Titelbild Osteuropa 4/2009

Aus Osteuropa 4/2009

Von der Kontinuität zur Stagnation
Instabile Stabilität im autoritären Russland

Jens Siegert

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Abstract in English

Abstract

Die globale Wirtschaftskrise hat Russland schwer getroffen. An dieser Erkenntnis kommt auch das autoritäre Regime in Moskau nicht vorbei. Statt die Folgen des Ölpreiseinbruchs und der drastisch reduzierten Nachfrage nach anderen Exportrohstoffen weiter zu leugnen, betreiben Putin und Medvedev nun ein hektisches Krisenmanagement. Doch der Aktivismus kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Regime strukturelle Reformen weiter scheut. Gleichzeitig wachsen die Spannungen im Land und der mit Petrodollars erkaufte Elitenkonsens wird wieder brüchig.

(Osteuropa 4/2009, S. 17–30)

Volltext

Die globale Wirtschaftskrise hat Russland schwer getroffen. An dieser Erkenntnis kommt auch das autoritäre Regime in Moskau nicht vorbei. Statt die Folgen des Ölpreiseinbruchs und der drastisch reduzierten Nachfrage nach anderen Exportrohstoffen weiter zu leugnen, betreiben Putin und Medvedev nun ein hektisches Krisenmanagement. Doch der Aktivismus kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Regime strukturelle Reformen weiter scheut. Gleichzeitig wachsen die Spannungen im Land und der mit Petrodollars erkaufte Elitenkonsens wird wieder brüchig. Zwei Jahrzehnte nach Beginn der Perestrojka ist Russland ein autoritärer Staat. Unter Präsident Vladimir Putin wurde zielgerichtet ein hochgradig zentralisiertes politisches System installiert, in dem bürgerliche Freiheits- und Beteiligungsrechte systematisch außer Kraft gesetzt sind. Mit der Neubesetzung der Duma im Dezember 2007 und dem Wechsel im Präsidentenamt im Frühjahr 2008 hat der Kreml gezeigt, dass er den öffentlichen politischen Raum in Russland nach Belieben beherrscht. In den wenigen übrig gebliebenen Enklaven politischer Autonomie können sich keine machtpolitisch relevanten Kräfte etablieren. Russland ist zwar formal immer noch ein moderner demokratischer Staat mit einer im Großen und Ganzen liberalen Verfassung. Alle Institutionen sind aber ihres demokratischen Gehalts und ihrer ethischen Grundlagen beraubt. Zur Absicherung ihrer Macht hat die herrschende politische Elite um Putin und den neuen Präsidenten Dmitrij Medvedev systematisch ein Monopol auf öffentliche Politik in Russland durchgesetzt. Das Parteiensystem dominieren von ihr geschaffene und kontrollierte Surrogatparteien. Die liberalen Oppositionsparteien wurden marginalisiert oder mit Hilfe des verschärften Parteiengesetzes aufgelöst. Neue, nicht im Kreml erdachte oder dort gut geheißene Parteien, werden nicht mehr zugelassen. Der Kreml bestimmt weitgehend autonom, was in der Politik möglich ist und was nicht. Lilija Ševcova hat den wichtigsten Funktionsmechanismus dieses Herrschaftsmodells in einer griffigen, aber stimmigen Regel zusammengefasst. Während in demokratischen Ländern grundsätzlich gelte: „Klare Spielregeln – unsicherer Ausgang“, heißt es heute in Russland: „Unklare Spielregeln – sicherer Ausgang“. Rasender Stillstand Trotz dieser kaum herausgeforderten und, wie es scheint, sogar noch wachsenden Dominanz der herrschenden Machtgruppe gehört es zu den Lieblingsbeschäftigungen fast aller Beobachter der russländischen Politik, sich regelmäßig und ausgiebig Gedanken über Stabilität oder Instabilität dieses politischen Systems zu machen. Das hat einerseits sicher etwas mit der Intransparenz der Entscheidungsprozesse in diesem System zu tun. Wenn man nicht so recht versteht, wie und warum etwas funktioniert, weil man, wie bei einer Black Box, nur weiß, was reingeht und was wieder herauskommt, die Vorgänge im Inneren aber verborgen bleiben, sind Fragen nach der Stabilität nur natürlich. Dann ruft die durchaus neue Mischung aus traditionellen, oft an die Sowjetunion erinnernden Macht- und Unterordnungstechniken und modernen PR- und Kommunikationsstrategien zur Manipulation einer noch ungeübten Öffentlichkeit, Fragen hervor. Weder die alte Sowjetologie noch kommunikative Handlungstheorien kommen in der Analyse weit. Hinzu kommt die enge institutionelle, vor allem aber personelle Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik, die zwar nur in Ansätzen marktwirtschaftlich genannt werden kann, aber deutlich keine sozialistische Planwirtschaft mehr ist. Der Begriff Staatsmonopolkapitalismus kommt dem Sachverhalt wohl am nächsten, trifft ihn aber auch nicht richtig. Es ist nicht der Staat, der sich ein Monopol schafft, sondern eine relativ kleine Machtgruppe, die sich den Staat angeeignet hat und ihn als Instrument ihrer monopolitischen Bestrebungen nutzt. Das Monopol dient zwei Zielen, die sich gegenseitig stützen: der Gewinnmaximierung und dem Machterhalt. Staatliche Macht ist das Instrument, möglichst großer Gewinn das Ziel. Wieder verbinden sich für unvereinbar gehaltene Formen zu etwas Neuem, dessen Funktionsweise und Stabilität schon deswegen viele Fragen offen lässt, weil es erst seit so kurzer Zeit existiert. Zwar lässt sich die Frage, wie stabil das von Vladimir Putin aufgebaute politische System in Russland ist, nur spekulativ beantworten. Sehr wohl können aber Entwicklungslinien aufgezeigt und daraus wahrscheinliche Herausforderungen abgeleitet werden. Dringend notwendige politische und soziale Reformen wurden in der zweiten Amtszeit Vladimir Putins weitgehend dem Machterhalt untergeordnet. Nach landesweiten Protesten im Jahr 2005 wurde die Ersetzung der seit Jahrzehnten gewährten kostenlosen Bezugs- und Berechtigungsscheine für bestimmte soziale Gruppen durch konkrete Geldzahlungen zwar nicht juristisch, aber faktisch zurückgenommen. Seitdem wurde keine grundlegende Reform mehr umgesetzt. Das auf den ersten Blick robuste Wirtschaftswachstum stand schon vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise infolge der globalen Finanzmarktturbulenzen aufgrund enormer struktureller Probleme auf tönernen Füßen. Bereits 2007 war die Inflation auf fast 12 Prozent angestiegen, nachdem sie in jahrelangen Anstrengungen nur ein Jahr zuvor erstmals auf unter 10 Prozent gedrückt worden war. 2008 waren es dann bereits 13,5 Prozent. Die herannahende Krise und ein Ende des fast zehnjährigen Wirtschaftsaufschwungs, der praktisch alle Gesellschaftsschichten erreicht und zu einem spürbaren Rückgang der Armut geführt hatte, spürten offenbar auch viele Menschen in Russland. Schon im März 2008 begann die bis dahin seit 2003 kontinuierlich gestiegene Sparquote wieder zu sinken. Das kann als deutlicher Verlust des Vertrauens in die künftige Stabilität der wirtschaftlichen, politischen und damit auch persönlichen Verhältnisse gewertet werden. Hier zeigt sich auch ein feines Gespür für einen Staat, der sich in Krisenzeiten immer wieder auf Kosten der privaten Vermögen seiner Bürger – mögen sie auch noch so klein gewesen sein – konsolidiert: Mit der Währungsreform im Januar 1991, beim Staatsbankrott im August 1998 und seit Ende 2008, wenn auch ein wenig sanfter, durch die Abwertung des Rubels bei gleichzeitig steigender Inflation. Gerade diesen Vertrauensverlust hatte der Kreml mit allen Kräften zu vermeiden oder zumindest zu kompensieren versucht. Während Barack Obama in den USA für sein Versprechen gewählt wurde, er werde Wandel bringen, hat die Stabsübergabe im Kreml von Putin an Medvedev funktioniert, weil beide versprochen hatten, alles würde so bleiben, wie es war. Sie versicherten erstens, der wirtschaftliche Aufschwung werde anhalten. Mit sogenannten Nationalen Projekten, die Medvedev schon als stellvertretender Ministerpräsident verwaltete, sollten und sollen die drängendsten sozialen Probleme in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Wohnungsbau gemildert werden. Bei diesen Projekten handelt es sich jedoch nicht um strukturelle Reformen, sondern um staatlich finanzierte Kreditprogramme mit der Aufgabe, akute Probleme der Bevölkerung zu lindern. Zweitens starteten Putin und Medvedev eine extrem nationalistische Kampagne, um durch eine „negative Mobilisierung“ den Unwillen über die Situation in Russland auf „Fremde“ und „Feinde“ zu lenken, die Russland infiltriert hätten, es umzingelten, ja „kolonisieren“ wollten. Kontinuität versprach schließlich vor allem der Aufbau Putins zu einem „nationalen Führer“ und seine Ankündigung, auch als Premierminister eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle an der Spitze des Staates zu spielen. Der Wechsel Putins vom Kreml ins Weiße Haus, den Sitz der Regierung, war zwar auch durch die Notwendigkeit diktiert, das Machtgleichgewicht innerhalb der politischen Machtteile auszutarieren. Doch vor allem sollte er personelle Kontinuität und damit Stabilität signalisieren. Das Kalkül ging auf. Bereits einen Monat nachdem Putin Mitte Dezember 2007 Medvedev als „seinen“ Präsidentschaftskandidaten vorgeschlagen hatte, erklärten bei einer Umfrage des Levada-Zentrums mehr als 80 Prozent der Befragten, für „Putins Wunschnachfolger“ stimmen zu wollen. Diese Form personeller Kontinuität ist umso wichtiger, als es in Russland kaum Vertrauen in politische Institutionen gibt. Entsprechend unwichtig sind institutionalisierte, also rechtlich verfasste Mechanismen des Machtwechsels und damit der Bestimmung des Machtinhabers. Nur 20 Prozent der vom Levada-Zentrum befragten Wähler glaubten, wer Präsident werde, hänge von ihnen ab. Über die Hälfte waren der Meinung, das bestimme allein Putin und seine Präsidialadministration. Dass gleichzeitig rund 80 Prozent der Befragten erklärten, trotzdem an die Urnen gehen zu wollen, belegt die nach einer leicht gegenläufigen Entwicklung in den 1990er Jahren nun wieder stark wachsende Entkopplung von demokratischen Verfahren und politischer Legitimität in Russland. Verblüffend war vor allem die Leichtigkeit, mit der der Personalwechsel im Kreml dann angesichts der dahinter stehenden enormen finanziellen und ideologischen Anstrengungen gelang. Das gesamte Jahr 2007 hatte unter dem Eindruck dieses Kraftaktes gestanden. Im Frühherbst 2007 hatte der Machtkampf im Kreml mit einem Brandartikel des Leiters der Föderalen Drogenbehörde, Viktor Čerkesov, sogar die Öffentlichkeit erreicht. Čerkesov, der Putin wohl auch persönlich nahe steht, hatte öffentlich vor einem „Krieg der Geheimdienste“ gewarnt. Medvedev war daher wohl auch ein Kompromisskandidat, von dem sich die konkurrierenden Kremlgruppierungen eine Wiederherstellung des Machtgleichgewichts versprachen. Erst nachdem Medvedev als Nachfolger Putins feststand, rückte die Frage ins Zentrum der Aufmerksamkeit, für welche Politik er steht – und, wichtiger noch, ob er sich überhaupt von Putin würde emanzipieren wollen und können. Nach seiner Ernennung zum Kandidaten und auch noch in den ersten Wochen im Amt des Präsidenten nährte Medvedev mit einer Reihe von Äußerungen die Hoffnung, er werde eine liberalere Politik als sein Vorgänger betreiben. Hier nur eine kleine Auswahl: Medvedev ordnete eine Umstrukturierung des Föderalen Registrationsdienstes an, der politische Parteien und NGO kontrolliert; die staatliche Kontrolle kleiner und mittlerer Unternehmen sollte stark eingeschränkt werden; die Unabhängigkeit der Gerichte, die eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die Korruption spielen, sollte wieder hergestellt werden; die Mitglieder der sogenannten Gesellschaftskammer, eines staatlich kontrollierten Zivilgesellschaftsimitats, sollten künftig nicht mehr von der Präsidialadministration ernannt werden. Demonstrativ beriet sich Medvedev mit dem Institut für moderne Entwicklung (Institut sovremennogo ražvitija), einem Think Tank liberaler Ökonomen, dessen Beirat er bis heute vorsitzt. Die Hoffnung auf eine liberalere Politik wurde auch von der Einschätzung getragen, dass die Umverteilung des Reichtums Russlands zugunsten der Günstlinge des Putin-Regimes abgeschlossen sei und das Regime nun anstrebe, der neuen Eigentumsordnung Legitimität zu verleihen: sowohl die Bevölkerung Russlands als auch der Westen sollten sie anerkennen. Im Frühjahr und Sommer 2008 sahen deshalb viele Beobachter die Möglichkeit, dass mehr Demokratie und Partizipation möglich sein würden. Doch die Erwartung, Medvedev würde an dieser „historischen Weggabelung“ vom bisherigen Kurs abbiegen, wurde enttäuscht. Bis zur Sommerpause hatte Medvedev den Worten keine Taten folgen lassen. Dann kam der Kaukasuskrieg und änderte vieles. Triumphgeheul nach dem Kaukasuskrieg Die herrschende politische Elite und ihre Adepten bekamen sich nach dem Georgienfeldzug kaum ein vor Freude. Eine große Mehrheit der Menschen in Russland teilte zumindest das Gefühl einer tiefen Befriedigung. Sie betrachteten das Geschehen im Südkaukasus als ersten Sieg über die USA nach dem Ende des Kalten Krieges. Amerika ist nie fern in Russland, immer ganz nah. Die USA sind das Maß aller russländischen (Großmacht-)Träume. Dieses Messen hat einen durchaus realpolitischen Kern. Aber ihm wohnt auch eine Tragik inne. Denn Russland hat für die USA bei weitem nicht jene Bedeutung, die die USA für Russland haben. Dieses Ungleichverhältnis ist eine Quelle ständiger narzisstischer Kränkung. Natürlich half die auf Hochtouren laufende Propagandamaschine im vergangenen Sommer nach. Aber das Propagandagebläse musste den Enthusiasmus nicht erst schaffen. Die Stimmung im Land war insbesondere in den Nachkriegswochen offen für triumphale Gesten. Das Feuer musste nur am Lodern gehalten werden. Die triumphale, gegen äußere – und auch innere – Feinde gerichtete Einigkeit von Volk und Führung soll die innere Spaltung des Landes überdecken. Sie soll verbergen, dass das Putin-Medvedev-Regime versucht, „die aus sowjetischer Zeit ererbten Institutionen an die neuen Realitäten anzupassen, statt auf eine grundlegende Reform des postsowjetischen Staates zu setzen, obwohl die Funktionsstörungen und Steuerungsverluste offensichtlich sind“. Die „negative Mobilisierung“ baut auf einem weit verbreiteten Zynismus gegenüber fast allen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen auf. Die meisten Menschen in Russland erklären soziales und politisches Handeln dann als „rational“, wenn es dem Handelnden – und nur ihm – nützt. Eine Rationalität, die erklärt, dass durch Teilen alle mehr haben können, bleibt diesem Individualismus verschlossen. Als rational gilt folglich nur die Mehrung traditioneller Machtressourcen. Dieses Modell wird auf alle Lebens- und Politikbereiche übertragen, so dass hinter jeder Moral Kalkül entdeckt wird. Auch deshalb steht Geopolitik in Russland so hoch im Kurs. Am Schluss solcher Überlegungen steht dann die Selbstrechtfertigung: „Wir“ ﷓ Russland ﷓ sind ebenso „demokratisch“, „zivilisiert“, „modern“ wie die anderen, wir haben auch unsere nationalen „Interessen“, die wir durchsetzen wollen, und daran ist nichts Ungewöhnliches oder gar Verurteilenswertes, denn Politik funktioniert nach dem Prinzip des Hegemoniestrebens, des Machtgleichgewichts und des Nutzens von Vorteilen. Die Möglichkeit, dass moralische Motive in der Innenpolitik und, mehr noch, in den internationalen Beziehungen handlungsleitend sein könnten, wird grundsätzlich ausgeschlossen. Wer das trotzdem behauptet, wird als naiv bedauert und belächelt. Oder ihm wird unterstellt, die moralischen Überlegungen dienten dazu, die eigentlichen Interessen zu verschleiern, um sie so besser durchsetzen zu können. Auch das weiterhin traditionelle Staatsverständnis in Russland begünstigt wenn schon nicht den Schulterschluss von Volk und Führung, so doch die widerspruchslose Duldung eines staatlichen Handelns, das mit herkömmlichen Regeln menschlichen Zusammenlebens unvereinbar ist. Der Staat wird weniger als Instrument zur Steigerung des Allgemeinwohls und der Wohlfahrt seiner Bürger gesehen denn als ein Subjekt aus eigenem Recht. Der Wert und die Würde dieses Subjekt wird dem Wert und der Würde der Individuen oder Gruppen gar voran gestellt. Daher gibt es in Russland so etwas wie einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag, der die Sphären der Menschen von denen des Staates trennt. Tatsächlich wird dieser Vertrag jedoch ständig einseitig verletzt. Die Menschen haben keine Möglichkeit, sich in die Angelegenheiten des Staates einzumischen, der Staat jedoch verletzt die Grenze der individuellen Freiheit ständig. Gleichwohl bleibt dieser verdeckte Gesellschaftsvertrag weitgehend unangetastet. Dies zeigt sich auch am Verhältnis der Menschen in Russland zu den Gesetzen. Das Gewohnheitsrecht des Gesellschaftsvertrags ist in der Regel weit stärker als die formalen Gesetze. Daher nehmen die meisten Menschen hin, dass der Staat mit seinen Machtmitteln „seine“ Gesetze notfalls mit Zwang durchsetzt, das geschriebene Gesetz aber für die Menschen häufig ohne Wert ist, weil sie sich nur in Ausnahmefällen erfolgreich darauf berufen können. Dies ist keine Krise Innenpolitisch schien der „kleine siegreiche Krieg“ ein großer Erfolg für das Führungstandem Putin-Medvedev zu sein. Er schloss das Land gegenüber äußeren Feinden zusammen und verwandelte die belagerte Festung in das Heerlager einer siegreichen Armee. Die ohnehin hohe Zustimmung in der Bevölkerung zu Vladimir Putin erreichte neue Gipfel. Doch auch Medvedevs Rating zog fast mit dem Putins gleich. Das dürften sich insbesondere die Berater des Präsidenten gemerkt haben. Die Hoffnungen auf eine Liberalisierung unter dem neuen Präsidenten zerstoben mit dem Georgienkrieg. Die bleierne Stimmung aus der Zeit der Neubesetzung der Duma und der Stabsübergabe im Kreml war wieder da. Der auch unter Medvedev weiter für Innenpolitik zuständige stellvertretende Leiter der Präsidentenadministration Vladislav Surkov verkündete denn auch Mitte September 2008: „Es wird kein Tauwetter oder irgendeinen anderen politischen Matsch geben“. Dann kam die Finanzkrise. Bis in Russland allerdings verstanden wurde, welch tiefer Einschnitt sie bedeutet, dauerte es länger als anderswo. Das hatte vor allem zwei Gründe. Während Mitte September der Bankrott der Investment Bank Lehman Brothers in den USA eine verheerende Kettenreaktion auslöste, suhlte sich Russland noch in der Begeisterung über den Sieg im Kaukasus. Auf dieser Euphoriewelle schwimmend konnte der Kreml sich selbst und das Land in der Illusion wiegen, die Finanzkrise sei eine Krise des siechenden Westens, dessen Herrschaft über die Welt zu Ende gehe; das besser gerüstete Russland, so die Annahme, werde sie daher nur am Rande berühren. Natürlich gab es auch vor dem Herbst 2008 warnende Stimmen. Vor allem unabhängige Wirtschaftswissenschaftler hatten sich nicht von den Ölmilliarden blenden lassen. Doch grundsätzlich herrschte in weiten Teilen der politischen Elite die Überzeugung, Russland werde die Krise besser meistern als der Westen. Vor allem die – durchaus begründbare – Ansicht, die aufgrund der Finanzkrise eingebrochenen Rohstoffpreise würden bald wieder steigen, speist diese Sicht. Auch die weit verbreitete und angesichts des Aufstiegs neuer Mächte wie China und Indien nicht ganz von der Hand zu weisende Annahme, der als Hauptkonkurrent angesehene Westen unter seiner Vormacht USA habe seinen materiellen und ideologischen Zenit überschritten, trägt zu dieser Weltsicht bei. Vor allem aber war die von vielen geglaubte und durch Öl-Milliarden gestützte Mär von Russland als aufstrebende und junge Schwellenmacht einfach zu schön. Doch diese Münchhausen-Geschichte – die wohl die bemerkenswerteste politische Leistung Vladimir Putins darstellt – kann nun nicht länger verbergen, dass Russland in Wahrheit ein zerfallendes Imperium mit einer maroden Wirtschaft, einer veralteten Infrastruktur, einer aufgeblähten, korrupten Verwaltung und einer rapide alternden Bevölkerung ist. Nun aber rächt sich, dass vor allem in der zweiten Amtsperiode Putins wegen der durch die Rohstoff-Hausse hereingespülten Ölmilliarden Reformen versäumt wurden oder scheiterten. Über Jahre wurden politische Probleme unter großen Geldhaufen begraben. Im Herbst 2008 kamen sie wieder zum Vorschein. Das zeigte sich auch an Dmitrij Medvedevs erster Rede als Präsident vor der Föderalversammlung am 5. November 2008. Die Rede war zuvor mehrfach verschoben worden, wohl weil die Redenschreiber eigentlich unvereinbare Dinge unter einen Hut bringen mussten: Sie mussten die inneren Schwächen Russlands [benennen], um die geplanten Reformmaßnahmen zu begründen, zugleich aber Russland als politisch und wirtschaftlich starkes Land darstellen. Sie mussten bei der Gesellschaft um Unterstützung für die Reformen werben, ohne ihr echte Freiräume einzuräumen. Sie mussten den Südossetienkrieg legitimieren und die Finanzkrise ansprechen, ohne zu deutlich auf die möglichen Folgen für Russland einzugehen. Sie mussten Kritik an dem System der Apparatherrschaft üben, das unter Putin aufgebaut worden war, ohne die Putin-Administration zu denunzieren. Heraus kam eine Rede, in der Medvedev vor allem um das Thema des unfähigen und korrupten Staatsapparats kreiste. Das Thema Finanzkrise vermied er bis auf den Hinweis, dass für die beiden größten Krisen des Jahres, den Kaukasuskrieg und die Finanzkrise, vor allem die USA verantwortlich seien. Russland, so der Präsident, werde aus den beiden Krisen sowohl politisch als auch moralisch gestärkt hervorgehen. Schlagzeilen machten dann vor allem seine Ankündigungen, Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander im Gebiet Kaliningrad stationieren zu lassen und die Amtszeit des Präsidenten von vier auf sechs Jahre zu verlängern. Vladimir Putin blies kurze Zeit später in das gleiche Horn. Auf dem Parteitag der Kremlpartei Edinaja Rossija (Einiges Russland) betonte auch er, die Krise komme aus den USA, verglich sie aber gleichzeitig mit einer Naturgewalt und wies damit gleich doppelt alle Schuld von sich und seiner Regierung. Immerhin ging er näher auf die Krise ein und schlug eine Reihe von Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft vor, etwa Steuersenkungen für kleinere und mittlere Unternehmen. Auch er betonte, Russland stehe vergleichsweise gut da und werde gestärkt aus der Krise hervorgehen. Zudem versicherte er erneut, der Staat werde allen seinen sozialen Verpflichtungen nachkommen und kündigte zum Jahreswechsel eine 30-prozentige Gehaltserhöhung für Staatsangestellte an. Heftige Diskussionen löste vor allem die von Medvedev in seiner Rede angekündigte und am 31.12.2008 bereits vollzogene Verfassungsänderung aus, mit der die Amtszeit des Präsidenten verlängert wurde. Dieser Schritt zur institutionellen Machtabsicherung war, trotz vieler Dementis in der Vergangenheit, immer Teil der in der Machtelite diskutierten Optionen. Ende 2008, als das Verhältnis zum Westen durch den Kaukasuskrieg ohnehin einen seit der Perestrojka nicht mehr gekannten Tiefpunkt erreicht hatte und die ganze Welt mit der Wirtschaftskrise beschäftigt war, hielt der Kreml wohl den richtigen Zeitpunkt für gekommen, um diese Operation möglichst gefahrlos und ohne allzu große Kosten umsetzen zu können. Ein richtiges Kalkül, wie die laue Reaktion in Russland, aber vor allem im Westen zeigte. Das Ende der Illusion Die Finanzkrise trifft Russland schwer. Der Vertrauensverlust scheint größer zu sein als in anderen Ländern. Dazu haben der Staat und seine obersten Vertreter erheblich beigetragen. Bereits Anfang 2008 begann die russländische Seite des internationalen Vorzeige-Joint-Ventures TNK-BP, der nach Rosneft’ und Lukojl drittgrößte Erdölförderer in Russland, ihre britischen Partner aus dem Konzern zu drängen. Der russländische Staat verhielt sich dabei nicht neutral, sondern unterstützte mehr oder weniger offen die russischen TNK-Eigner gegen die britische BP. Ende Juli 2008 beschuldigte Premierminister Putin dann den russländischen Stahlkonzern Mečel, in großem Maße Steuern hinterzogen zu haben. Daraufhin brachen die Börsennotierungen für Mečel binnen eines Tages um mehr als 30 Prozent ein, ein Wertverlust von fünf Milliarden US-Dollar. Beide Ereignisse zeigten vor allem ausländischen Investoren, dass ein Engagement in Russland unter einer autoritären Regierung erhebliche Risiken birgt. Der Krieg gegen Georgien verstärkte diese Befürchtungen noch einmal. Dies schlägt sich in der Kapitalbilanz nieder. War das Investitionssaldo fast ein Jahrzehnt lang positiv gewesen, so floss 2008 erstmals wieder mehr Kapital aus Russland ab als ins Land hinein. Im November 2008 hat die Weltbank bereits einen scharfen Rückgang der Investitionen – der schon im Frühjahr eingesetzt hatte –, einen „plötzlichen Kapitalabfluss“ und steigende Auslandsschulden von Privatunternehmen festgestellt. Der Kapitalabfluss summierte sich bis Jahresende auf 129,9 Milliarden US-Dollar. In der Krise kommen die Schwächen der russländischen Wirtschaft und des politischen Systems deutlich zum Vorschein. Da die Weltmarktpreise für Rohstoffe, vor allem natürlich Erdöl, stark gefallen sind und gleichzeitig die Staatsausgaben erhöht werden müssen, wird nach Angaben des russländischen Finanzministeriums das Haushaltsdefizit bis zu 80 Milliarden US-Dollar betragen. Nur das finanzpolitische Krisenmanagement, bei dem sich nach anfänglichem Zögern eher marktorientierte gegen staatswirtschaftlich denkende Kräfte durchsetzten, konnte den drohenden Zusammenbruch des trotz aller Ölmilliarden äußerst schwachbrüstigen russländischen Bankensystems verhindern. Die nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch heikle Frage, wie mit dem Abwertungsdruck auf den Rubel umzugehen sei, nachdem jahrelang vom Kreml ein starker Rubel als Symbol für die neue Stärke Russlands ausgegeben worden war, wurde sinnvoll gelöst: Nach vergeblichen, mehrere Dutzend Milliarden US-Dollar teuren Versuchen der Zentralbank, den Rubelkurs zu stützen, darf er seit Mitte November langsam, aber stetig sinken. Ende 2008 wurden dennoch auch in Russland die Folgen der Krise außerhalb jener für die meisten Menschen virtuellen Welt der Großfinanz, der Großunternehmen, der Politik und der Nachrichten spürbar. Viele Unternehmen haben ihren Beschäftigten Kurzarbeit verordnet, meist bei gekürzten Bezügen oder ganz ohne Bezahlung. Gleichwohl hat eine Entlassungswelle das Land ergriffen. Große Probleme haben vor allem die über 7000 sogenannten Monostädte (monogorod), die wirtschaftlich und oft auch infrastrukturell von einem oder zwei Unternehmen abhängen. Dabei steht die schwierigste Phase der Wirtschaftskrise wohl noch bevor. Die beiden wichtigsten Aktienindizes RTS und MMWB sind seit Anfang 2008 um mehr als 70 Prozent gefallen. Zwar ist die Aussagekraft der Börsennotierungen für den Zustand der Gesamtwirtschaft gering, da das russländische Aktienrecht Minderheitsaktionären vergleichsweise große Mitspracherechte gewährt, so dass die Unternehmen darauf achten, möglichst mehr als 75 Prozent ihrer Aktien in einer Besitzerhand zu haben weshalb es entsprechend wenig Aktienstreubesitz gibt und auch die gehandelten Mengen entsprechend klein sind. Der tiefe Fall der Börsenkurse macht den betroffenen Aktiengesellschaften gleichwohl arge Probleme bei der Refinanzierung kurz- und mittelfristig fälliger und meist im Ausland aufgenommener Kredite, denn die Bewertung ihrer Kreditwürdigkeit orientiert sich an ihrem Börsenwert. Ausländische Kreditgeber fordern mit sogenannten „Margin Calls“ einen Ausgleich durch den Verkauf von Unternehmeranteilen. Um eine Übernahme als „strategisch“ erachteter Unternehmen durch ausländische Investoren zu verhindern, musste die Regierung Überbrückungskredite gewähren oder sich selbst in die Unternehmen einkaufen. Da viele Unternehmen dennoch nicht in der Lage sein werden, die Forderungen der Kreditgeber zu erfüllen, drohen zahlreiche Insolvenzen und ein für Russland beispielloser Anstieg der Arbeitslosenquote. Zwar wurde im vergangenen Jahrzehnt eine Arbeitslosenversicherung aufgebaut, doch ist unklar, ob sie im Krisenfall auch funktioniert. Vorsorglich verhandelt deshalb der Russländische Unternehmerverband (Rossijskij Sojuz Predprinimatelej i Promyšlennikov, RSPP) mit der Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften (Federacija Nezavisimych Profsojuzov, FNPR), dem größten Gewerkschaftsverband, über Änderungen der Tarifverträge, um Lohn- und Arbeitszeitkürzungen zu vereinfachen und so Entlassungen zu vermeiden. Die Kremlpartei Edinaja Rossija hat gar einen Vertrag mit dem gegenwärtig aktivsten und tatsächlich unabhängigen Gewerkschaftsverband Socprof abgeschlossen. Socprof hat die meisten größeren Streiks der vergangenen Jahre organisiert. Der Inhalt des Vertrags blieb geheim. Die Krise trifft auch die privilegierten Kreise der in arm und reich gespaltenen russländischen Gesellschaft: die hohe und höhere Bürokratie, die obere Mittelklasse und auch die erst langsam entstehende Mittelklasse, die sich ihren bescheidenen Wohlstand vorwiegend über Konsumentenkredite finanziert hatte, die sie nun nicht mehr erhält oder nicht mehr zurückzahlen kann. Einige der „oligarchischen“ Vermögen sind stark geschrumpft. Das Aktienpaket Oleg Deripaskas an dem Konzern Noril’sk Nikel’ hatte im Mai noch einen Wert von gut 14 Milliarden US-Dollar. Ende Oktober war es auf 3,5 Milliarden Dollar geschrumpft. Um westliche Kredite zurückzahlen zu können, musste er 4,5 Milliarden Dollar aus dem staatlichen Hilfspaket annehmen, so dass große Aktiva in indirekte Staatskontrolle übergegangen sind. Damit drohen zwei Pfeiler, die bislang für die Stabilität des politischen Systems gesorgt hatten, ins Wanken zu geraten. Die Eliten trugen das System, weil es ihnen ermöglichte, sich jederzeit mit einem großen Vermögen in die Existenz eines Privatiers zu verabschieden, oft im bequemen Westen außerhalb der russländischen Jurisdiktion. Die Loyalität breiter Bevölkerungsschichten hatte sich der Staat mit zwar immer noch niedrigen aber doch steigenden Löhnen und besseren Sozialleistungen erkauft. Immer wieder beteuern Putin und Medvedev, dass diese Zuwächse und alle grundlegenden Sozialleistungen durch die Krise nicht gefährdet seien. Renten und Gehälter werden bisher vom Staat nicht nur weiter pünktlich gezahlt, sondern sollen weiter wie geplant erhöht werden. Damit wachsen die Realeinkommen weit schneller als die Produktivität. Mittelfristig schafft das weitere Probleme. Die „anhaltende Verlangsamung des Wirtschaftswachstums“, die die Weltbank prognostiziert, stellt auch die außenpolitischen Ambitionen des Kreml in Frage. