Editorial
Dialektik der Aufrüstung
Manfred Sapper, Volker Weichsel
Abstract in English
(Osteuropa 10/2009, S. 34)
Volltext
Zwei Lager, eine Welt. Dies war die historische Konstellation des Kalten Kriegs. West und Ost, kapitalistische und kommunistische Ordnung standen einander seit den späten 1940er Jahren in phasenweise erbitterter Systemkonkurrenz gegenüber. Und trieben so die Globalisierung voran. Der Rüstungswettlauf zwischen der USA und der Sowjetunion führte dazu, dass Washington und Moskau sich in den 1960er Jahren die wechselseitige Vernichtung durch einen atomaren Zweitschlag „garantierten“. Gleichzeitig schärfte die Fähigkeit zur umfassenden Vernichtung nach der Kuba-Krise 1962 das Bewusstsein für die globale Verantwortung. Der Wettlauf ins All, bei dem es nicht nur um militärische Vorteile, sondern auch um naturwissenschaftlich-technischen Prestigegewinn und politisches Legitimationskapital ging, veränderte den Blick auf die Welt: Die aus dem All aufgenommenen Bilder der Erde waren ein erster Aufruf zum globalen Denken. Wie nahe Hybris und Demut, politisch-militärische Konfrontation und das Wissen um die Notwendigkeit von Kooperation beieinander lagen, zeigt das sowjetische Plakat mit dem riesenhaften Jurij Gagarin auf der Titelseite dieses Bands. Die Sowjetunion hat den ersten Menschen ins Weltall geschossen, der neue Weltenherrscher ist der Sowjetmensch. Das Original ziert der Jurij Gagarin zugeschriebene Satz: „Als ich die Erde in meinem Raumschiff umkreiste, sah ich, wie schön unser Planet ist. Lasst uns diese Schönheit erhalten und vermehren, statt sie zu zerstören.“ Raum für Kooperation boten vor allem die anderthalb Jahrzehnte der Entspannung, bis Ende der 1970er Jahre. In diese Zeit fällt die Entdeckung des menschengemachten Klimawandels und die in Ost und West vorgetragene Forderung nach einer globalen Umweltpolitik. Die gemeinsame Forschung zur Bewältigung der ökologischen Probleme, die sich auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs angehäuft hatten, steht auch an den Anfängen jener Technik, die zum Symbol der Globalisierung schlechthin geworden ist: des Internets. Die ersten transnationalen Datennetze von 1977 dienten dem Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse. Doch man mache sich keine falschen Vorstellungen: Im Jahrzehnt der Entspannung ging der Systemwettbewerb weiter. Und er wurde ungeachtet des geteilten Bewusstseins für die Grenzen des Wachstums auf dem Feld des Massenkonsums ausgetragen. Die Individualmotorisierung etwa, die in den meisten osteuropäischen Staaten in diesen Jahren mit Hilfe westlicher Lizenzproduktionen begann, ahmte das kapitalistische Modell nach. Konsumistische und kommunistische Heilsversprechung lagen nicht mehr weit auseinander. Dass sich die Konvergenz der Lebensstile nicht Bahn brechen konnte, lag vor allem an der ökonomischen Schwäche des Ostens. Die ideologischen Widersprüche des Ost-West-Konflikts sind mit dem Zusammenbruch des Kommunismus obsolet geworden. Die Technikeuphorie hat ihren Zenit überschritten, die Naturwissenschaft ist weitgehend aus dem Korsett der politischen Instrumentalisierung befreit worden. Die Folgen des wachstumssüchtigen Gesellschaftsmodells sind jedoch in Ost und West, lokal und global zu spüren. Eine verantwortungsvolle ökologische Weltpolitik steht noch aus.