. Die Weigerung, mutmaßliche Holocaust-Verbrecher zu verfolgen, ist irritierend. In der Gesellschaft und im Geschichtsbild der jungen Generation nimmt dagegen das jüdische Erbe zunehmend einen festen Platz ein.

(Osteuropa 8-10/2008, S. 455–464)

Read this article's international version:
Repress, Reassess, Remember

Volltext

Am Anfang war das Nichts. Als Litauen 1991 von der Sowjetunion unabhängig wurde, waren seit der Ermordung der 200 000 litauischen Juden unter den Nationalsozialisten fünfzig Jahre vergangen. Auf die physische Vernichtung war unter sowjetischer Herrschaft die Auslöschung der Erinnerung gefolgt. Vom jüdischen Vilnius, einst Jerusalem des Nordens genannt, war ebenso wenig geblieben wie vom jüdischen Kaunas, einem Zentrum rationalistischer talmudischer Gelehrsamkeit. 1949 wurde das einzige jüdische Museum der UdSSR in Vilnius geschlossen, einige Jahre später die jiddischen Grundschulen in Kaunas und Vilnius. Stattdessen hatte die Sowjetunion den Holocaust als jüdische Katastrophe verschwiegen und antizionistische, teils sogar antisemitische Stereotype gestreut. So wurde etwa die jiddische Aufschrift auf dem Denkmal bei der Massenexekutionsstätte in Ponariai (Ponar) bei Vilnius ebenfalls 1949 geändert: Die neue, litauische und russische Inschrift, erinnerte nicht mehr an die Vernichtung der Juden, sondern an den Mord an „Sowjetbürgern“. Der Holocaust wurde auch dadurch verdrängt, dass die Spuren der vernichteten jüdischen Kultur dem Vergessen anheim gestellt wurden. So ließen die sowjetischen Machthaber die alten jüdischen Friedhöfe verfallen, in den größeren Städten zerstörten sie die Ruhestätten und verwendeten die Grabsteine als Baumaterial für Straßen und Häuser. Die Große Synagoge in Vilnius, deren Dach durch einen Brand zerstört worden war, ließ die Stadt verfallen. Schließlich ließen sie die Behörden abreißen, um an dieser Stelle einen Kindergarten – ein Symbol für die lichte Zukunft der Sowjetunion – zu bauen. Auf dem jüdischen Friedhof im Vilniuser Stadtteil Šnipiškės – einst einer der berühmtesten Europas, der zwar bereits in der Zarenzeit geschlossen, aber unversehrt geblieben war – entstand ein Kultur- und Sportpalast. Nur die Gebeine der bekanntesten Toten wie die des Gaon von Vilnius, des „Ger Zedek“ Graf Valentin Pototzki sowie die berühmter Funktionäre des Bund wurden auf den jüdischen Friedhof in der Sudervė-Straße umgebettet, wobei das Grab des Gaon von Vilnius 1953 zunächst auf den jüdischen Friedhof in Užupis gebracht worden war, bis dieser 1968 ebenfalls abgerissen wurde. Nach dem Krieg wurden fast alle Synagogen, die nach dem Holocaust noch standen – die meisten der einzigartigen Holzsynagogen hatten die Nationalsozialisten niedergebrannt –, in Lagerhallen, Schulsportsäle und Geschäfte umgewandelt. Nur in Vilnius, Kaunas und Plungė blieben noch einige Zeit lang Synagogen geöffnet. Die sowjetischen Behörden tilgten jiddische Inschriften auf Häusern und rissen die für jüdische Läden und Handwerksbetriebe typischen Schriftkapseln (Mesusa) an den Türpfosten heraus. An den Schauplätzen der Massenerschießungen von Juden wurden Gedenktafeln mit der Aufschrift angebracht: „An diesem Ort haben die Hitler-Okkupanten und ihre freiwilligen Helfer – die bourgeoisen Nationalisten – Sowjetbürger erschossen.“ Jeder wusste, dass diese Sowjetbürger vor allem Juden und die „bourgeoisen Nationalisten“ vor allem Litauer gewesen waren. Auf diese Weise verschwanden fast alle Spuren des jüdischen Lebens in Litauen. Spurensuche In den 1960er Jahren wurde es erstmals möglich, über die Verbrechen zu schreiben, die an Juden verübt worden waren. 1960 erschien der schmale Band des Journalisten Stasys Bistrickas Und die Erschossenen bezeugen es über „die Verbrechen der Hitler-Okkupanten und der bourgeoisen Nationalisten in Ponar“. 1963 folgte die Dokumentensammlung Die Ermordeten klagen an, eine „Reportage über die Gerichtsprozesse gegen die litauischen Kriegsverbrecher in Vilnius und Kaunas im Jahr 1962“. Diese Prozesse wurden parallel zum Eichmann-Prozess in Jerusalem geführt und in der Sowjetpresse breit dokumentiert. Auch das Verfahren in Israel wurde in Litauen nicht verschwiegen. 1963 erschien das Tagebuch von Mascha Rolnikaitė, einer „ehemaligen Insassin des Ghettos von Vilnius und des Konzentrationslagers Stutthof“, 1967 Sofija Binkienės Buch Kriege – auch ohne Waffen über Judenretter. 1969 folgte das Buch Das Ghetto von Kaunas und seine Kämpfer von Meiris Eglinis-Elinas und Dimitrius Gelpernas. 1965 erschien schließlich der erste Band der erschütternden zweibändigen Dokumentensammlung Massenerschießungen in Litauen, die deutlich machte, wer die Hauptopfer der Nationalsozialisten gewesen waren. Diese Bücher wurden jedoch in Litauen kaum gelesen, da sie mit ideologischen Vorworten und Kommentaren versehen waren. Die Sowjetpropaganda setzte die Nazi-Kollaborateure mit den Anhängern eines unabhängigen litauischen Staates gleich und bezeichnete das „bourgeoise Litauen“ als treuen Helfer des Faschismus. Darüber hinaus legten die sowjetischen Behörden dieses Rinnsal der Erinnerung bereits nach einem Jahrzehnt wieder trocken. Nach der Auswanderung vieler Juden nach Israel, die Anfang der 1970er Jahre begann, wurde sogar auf geheime Anordnungen eine Reihe von Büchern aus allen litauischen Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt. Darunter befanden sich die autobiographischen Skizzen von Mejeris Elinas-Eglinis, die in der gesamten Sowjetunion verbreiteten Werke von Icchokas Meras und die Gedichtsammlungen des Poeten Giršas Ošerovičius. Stattdessen ergoss sich eine Flut von Pamphleten über das Land, die Propaganda gegen Israel und auswanderungswillige Juden machten. Prominente Persönlichkeiten jüdischer Herkunft wie der bekannte Sportjournalist Saliamonas Vaintraubas oder der für seine militärischen Verdienste im Zweiten Weltkrieg als Held der Sowjetunion geehrte Volfas Vilenskis wurden genötigt, die üblichen Erklärungen gegen angebliche zionistische Kriegstreiber zu unterschreiben. Ein Genre, das die Erinnerung an den Holocaust ermöglichte, war die Memoirenliteratur, die auch von jüdischen Autoren verfasst wurde. Allerdings stammten diese ausschließlich aus den Reihen der Kommunistischen Partei, des Komsomol oder anderer sowjetischer Organisationen, oder es waren Angehörige der sechzehnten sowjetischen Division, ehemalige Partisanen oder Männer, die bereits vor dem Krieg bei den roten Pionieren gewesen waren. Mascha Rolnikaitė schreibt etwa in ihrer Schilderung des Untergrunds im Ghetto von Vilnius ausschließlich von Kommunisten und Komsomolzen. Von den Bundisten, Zionisten und Vertretern anderer Parteien, die zu der vereinigten Untergrundorganisation gehörten, erwähnt sie kein Wort. Ähnlich sah es beim Film aus: Zwei Spielfilme mit deutlichen Anspielungen auf den Holocaust, Žingsniai naktį (Schritte in der Nacht) von Raimundas Vabalas aus dem Jahr 1962 über die Flucht jüdischer Gefangener aus dem IX. Fort bei Kaunas und Ave, vita! von Almantas Grikevičus von 1969 handeln vom Widerstand gegen die Nationalsozialisten, ohne die Helden jüdischer Herkunft zu erwähnen. Dass von Juden nur dann die Rede sein durfte, wenn diese Kommunisten waren, hat natürlich das antisemitische Stereotyp