Titelbild Osteuropa 12/2009

Aus Osteuropa 12/2009
Teil des Lesepaket Ideengeschichte

Slavizität
Identitätsmuster, Analyserahmen, Mythos

Stefan Troebst

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Abstract in English

Abstract

Die Vorstellung eines sämtliche Slawen oder Slawischsprachige in Raum und Zeit verbindenden Elements hat viele Gesichter: "Slavizität" fungiert periodisch als politisch wirksames Mobilisierungsinstrument, sie leitet das Erkenntnisinteresse kulturwissenschaftlicher Forschung, und sie ist bis heute ein höchst produktiver Mythos in Kunst und Literatur. Im Zeichen der "Slawisierung" der Europäischen Union ist mit dem Aufkommen neuer Dimension von Slavizität zu rechnen.

(Osteuropa 12/2009, S. 7–20)

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Die Vorstellung eines sämtliche Slawen oder Slawischsprachige in Raum und Zeit verbindenden Elements hat viele Gesichter: „Slavizität“ fungiert periodisch als politisch wirksames Mobilisierungsinstrument, sie leitet das Erkenntnisinteresse kulturwissenschaftlicher Forschung, und sie ist bis heute ein höchst produktiver Mythos in Kunst und Literatur. Im Zeichen der „Slawisierung“ der Europäischen Union ist mit dem Aufkommen neuer Dimensionen von Slavizität zu rechnen. PANSLAWISCHE SOLIDARITÄT ODER „SLAWOPHILE ONANIE“? Im Sommer 1876, als die Fürstentümer von Serben und Montenegrinern mit dem Osmanischen Reich einen Krieg um die Hercegovina führten, geleitete der zarische General Michail Černjaev ein „slawisches Aufgebot“ von 4000 russischen Freiwilligen auf den Balkan, um den „orthodoxen Brüdern“ zu Hilfe zu eilen. Černjaevs Absicht, die herzegowinischen Südslawen auf alle Zeit vom „türkischen Joch“ zu befreien, scheiterte indes kläglich, denn auf dem Berliner Kongress von 1878 wurde das Gebiet österreichisch-ungarischer Verwaltung unterstellt. Der damalige russische Innenminister Petr Valuev, der sich auch als Literat betätigte, geißelte dergleichen panslawisches Sentiment sarkastisch als „slawophile Onanie“. Dennoch kam es im Frühjahr 1999, während der NATO-Luftschläge gegen Serbien-Montenegro, zu einem Reenactment von 1876 – wenngleich einem lediglich rhetorischen: Der Sprecher der Russländischen Staatsduma, Gennadij Seleznev, beschwor eine „russisch-serbische Waffenbrüderschaft“, die Russische Orthodoxe Kirche rief zu russländischer Militärhilfe für die „orthodoxen slawischen Brüder“ in Serbien auf, und der exzentrische Chef der Liberal-Demokratischen Partei Russlands, Vladimir Žirinovskij, verkündete großspurig, er werde auf eigene Kosten Flugzeuge chartern, um mehrere tausend Kosaken und andere russische Freiwillige kostenlos auf den balkanischen Kriegsschauplatz zu fliegen. Mit anderen Worten: Auch mehr als ein Jahrhundert nach dem Höhepunkt des Panslawismus als eines zeitweiligen Bestimmungsfaktors zarisch-russischer Außen- und Balkanpolitik sowie eines politischen Mobilisierungsinstruments ließ sich in der neuen Russländischen Föderation die „allslawische“ Saite zum Klingen bringen. Zwar wurde weder 1876 noch 1999 St. Petersburger bzw. Moskauer Regierungshandeln von der Vorstellung einer gesamtslawischen Mission des „Dritten Rom“ dominiert, doch war dies eine Klaviatur, auf der Slawophile und Nationalisten mit spürbarer Resonanz in der Innenpolitik, aber auch mit beträchtlicher Außenwirkung spielen konnten. Ähnliche Beispiele lassen sich auch für andere slawischsprachige Nationalgesellschaften finden – für Belarus und Bulgarien ebenso wie für die Tschechische Republik und sogar Polen. KONZEPTIONEN VON SLAVIZITÄT Die Annahme eines sämtliche Slaw(ischsprachig)en in Raum und Zeit verbindenden kulturellen, gar biologistischen Elements hat viele Gesichter: Periodisch fungiert sie als politisch wirksames transnationales Identifikationsmuster; sie stellt einen Bezugsrahmen kulturwissenschaftlicher Forschung dar; und sie ist bis heute ein höchst produktiver Mythos in Kunst und Literatur. Die essentialistische Vorstellung einer ethnogenetischen „Verwandtschaft“ aller Slawen, der Existenz einer slawischen Urheimat („Allslawien“) samt slawischer Ursprache, gar der Herausbildung einer natio slavica sind dabei frühneuzeitlichen Ursprungs. Temporäre politische Qualität gewann die „Slawische Idee“ bzw. „Slavonic Ideology“ vom ethnokulturellen special relationship aller Slawen in Form „slawischer Wechselseitigkeit“ jedoch erst im 19. Jahrhundert in Gestalt einer „slawischen Bewegung“, die Formen wie den Austroslawismus in der Habsburgermonarchie , den Panslawismus im Russländischen Imperium , den Messianismus im geteilten Polen sowie den Illyrismus und den Südslawismus bzw. das Jugoslawentum in Osmanischem Reich und Donaumonarchie annahm. Im 20. Jahrhundert folgten der Neoslawismus als liberale Reaktion auf den autokratischen Panslawismus , der demokratische Tschechoslowakismus und der ein vorgeblich „dreinamiges Volk“ aus Serben, Kroaten und Slowenen autoritär unifizierende Jugoslawismus – die beiden letzteren bereits in staatlicher Gestalt – sowie in den 1940er Jahren eine kriegsbedingte Neuauflage des „allslawischen“ Zusammengehörigkeitspostulats unter (sowjet-) russischem Vorzeichen. Aufgrund des Bruches zwischen Tito und Stalin von 1948 stellte Moskau die 1942 angeworfene „allslawische“ Propagandamaschinerie ab, und in der Folgezeit geriet das Identifikationsmuster „Slawentum“ innerhalb des stalinistischen Ideologiekonglomerats in Vergessenheit bzw. wurde teils durch Panrussismus, teils durch den Bezug auf das – ethnisch unspezifische – „sozialistische Lager“ ersetzt. Das Epochenjahr 1989 tat ein Übriges mit der Auflösung „slawischer“ Bundesstaaten in Form der Implosion der UdSSR 1991, der „samtenen Scheidung“ der Slowaken von den Tschechen 1992 und vor allem des blutigen Zerfalls der jugoslawischen Föderation in den Jahren 1991 bis 1999. Dass die post-sowjetische Gemeinschaft Unabhängiger Staaten eigentlich als russländisch-ukrainisch-weißrussische Gemeinschaft Slawischer Staaten konzipiert war, dann aber auf Drängen des kasachischen Präsidenten Nursultan Nazarbaevs ihre aktuelle Bezeichnung bekam, war indes ein Indiz für die Suche nach transnationalen Identifikationsmustern in bewegter Zeit. Entsprechend gehörte in den 1990er Jahren „slawisch“, neben „russischsprachig“ und „sowjetisch“, zu den häufigsten ethnokulturellen Selbst- und Fremdzuordnungen russophoner Akteure im „Nahen Ausland“ – deutlich vor „russisch“, „russländisch“, „kosakisch“, „orthodox“, „autochthon“, „migratorisch“, „minoritär“ sowie (in Kasachstan) „europäisch“. Im Lichte der primär „slawischen“ Osterweiterung(en) der Europäischen Union stellt sich die Frage, ob „slawische Wechselseitigkeit“ mit ihren unterschiedlichen aktuellen Ausprägungen von Ostslawismus, Jugonostalgie, Kyrillomethodianismus u.a. auch im größeren Europa (und in den slawophonen Teilen Nord- und Zentralasiens) das Potential zu einem kulturellen Prägefaktor und/oder zu einem politischen Integrationsfokus besitzt. Räumliche Kontingenz, linguistische Nähe und politische Interessenkoinzidenz sprechen dafür, Faktoren wie Religion und Nationalismus indes dagegen. Dies belegen nicht zuletzt die regional wie temporär erfolgreich konkurrierenden Ideologeme „Eurasien“, „Mitteleuropa“ oder „Europa“, desgleichen aber auch explizit „entslawisierte“ Nationskonzeptionen wie „Proto-Bulgarien“, „antikes Makedonien“ oder „arisches Kroatien“. Dennoch ist „das unheimliche Slawentum“, dessen Prägekraft die Literaturwissenschaftlerin Maria Janion unlängst für den polnischen Fall eindringlich analysiert hat, situativ in sämtlichen slawophonen Nationalgesellschaften reaktivierbar. Als etwa im Vorfeld der ersten Osterweiterung der Europäischen Union der