verstärkt, alle Juden seien Kommunisten. Verstärkt wurde diese Wahrnehmung dadurch, dass unter die Definition „Teilnehmer am revolutionären Kampf“ die komplette linksgerichtete Jugend subsumiert wurde, so dass es in sowjetlitauischen Enzyklopädien von jüdischen Namen wimmelte. Euphorie und Rückschläge: Die Perestrojka und die Folgen Als 1988 die litauische Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis gegründet wurde, versuchten die sowjetischen Machthaber, die Sąjūdis-Anhänger als radikale Nationalisten zu verunglimpfen. Es waren aber gerade jüdische Künstler und Literaten wie Emanuelis Zingeris, Vorsitzender des Jüdischen Kulturvereins Litauens, oder Grigorijus Alpernas, Vorsitzender des Vereins zur Wiedergeburt des nationalen Selbstbewusstseins Tkuma die Sąjūdis 1988 in offenen Briefen schon sehr früh ihre Unterstützung aussprachen und dafür sehr viel Zuspruch bei der litauischen Bevölkerung ernteten. Auch eine von Emanuelis Zingeris – dem späteren Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Vilnius und langjährigen Parlamentsabgeordneten, der damals Dozent an der Universität Vilnius war – organisierte Ausstellung über die Kunst litauischer Juden, die eine Woche nach der Gründung von Sąjūdis im Juni 1988 in Kaunas eröffnet wurde und später auch in Vilnius zu sehen war, trug zu einer Annäherung von Juden und Nicht-Juden in Litauen bei. Zingeris verstand es, der litauischen Gesellschaft zu verdeutlichen, welch ein reiches Erbe mit der Zerstörung und später der Verdrängung des jüdischen Lebens in Litauen verlorengegangen war. Die Litauer sahen die Juden zu dieser Zeit als Verbündete im Kampf für die Unabhängigkeit. Als litauische Juden am 5. März 1989 einen Kulturverband gründeten, gratulierten ihnen führende Mitglieder von Sąjūdis persönlich und entschuldigten sich für die Kollaboration ihrer Landsleute mit den Nationalsozialisten. In dem Maße, in dem Litauen sich aus der Sowjetunion löste, wurden die Erinnerung an das jüdische Erbe und das Gedenken an die Opfer des Holocausts wieder zugelassen und offiziell gefördert. Bereits Ende 1989 hatte die Regierung der damals noch zur Sowjetunion gehörenden Republik die Wiedereröffnung des 1949 geschlossenen Jüdischen Museums zugelassen. Am 13. Februar 1991 – vier Tage nach dem Referendum über die Unabhängigkeit – entschied die litauische Regierung, dass die verstreuten Sammlungen des einstigen jüdischen Museums dem neuen Jüdischen Museum übergeben werden sollen. Im Oktober 1989 eröffnete die jüdische Mittelschule Scholem Alejchem in Vilnius ihre Pforten. Zu dieser Zeit wurden auch viele jüdische Organisationen gegründet. Ministerpräsident Adolfas Šleževičius und Präsident Algirdas Brazauskas erkannten bei Staatsbesuchen in Israel Mitte der 1990er Jahre in der Knesset die Verbrechen von Litauern während des Zweiten Weltkriegs an und baten die überlebenden Juden und die Nachfahren der Opfer um Vergebung. Allerdings hatte die Unabhängigkeit Litauens auch Schattenseiten. So wurden alle Personen rehabilitiert, die vom sowjetischen Geheimdienst verurteilt worden waren, ungeachtet der Gründe für die Verurteilung. Auf diese Weise wurde auch eine Reihe von Kriegsverbrechern reingewaschen, die in der Sowjetunion nicht für die Teilnahme am antisowjetischen Kampf, sondern für die Beteiligung an den Massenmorden an den Juden unter nationalsozialistischer Besatzung verurteilt worden waren. Diese Entscheidung wurde zwar später revidiert, doch da hatte die Exkulpierung der Mörder bereits eine internationale Welle der Empörung ausgelöst, auf die Litauen unangemessen reagierte. Statt sich bei der jüdischen Gemeinde zu entschuldigen, sahen viele Litauer eine Intrige des Kremls. Etwa zur selben Zeit begannen die USA, Personen litauischer Herkunft, die im Verdacht standen, sich an den Verbrechen der Nationalsozialisten beteiligt zu haben, nach Litauen auszuweisen. Viele von ihnen hatten sich in der Emigration einen guten Ruf erworben, so dass die Aufdeckung ihrer Vergangenheit für die litauische Gesellschaft, besonders aber für die Diaspora, einen Schock bedeutete. Besonders große Aufmerksamkeit erregte Ende der 1990er Jahre das Verfahren gegen Aleksandras Lileikis, der unter nationalsozialistischer Herrschaft die litauische Sicherheitspolizei Saugumas im Bezirk Vilnius geleitet und später in den USA an der Edition der Bostoner Enzyklopädie, einem Standardwerk zur litauischen Geschichte mitgearbeitet hatte. Der internationale Druck auf Litauen, den etwa das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem ausübte, verstärkte die Abwehrhaltung. Etwa zur selben Zeit verbreitete sich in Litauen die aus dem Milieu der litauischen Emigration in den USA kommende Theorie der zwei Genozide. Dieser zufolge hätten sich die Juden als Kollaborateure an dem Völkermord an den Litauern durch die sowjetischen Besatzer im Jahre 1940 beteiligt; nach der Befreiung durch die Deutschen hätten die Litauer spontan Rache an den jüdischen Verrätern genommen. Ein prominenter Vertreter dieses apologetischen Geschichtsbildes ist der Schriftsteller Jonas Mikelinskas, dem die renommierteste litauische Literaturzeitschrift Metai Platz für einen Aufsatz einräumte, in dem er die Schuld am Holocaust letztendlich den Juden selbst zuschrieb. Diese These fand erschreckend viele Anhänger in Litauen. Die Hoffnungen auf ein einvernehmliches Zusammenleben von Juden und Litauern, die Anfang der 1990er Jahre so groß gewesen waren, hatten sich ein Jahrzehnt später verflüchtigt. Die Zivilgesellschaft erwacht Der Streit um die Beteiligung und Verantwortung von Litauern an der Ermordung der litauischen Juden förderte zwar ein erhebliches antisemitisches Potential zu Tage. Gleichzeitig begann die litauische Gesellschaft aber Ende der 1990er Jahre, sich intensiv mit dem bedeutenden jüdischen Erbe und der Ermordung der litauischen Juden auseinanderzusetzen. Der aus der Gesellschaft kommende Impuls – Druck aus dem westlichen Ausland spielte keine erhebliche Rolle – war in dieser Zeit viel stärker als anderswo in Ostmitteleuropa. Dies ist vor allem dem Engagement nichtstaatlicher Initiativen zu verdanken. Sie gewannen viele ehrenamtliche Mitarbeiter, weckten das Interesse von Politikern und Behörden, knüpften Beziehungen zu Partnern im Ausland und arbeiteten konstruktiv mit nichtstaatlichen und staatlichen Institutionen zusammen. Bis Ende der 1990er Jahre waren es vor allem die jüdische Gemeinde, das Jüdische Museum, die Pädagogische Universität Vilnius sowie ausländische Organisationen gewesen, die sich für die Bewahrung des jüdischen Erbes eingesetzt hatten. 1999 brachten etwa die internationale jüdische Organisation B’nai B’rith und das United States Holocaust Memorial Museum mit Unterstützung des litauischen Bildungsministeriums ein zweibändiges Schulbuch zum Holocaust heraus, das an Schulen in ganz Litauen verteilt wurde. Im Unterricht wurde es jedoch kaum eingesetzt, da es sich sehr stark von den gängigen Lehrbüchern unterschied und die Lehrer nicht didaktisch geschult worden waren. Aus diesen Fehlern wurden Konsequenzen gezogen. Gemeinsam mit dem britischen Holocaust-Bildungszentrum Beth Shalom veranstaltete das litauische Lehrerfortbildungszentrum Didaktikseminare für Lehrer. 2001 produzierte das britische Zentrum dann den zweistündigen Unterrichtsfilm Saulėlydis Lietuvoje (Sonnenuntergang in Litauen). Er informiert über die litauisch-jüdische Kultur, über den Holocaust und über die Beziehungen zwischen Litauern und Juden. Zu diesem Film gibt es nicht nur ein didaktisches Begleitbuch. In ganz Litauen wurden Lehrer in Didaktikseminaren geschult, um ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie der Film in den Unterricht integriert werden könne. Je mehr sich aber seit Ende der 1990er Jahre litauische Organisationen für eine Wiederentdeckung des jüdischen Erbes und eine Aufarbeitung des Holocaust zu interessieren begannen, desto mehr stieg auch die Resonanz für das Thema in der Gesellschaft. Im Jahr 2000 wurde etwa der Verein Haus der Erinnerung gegründet. Er schrieb fünf Geschichtswettbewerbe zum Thema Die Juden – Nachbarn meiner Großeltern und Urgroßeltern aus, an denen Schüler aus ganz Litauen teilnahmen. Sie zeichneten die Erinnerungen ihrer Großeltern an ehemalige jüdische Nachbarn auf, sammelten historische Fotografien und fotografierten Häuser, in denen Juden gelebt hatten. Die besten Schülerarbeiten wurden veröffentlicht und die Autoren zur Auszeichnung nach Vilnius eingeladen. Außerdem gründete der vom Ministerium für Wissenschaft und Bildung unterstützte Verein in Schulen, Bildungszentren und Museen Geschichtsklubs, organisierte Exkursionen in die ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz, Stutthof und Klooga (Estland) und gab Bücher über das jüdische Erbe und den Holocaust heraus. Die 1999 vom litauischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft gegründete Stiftung Neue Bildung (Švietimo kaitos fondas) organisierte in den Jahren 2001–2004 zusammen mit dem Kulturministerium vier landesweite Wettbewerbe für regionale Museen. 2001 lautete das Thema „Die Geschichte des Holocaust in unserer Region“, 2002–2004 „Die Geschichte der jüdischen Gemeinschaften in unserer Region“. 2005 richtete die Stiftung eine im Internet zugängliche Datenbank ein, in der Projekte zum Thema Holocaust an Schulen, Universitäten, Museen und anderen staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen verzeichnet sind. Zudem erstellte die Stiftung eine interaktive Landkarte, in der die ca. 200 bekannten Schauplätze der Massenmorde in Litauen verzeichnet sind. Mit politischer Bildung über den Holocaust beschäftigt sich auch die Internationale Kommission zur Bewertung der Verbrechen des nationalsozialistischen und des sowjetischen Okkupationsregimes in Litauen (Tarptautinė komisija nacių ir sovietinio okupacinių režimų nusikaltimams Lietuvoje įvertinti), die Präsident Valdas Adamkus im September 1998 ins Leben rief. Internationale jüdische Organisationen kritisierten zunächst, dass die Ausrichtung der Kommission auf nationalsozialistische und sowjetische Verbrechen den Holocaust verharmlose. Nachdem namhafte Historiker aus den USA und Israel in die Kommission berufen wurden und dem Ruf folgten, verstummte die Kritik zunächst. Das im Jahr 2002 vorgestellte Bildungsprogramm löste jedoch in Litauen eine Kontroverse aus, die beispielhaft zwei Formen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Litauen aufzeigt: Für die einen ist die Aufarbeitung der Vergangenheit politisch motiviert, sie dient vor allem der internationalen Reputation Litauens. Für die anderen ist die Erinnerung an die Verbrechen, die von Litauern begangen wurden, eine Frage der Moral. So kritisierten Historiker und Multiplikatoren, die sich schon seit vielen Jahren um die Aufklärung der litauischen Gesellschaft über den Holocaust bemühten, die Kommission werde vom Staat dafür finanziert, dass sie historische Forschung organisiert, nicht aber für Aktivitäten in der politischen Bildung. Empörung löste auch die Äußerung von Snieguolė Matonienė, der Leiterin des Bildungsprogramms, aus, die Lehrer beschäftigten sich mit jüdischen Themen, „um Karriere zu machen“. Auch wurde kritisiert, die Kommission werbe zu sehr dafür, dass litauische Lehrer und Multiplikatoren zu Fortbildungskursen ins Ausland reisen sollten. Als irritierend wurde zudem empfunden, dass die Kommission im Ausland den Eindruck erweckte, in Litauen stünde die Aufarbeitung des Holocaust erst ganz am Anfang und die bestehenden Initiativen arbeiteten unprofessionell. Besonders angegriffen fühlten sich die Autoren eines Lehrbuchs über die Geschichte Litauens, das die Kollaboration mit den Nationalsozialisten ausführlich und ohne Auslassungen beschreibt. Auf Unverständnis stießen schließlich ein Kooperationsvertrag zwischen dem litauischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft und der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem sowie die übereilte Gründung von Toleranzzentren in litauischen Schulen und Universitäten, da man befürchtete, dass für die Implementierung dieses sensiblen Themas in das Bildungssystem nicht ausreichend motivierte Lehrer zur Verfügung ständen. Mit der Zeit näherten sich die Positionen allerdings an. Die Stiftung Neue Bildung organisierte gemeinsam mit der Kommission an litauischen Schulen den Geschichtswettbewerb Von Bürgerinitiativen zur Bürgergesellschaft. Auch erarbeiteten die Stiftung Neue Bildung, das Jüdische Museum und das Ministerium für Bildung und Wissenschaft gemeinsam ein staatliches Bildungsprogramm zur Aufklärung über den Holocaust. Trotz dieser Initiativen ist zu konstatieren, dass das jüdische Erbe bis heute nur in den großen Städten – vor allem in Vilnius und Šiauliai, in geringerem Maße auch in Kaunas – von einer breiten Öffentlichkeit als Teil der litauischen Geschichte und Kultur anerkannt wird. In der Provinz sind es nur einzelne Idealisten wie jene Lehrer, die ihre Schüler ermuntern, an den erwähnten Wettbewerben teilzunehmen, welche die Gleichgültigkeit durchbrechen. Ein Lichtblick ist das Museum von Kėdainiai. Den Mitarbeitern gelang es, zwei Synagogen in der Altstadt der zentrallitauischen Stadt zu restaurieren. Eine der beiden Synagogen ist zu einem multikulturellen Zentrum geworden. Hier finden Veranstaltungen zur jüdischen Geschichte und Kultur statt, es werden Projekte zur Förderung von Toleranz organisiert und Lehrmaterial über die Vergangenheit der Juden im Gebiet von Kėdainiai erstellt. Sehr aktiv ist auch die in Mittellitauen gelegene Kleinstadt Kaišiadorys. Das Stadtmuseum gab ein Buch des Historikers Rolandas Gustaitis über die Juden der Region von Kaišiadorys heraus und half, die hölzerne Synagoge im nahegelegenen Dorf Žiežmariai zu erhalten. Die Schüler der Kindermusikschule des Dorfes Rumšiškės im Kreis Kaišiadorys stellten ein Programm über die ausgerottete jüdische Gemeinde von Rumšiškės zusammen und nahmen die CD Die vergessene Melodie von Rumšiškės auf. Dies ist die erste CD mit jiddischen Liedern in litauischer Übersetzung. Das bekannte ethnographische Freilichtmuseum von Rumšiškės, in dem Bauernhäuser aus allen Regionen Litauens und seit Anfang der 1990er Jahre ein ganzes, für Kleinlitauen typisches Städtchen mit einer Holzkirche, einer Kneipe, einer Schmiede, Geschäften und dem Marktplatz zu sehen sind, ließ in Abstimmung mit der Jüdischen Gemeinde eine erhalten gebliebene Holzsynagoge in dem Städtchen aufstellen. Auch in den Kleinstädten Kalvarija und Joniškis im Südwesten bzw. im Norden Litauens sollen Synagogen restauriert werden. Viele dieser ehemaligen Gebetshäuser, insbesondere die aus Holz errichteten, verfallen jedoch. Wenigstens versuchen die Kunstakademie Vilnius und das Zentrum für die Erforschung der Kultur und der Geschichte der osteuropäischen Juden, alle Synagogen zu erfassen, zu beschreiben und zu fotografieren. Ähnliche Projekte verfolgen auch das Jüdische Museum und das zum Kulturministerium gehörende Amt für den Schutz von Kulturgütern. Vor diesem Hintergrund stimmt es optimistisch, dass in den letzten Jahren einige Denkmäler und Gedenktafeln für jüdisch-litauische Schriftsteller, Künstler und Musiker errichtet wurden. In Kaunas wurde etwa in der zentral gelegenen Laisvės alėja (Freiheitsallee) ein Denkmal für den legendären Schlagersänger Danielius Dolskis (1891–1931) errichtet. In Vilnius wurde eine Skulptur errichtet, die den angesehenen Arzt, Medizintheoretiker und Politiker Cemachas Šabadas zeigt, der im gesamten postsowjetischen Raum als Prototyp des Kinderbuches Doktor Ajbolit von Kornej Čukovskij bekannt ist. Auch für den in Vilnius geborenen französischen Schriftsteller Romain Gary wurde ein Denkmal errichtet. Alle drei Skulpturen stammen von dem Bildhauer Romualdas Kvintas. Neben den Skulpturen gibt es inzwischen etliche Gedenktafeln, etwa für Joseph Brodsky, Jascha Heifetz, Theodor Herzl, Emmanuel Levinas, den Maler Rafael Chvoles, den Dichter Moshe Kulbak und den Gründer des jiddischen Forschungsinstituts YIVO Max Weinreich. Viele dieser Gedenktafeln wurden auf Initiative des Vorsitzenden der Litauisch-Israelischen Gesellschaft Pranas Morkus angebracht. Resümee Während die litauische Gesellschaft in den letzten zehn Jahren begann, sich intensiver mit dem jüdischen Erbe und dem Holocaust auseinanderzusetzen, haben die meisten Beamten in den staatlichen Behörden immer noch sehr vage Vorstellungen von der jüdischen Vergangenheit Litauens und zeigen wenig Bereitschaft, sich mit dieser auseinanderzusetzen. Das gilt nicht nur für lokale Behörden, sondern auch für das Justiz- und das Kulturministerium, ja sogar für das Ministerium für Wissenschaft und Bildung sowie für das Außenministerium. Auch in den Köpfen vieler Politiker geistern noch die Stereotype aus der Zwischenkriegs- und der Nachkriegszeit herum. Sie betrachten die Bewahrung des kulturellen Erbes der litauischen Juden zumeist als fremde, nicht-litauische Angelegenheit, die Litauen vom Westen aufgezwungen werde. Es sei nicht Aufgabe des litauischen Staates, Friedhöfe und Synagogen instand zu setzen oder Gedenktafeln anzubringen, sondern Aufgabe der Juden. Diese seien schließlich reich… Auf der einen Seite darf man somit nicht vergessen, dass jene Haltung, die dazu geführt hat, dass die Prozesse gegen Litauer, die mutmaßlich am Völkermord an den Juden beteiligt waren, verschleppt wurden, keineswegs verschwunden ist. Auf der anderen Seite zeichnet sich schon heute ab, dass die Jugend die Geschichte der Juden als Teil der litauischen Geschichte sieht. Ab und an flackert dieser neue Geist auch in der Politik auf: Im Juni 2008 bewilligte die litauische Regierung den Bau eines neuen Museums, das in Zusammenarbeit mit der Eremitage in St. Petersburg und dem Guggenheim-Museum in New York konzipiert wurde. Es soll nicht nur Avantgardekunst, vor allem des in Litauen geborenen amerikanischen Regisseurs Jonas Mekas sowie des Musikers und Videokünstlers George Maciunas (Jurgis Mačiūnas) nach Vilnius bringen, sondern auch über eine Abteilung mit Kunst von Litwaken verfügen. Aus dem Litauischen von Cornelius Hell, Wien

Volltext als Datei (PDF, 94 kB)