bulgarophile Salzburger Slawistikprofessor Otto Kronsteiner den – gut gemeinten! – Vorschlag machte, Bulgarien möge zur Erleichterung seiner EU-Mitgliedschaft sowie aus ökonomischen Gründen vom kyrillischen zum lateinischen Alphabet übergehen, schlug ihm ein kollektiver Aufschrei entgegen. Die bulgarische Reaktion auf diese „Blasphemie“ war eine Rüge von Staatspräsident Petăr Stojanov und die umgehende Aberkennung des Ehrendoktorhutes der Kyrill und Method-Universität Veliko Tărnovo. Denn in der Selbstwahrnehmung der Bulgaren ist die kyrillische Schrift nicht nur ein Beleg slawischer Orthodoxie, sondern vor allem eine originär bulgarische Erfindung, welche die Bulgaren in Sachen Dignität und Anciennität an die erste Stelle aller Slawen setzt. Der Berliner Südslawist Christian Voss hat in Rekonstruktion der heftigen bulgarisch-(sowjet-)russischen und bulgarisch-makedonischen Wissenschaftsfehden um das „kyrillomethodiansche Erbe“ die Bedeutung der Einvernahme der beiden Slawenapostel als ethnische Bulgaren einerseits sowie der Kyrillica als genuin bulgarische Innovation andererseits herausgearbeitet. Nicht zuletzt unter Berufung auf die Enzyklika „Slavorum Apostoli […] in Erinnerung an das Werk der Evangelisierung der Heiligen Cyrill und Methodius vor 1100 Jahren“ von 1985, in der sich Johannes Paul II. selbst als „der erste Papst […], der aus Polen und damit aus der Mitte der slawischen Völker auf den Stuhl des hl. Petrus berufen worden ist“, bezeichnete, konnte die bulgarische Seite den „Angriff“ auf die zugleich „eigene“ und „slawische“ Schrift abwehren. Entsprechend wurde das Thema eines Alphabetswechsels in den Beitrittsverhandlungen zwischen Sofia und Brüssel nicht angeschnitten. Denn der polnische Papst hatte betont, dass "alle Kulturen der slawischen Völker […] ihren „Anfang“ oder ihre Entwicklung dem Werk der Brüder aus Saloniki [verdanken]. Diese haben nämlich mit der eigenen, originalen und genialen Schöpfung eines Alphabetes für die slawische Sprache einen grundlegenden Beitrag für die Kultur und Literatur aller slawischen Völker geleistet." Mit anderen Worten: Wer den Bulgaren das Anrecht auf „ihr“ Alphabet beschneidet, bekommt es sowohl mit dem Vatikan als auch mit „allen slawischen Völkern“ zu tun. Überdies hat die bulgarische Seite unter Bezug auf die von Kyrill kodifizierte altkirchenslawische Sprache (die bulgarischerseits als Altbulgarisch bezeichnet wird) samt Alphabet und die Phonetik des Bulgarischen prophylaktisch die Forderung erhoben, im Falle der Einführung der Gemeinschaftswährung in Bulgarien müsse diese – entgegen der strikt einheitlichen EU-Vorgabe – statt Euro EBPO (Evro) heissen. „Wir sagen“, so die nicht ganz glückliche Begründung des bulgarischen Ministers für Staatsverwaltung und Verwaltungsreform, Nikolaj Vasilev, „auch Evropa für Europa, Evgenij für Eugen und Evtanasia für Euthanasie“. Der 2007 erfolgte EU-Beitritt Bulgariens führte dann in der Tat zur „Kyrillisierung Europas“ (Michael Martens ), gelten doch seitdem im EU-Bereich mit seinen 23 Amtssprachen, darunter fünf slawische, drei Alphabete: das lateinische, das griechische und eben das kyrillische. Die prospektiven EU-Mitgliedschaften Makedoniens, Bosniens und Herzegowinas, Serbiens und – in weiterer Ferne – der Ukraine und Belarus’ werden diese Entwicklung verstärken, wohingegen der Beitrittskandidat Montenegro derzeit den (freiwilligen!) Übergang zur Lateinschrift erwägt. „SLAWENTUM“ ODER „Osteuropa“? Es sind vor allem zwei Wissenschaftsdisziplinen, die hohe Affinität zur Slavizität aufweisen: zum einen die Slawische Philologie, zum anderen die Osteuropäische Geschichte. Die Slawistik mit ihren Untergliederungen Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Landeskunde etablierte sich Mitte des 19. Jahrhunderts an den Universitäten. In markantem Unterschied zu anderen Philologien wie der Germanistik, Fennougristik, Romanistik, Turzistik oder Anglistik besitzt sie bis heute einen relativ klar umrissenen regionalen Fokus auf die anrainenden slawischsprachigen Nationalgesellschaften und die slawischsprachigen Minderheiten dort sowie in den Nachbarstaaten Kosova, Deutschland, Moldova, Griechenland, Albanien, Österreich, Kasachstan, Finnland, Ungarn, Rumänien und Italien. Dies bedingt eine weitreichende geographische Kongruenz mit der aus der slawistischen Landeskunde hervorgegangenen „Schwesterdisziplin“ der Osteuropäischen Geschichte. Diese historische Teildisziplin entstand auf politische Impulse hin um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Deutschland und Österreich-Ungarn – zunächst als „Feindforschung“ zum zarischen Russland, dann als Historie der von Slawen bewohnten Teile Europas und Asiens. Trotz aller inhaltlichen wie regionalen Nähe haben sich beide Fächer sehr unterschiedlich entwickelt. Die Geschichtswissenschaft hat in einer intensiven internationalen Debatte in der Zwischenkriegszeit den Bezugsrahmen „Slawentum“ über Bord geworfen und durch „Osteuropa“ ersetzt. Treibende Kraft dabei waren zentraleuropäische Historiker sowohl slawischer wie deutscher Zunge: Oskar Halecki und Marceli Handelsman aus Polen, Jaroslav Bidlo und Josef Pfitzner aus der Tschechoslowakei sowie Otto Hoetzsch aus Deutschland. Diese übergreifende Osteuropa-Konzeption, die in der Folgezeit durch Untergliederungen wie Südosteuropa, Nordosteuropa, Ostmitteleuropa sowie ein „engeres“, „ostslawisch“ definiertes Osteuropa des Zarenreiches, der UdSSR bzw. der GUS differenziert wurde, geriet erst im Epochenjahr 1989 unter Legitimationsdruck, als sich die Klammer der alle vier Untergliederungen umschließenden sowjetischen Hegemonie während des Ost-West-Konflikts lockerte und schließlich löste. Die dadurch angestoßene innerfachliche Debatte 1998/99 in der Zeitschrift Osteuropa über die Zukunft der osteuropabezogenen Forschung führte zu einer nachhaltigen Öffnung der historischen Teildisziplin zu anderen regional wie thematisch definierten Bereichen der Geschichtswissenschaft sowie angrenzender kultur- und sozialwissenschaftlicher Fächer. In der Folge war ein deutlicher Anstieg des Interesses eben dieser Bereiche und Fächer an den Ergebnissen der Osteuropäischen Geschichte festzustellen – mit beiderseits befruchtenden Wirkungen. Während sich die historische Teildisziplin der Osteuropäischen Geschichte dergestalt vom Bezugsrahmen „Slawentum“ emanzipiert hat, ist die Slawistik als Philologie zumindest terminologisch noch daran gekettet. Der genannte österreichische Slawist Kronsteiner prognostizierte deswegen bereits den „unvermeidlichen Untergang der Slawistik alten Typs“, da es sich um eine „inzestuöse Slawistik“ handle – „von Slawen für Slawen“. Das Fach habe sich „von 1849 bis 1918 fast ausschließlich dem Panslawismus, der slawischen Wechselseitigkeit“ verschrieben – eine methodische Erstarrung, die durch den Sowjetkommunismus „um fast ein Jahrhundert prolongiert“ worden sei: „Auf diese Weise ist die Slawistik zu einer schwer durchschaubaren monolithischen Geheimwissenschaft […] geworden.“ Nicht ganz so harsch, aber im Kern ähnlich fällt die Antwort des Potsdamer Slawisten Norbert Franz auf die selbst gestellte Frage aus, "ob die aus der Geschichte rekonstruierte und nur für relativ frühe geschichtliche Epochen als wirksam unterstellte Einheit der Slawen – also die Einheit des Gegenstandes – ausreicht, die Einheit des Fachs Slawistik zu begründen." Zugleich sieht Franz aber einen produktiven Ausweg aus diesem Dilemma: "Für die slawistische Kulturwissenschaft könnte die Thematisierung des Slawen-Diskurses ein Feld sein, das – der Sprache ähnlich – eine das Fach einende Klammer bzw. einen Fluchtpunkt für Forschungsanstrengungen bildet." Vor allem den Slawistinnen und Slawisten hierzulande bietet sich ihm zufolge dadurch eine interessante Forschungsperspektive: "Auch auf diesem Feld könnte die deutsche Slawistik sich weiterhin besonders dadurch profilieren, dass sie die in den slawischen Kulturen geführten Diskurse der Betroffenen mit einer kritischen Außensicht begleitet." Da es in der Slawistik, anders als in der Osteuropäischen Geschichte, nicht zu einem Paradigmenwechsel gekommen ist, wird weiterhin mit slawophil-romantisierenden Begriffen wie einer aus „slawischen Völkern“ bestehenden Welt der Slaven – so der Obertitel der 1956 gegründeten deutschsprachigen Internationalen Halbjahresschrift für Slavistik – operiert. Allerdings diskutierten unlängst die Herausgeber der für die Slawistik und die Osteuropäische Geschichte maßgeblichen US-amerikanischen Fachzeitschrift Slavic Review die Frage, ob der Name des Periodikums noch zeitgemäß sei. Anlass dazu war die für 2010 anstehende Umbenennung der „Mutterorganisation“ American Association for the Advancement of Slavic Studies in American Association for the Advancement of Slavic, East European, and Eurasian Studies. Die Verantwortlichen kamen überein, sowohl den Titel Slavic Review als auch den Untertitel Interdisciplinary Quarterly of Russian, Eurasian, and East European Studies beizubehalten. Begründet wurde dies so: "'Slavic' ist (außerhalb der Linguistik) eine weitgehend flexible, gar leere Bezeichnung geworden, die der Untertitel erläutert. Vielleicht kann der Terminus in Anführungszeichen vorgestellt werden, die für alle außer den wissenden Mitgliedern des Herausgebergremiums unsichtbar sind." Mit anderen Worten: Die Konnotation „Slavic“ hat in dieser Sicht (neben ihrer weiterhin gültigen linguistischen Dimension) eine ent-ethnisierte, indes großregionale Qualität gewonnen, die weitgehend deckungsgleich mit den in den Sozialwissenschaften gebrauchten Adjektiven „post-communist“ oder „post-socialist“ ist. Der britische Sozialanthropologe Christopher M. Hann etwa, der am Hallenser Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung die Projektgruppe „Post-Socialist Eurasia“ leitet, hat eine Kartenskizze zu einem von der Elbe bis zum Ussuri reichenden „Eurasien auf dem Höhepunkt des marxistisch-leninistisch-maoistischen Sozialismus“ erstellt, die nahezu kongruent mit dem Untersuchungsraum von Slavic Review ist. Und auch die eher politikwissenschaftliche denn philologische Frankophonieforschung weist deutliche Parallelen zu dergestalt verräumlichten „Slavic studies“ auf, wie die nachstehende Beobachtung in dem Fall belegt, dass man in ihr den Wortbestandteil „Franko-“ durch „Slavo-“ ersetzt: "[Die Frankophonie erweist sich] als eine fragile, widersprüchliche Einheit mit geringen Ressourcen zur Herstellung von Homogenität. Entsprechend divers sind die Motive für die einzelnen Staaten und gesellschaftlichen Gruppen, die internationale Frankophonie als Referenz für ihre eigene Verortung in der Welt heranzuziehen. Zugleich bietet das Beispiel der Frankophonie aber auch die Möglichkeit, neuartige Identifikationsprozesse unter den Bedingungen einer sich globalisierenden Welt, des Postkolonialismus und der wechselseitigen Durchdringung des Nordens und des Südens zu erfassen." Nicht zu übersehen ist indes auch, dass die drei slawistischen Teilbereiche Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Landeskunde seit 1989 einen Innovationsprozess durchlaufen haben, der ihre Anschlussfähigkeit an den kulturwissenschaftlichen Mainstream deutlich erhöht hat. Dies gilt in besonderem Maße für die aus der südslawistischen Linguistik entwickelte Forschungskonzeption der Eurolinguistik als Lehre von den sprachlichen Gemeinsamkeiten in Europa. Es gilt überdies für den sämtliche Literaturen des östlichen Mitteleuropa, d.h. nicht nur die slawischen, zum Gegenstand nehmenden Zweig literaturwissenschaftlicher Forschung, der durch Vergleich eine Literaturregion Ostmitteleuropa konstituiert. Und es trifft auf die Modernisierung der Landeskunde zu Kulturstudien mit der Schwerpunktverschiebung von Verfügungswissen auf Orientierungswissen zu. ANTISLAWISMUS So wie die „Slawischen Idee“ in Gestalt des Panslawismus das Alteritätsmodell eines germanisch-deutschen „Drangs nach Ostens“ konstruierte, so löste die slawische Einheitsvorstellung im nichtslawischsprachigen Raum vor allem in der Vergangenheit mitunter Gegenreaktionen aus, die ebenso zählebig wie ihr Feinbild waren. Dabei waren aber Slawophobie und Antislawismus wesentlich weniger einheitlich als der Panslawismus. Der „Antislawismus Adolf Hitlers“, dem der polnische Zeithistoriker Jerzy Borejsza eine Schrift gewidmet hat, erweist sich bei näherer Betrachtung nicht als ein geschlossenes antislawisches Weltbild, sondern ebenso als konkrete altösterreichische bzw. deutschnationale Polenfeindlichkeit, wie dies etwa bei Gustav Freytag, Georg von Schönerer oder Max Weber der Fall war. Die „schreckliche Slavophobie“ der nationalsozialistischen Führung Deutschlands, von der Altbundespräsident Richard von Weizsäcker noch 2008 in Moskau gesprochen hat, bezog sich jedenfalls nicht auf die mit dem Dritten Reich verbündeten Slowaken, Ukrainer, Kroaten, Bulgaren und Makedonier. Ja, selbst die prononcierten Slawenhasser Karl Marx und Friedrich Engels, die sowohl privat wie öffentlich zu unflätigen Beschimpfungen sämtlicher Bewohner des östlichen Europa, vor allem aber des „revolutionsverräterischen Slawentums“, neigten, waren diesbezüglich zu Differenzierungen fähig. Die Polen waren immer dann ihrer Sympathie sicher, wenn sie sich gegen den Zaren auflehnten; Marx war gerührt von der Aufnahme seiner Ideen in Russland; und Engels begann auf seine alten Tage Bulgarisch zu lernen – obwohl er die Bulgaren zuvor als „Sauvolk“ verleumdet hatte. Und das negative Slawenstereotyp des 19. Jahrhunderts, wie es sich etwa in den USA in pejorativen Kollektivbegriffen wie „Bohunk“ (aus „Bohemian“ und „Hungarian“ für Tschechen, Ukrainer und andere Osteuropäer ) erhalten hat, ist in seiner gegenwärtigen Form eher die anti-russ(länd)ische Fortsetzung weltpolitischer Gegnerschaft zur kommunistischen Sowjetunion denn ethnospezifisch. Selbst das politische Schlagwort „Slavophobia“ bezieht sich hier nicht auf „die“ Slawen, sondern fungiert als flexibel verwendbares Totschlagargument „ethnischer“ Lobby-Gruppen osteuropäischer Herkunft, etwa von US-Kroaten, -Serben oder -Ukrainern. Historisch tiefer reichende Wurzeln scheint indes das ambivalente Slawenbild in Großbritannien zu haben, das ganz offenkundig auch weiterhin von der Gladstone-Disraeli-Kontroverse der 1870er Jahre zwischen slawophilen Bulgarenfreunden und slawophoben Sympathisanten des Sultans geprägt ist. Noch 1999 stellte etwa der renommierte Londoner Economist ganz ernsthaft die Frage, ob Demokratie und „Slawentum“ miteinander vereinbar wären: "Sind Slawen und Demokratie unvermeidlich unvereinbar? Von den rauen Weiten Nordeuropas bis zum blutigen Balkan, vom Schwarzen Meer über zehn Zeitzonen bis an Sibiriens Pazifikküste haben Slawen nur oberflächliche und flüchtige Erfahrungen mit milder oder gerechter Regierung gemacht – von Demokratie ganz zu schweigen. Mit dem Fall des Kommunismus vor einem Jahrzehnt wuchsen Hoffnungen auf Freiheit, verflüchtigten sich indes wieder. Zwei Brocken Slawentum sind es vor allem, die herb enttäuscht haben: der slawische Kern aus Russland, der Ukraine und Belarus’ und die Südslawen mit Serbien als Zentrum." Immerhin lautete die für den anonymen Autor offenkundig überraschende Antwort: „Es gibt keinen Grund, weshalb Slawen nicht Demokraten sein sollten.“ Russen übten sich in Wahlen, Polen und Tschechen strebten nach Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand und Makedonier, Bulgaren und Slowenen zeigten, anders als Serben, demokratische Tendenzen. EUROSLAWISMUS? Die Europäische Union und das größere Europa haben sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert. Zu beobachten ist eine schrittweise „Slawisierung“ der Europäischen Gemeinschaft. Ursache waren Arbeitsmigration und politisch bedingte Immigration, dann die Ausweitung der europäischen Integration: Die Süderweiterung 1981 brachte die slawischsprachigen Makedonier und Pomaken im Norden Griechenlands in die Europäische Gemeinschaft, der Beitritt der fünf neuen Bundesländer zur Bundesrepublik 1990 die Sorben aus Sachsen und Brandenburg. Und die Beitritte Österreichs und Finnlands 1995 machte die Kärntner Slowenen, die burgenländischen Kroaten und die karelischen Russen zu Angehörigen der EU. Den größten Slawisierungsschub bedeutete 2004 der Beitritt Polens, Tschechiens, der Slowakei und Sloweniens sowie Estlands, Lettlands und Litauens, von denen die beiden erstgenannten quantitativ starke russophone Bevölkerungsgruppen aufweisen. 2007 trat schließlich Bulgarien bei, desgleichen Rumänien mit ukrainischen, serbischen, slowakischen und russischen Minoritäten. Seitdem leben in der EU 63,5 Millionen Bürger slawischsprachiger Staaten sowie etwa drei Millionen als slawischsprachige Minderheiten in anderen EU-Staaten. Zusammen stellen sie 13,5 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU von 459 Millionen. Seit 1991 kam es zur Unabhängigkeit oder (Wieder-)Gründung von elf slawophonen Staaten in Europa: Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Makedonien, Serbien, Russland, Ukraine und Belarus’ sowie zuletzt Montenegro. Und auch in den neuen Staaten Moldova, Kasachstan und Kosova leben slawischsprachige Bevölkerungsgruppen. Die relative Mehrheit der Staaten des Kontinents, nämlich 13, hat eine Slawine als Amtssprache. Slawophone stellen mittlerweile eine der großen Sprachgruppen in der EU dar, und die ökonomische Interaktion wie infrastrukturelle Kommunikation zwischen Staaten mit slawophoner Titularnation bzw. Minderheit(en) hat einen bislang ungekannten Intensitätsgrad erreicht. Johann Gottfried Herder hat dies in seinem berühmten Slawenkapitel von 1791 in frappierender Weise antizipiert: "[D]a diese [slawischen] Nationen größtenteils den schönsten Erdstrich Europa’s bewohnen, wenn er ganz bebauet und der Handel daraus eröffnet würde; da es auch wohl nicht anders zu denken ist, als dass in Europa die Gesetzgebung und Politik statt des kriegerischen Geistes immer mehr den stillen Fleiß und das ruhige Verkehr der Völker unter einander befördern müssen und befördern werden: so werdet auch ihr so tief versunkene, einst fleißige und glückliche Völker, endlich einmal von eurem langen trägen Schlaf ermuntert, von euren Sklavenketten befreiet, eure schönen Gegenden vom adriatischen Meer bis zum karpathischen Gebürge, vom Don bis zur Muld[e] als Eigentum nutzen, und eure alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern dürfen." Und die „Einsamkeit der Slawen“, worunter Hans Kohn in seiner klassischen Darstellung aus den 1950er Jahren deren Isolation von „Europa“ durch russisch-imperiale Herrschaft im 19. Jahrhundert sowie durch sowjetische Hegemonie im 20. Jahrhundert verstand, ist von einer neuen „Gemeinsamkeit“ abgelöst worden. Sie kommt in der EU-Osterweiterung, etlichen EU-Russland-Gipfeln, diversen EU-Strategien für den sogenannten Westlichen Balkan, den Schwarzmeerraum sowie für Zentralasien, in der Europäischen Nachbarschaftspolitik sowie in der neuen, von Polen und Schweden initiierten und auf die Ukraine und Belarus’ zielenden Östlichen Partnerschaft der EU zum Ausdruck. Wie Herder nahm auch Kohn dies – unter Bezug auf das osteuropäische Epochenjahr 1956 – visionär vorweg: "[D]ank dem „Eisernen Vorhang“, leben [die slawischen Völker] wieder in Einsamkeit am Rande Europas, von dem übrigen Europa mehr oder weniger gesondert. Wie lange dieser Zustand dauern wird, kann der Historiker nicht sagen. Aber manche Ereignisse in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts haben die Hoffnung geweckt, dass diese Einsamkeit und Sonderung von Europa mit der Zeit gemildert wird und dass dann die slawischen Völker wieder ihren vollen Beitrag zu der europäischen Kulturgemeinschaft leisten." „POST-SLAWISCHE“ ZWISCHENBILANZ 2009 Der Befund, dass Slavizität als transnationales Identifikationsmuster heute nicht nachhaltig, sondern höchstens situativ, als wissenschaftlicher Bezugsrahmen in die Bereiche von Diskursanalyse und Erinnerungskultur abgeglitten und als kultureller Mythos stark verblasst ist, ist ebenso offenkundig wie zugleich aktualistisch verkürzt. Die zahlreichen und nicht selten erfolgreichen Reaktivierungen der „Slawischen Idee“ während des gesamten 20. Jahrhunderts lassen eine „Wiedergeburt“ – um in der romantisch-slawozentrischen Begrifflichkeit zu bleiben – daher auch im 21. Jahrhundert als politisch-kulturelle Option erscheinen; dies indes nicht in einem „allslawischen“ Design, sondern höchstens in „teilslawischem“, d.h. bilateralem oder regionalem Zuschnitt. Im Zeitalter der Nationalstaatlichkeit, dessen Ende ungeachtet der europäischen Integration und der beschleunigten Globalisierung nicht absehbar ist, ist die bereits von Dostoevskij hervorgehobene Asymmetrie zwischen Russland als „(ost-)slawischem“ Imperium und den west- und südslawischen Nationalbewegungen bzw. heute slawophonen Mittel-, Klein- und Kleinststaaten zu dominant – von den Unterschieden in politischem System, ökonomischer Struktur und Rechtskultur einmal abgesehen. Dies, und nicht etwa die EU-/Nicht-EU-Grenze, ist derzeit die eigentliche Trennlinie zwischen den slawischsprachigen Nationalgesellschaften – „slawisierende“ Sonderfälle wie Belarus’ und Serbien miteingeschlossen. Als Beleg kann beispielsweise die konsequente diplomatische und politische Unterstützung des EU-Mitglieds Bulgarien für den EU-Aspiranten Makedonien gegen die Blockade- und Veto-Haltung des EU-Landes Griechenland gelten, die ungeachtet der weiterhin gravierenden bulgarisch-makedonischen Konflikte um so heikle Dinge wie „Nation“, „Sprache“ und „Geschichte“ erfolgt. Auch der EU-Staat Slowenien hat unlängst seinen territorialen Streit mit dem Nachbarn und EU-Beitrittskandidaten Kroatien wenn nicht gelöst, so doch handhabbar transformiert – und damit Zagreb den Weg nach Brüssel frei gemacht. Und das EU-Mitglied Polen setzt sich gezielt und massiv für die in die EU strebende Ukraine ein. Es sind Kontexte wie diese, in denen bis heute auf die „slawische Wechselseitigkeit“ Bezug genommen wird, und sei es nur als ironisch-historisierendes Zitat. So teilte etwa der Vorsitzende des von Korruption und Missmanagement geplagten polnischen Fußballverbands PZPN in der Vorausschau auf die von Polen und der Ukraine gemeinsam auszutragende nächste Fußball-Europameisterschaft einer deutschen (!) Tageszeitung emphatisch mit: „Zwei Länder, eine Kandidatur, eine Entscheidung – und ein wunderschönes slawisches Turnier im Jahr 2012.“ Erschienen in: Osteuropa, 12/2009, S. 7-19 Stefan Troebst (1955), Dr. phil. habil., Historiker und Slawist, Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas im Institut für Slavistik der Universität Leipzig und stellv. Direktor des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO). Von Stefan Troebst erschien zuletzt in Osteuropa: Der 23. August 1939 – Ein europäischer lieu de mémoire? In: Der Hitler-Stalin-Pakt. Der Krieg und die europäische Erinnerung [= OE, 7–8/2009], S. 249–256. – 1945. – Ein (gesamt-)europäischer Erinnerungsort? In: Geschichtspolitik und Gegenerinnerung [= OE, 6/2008], S. 67–75.

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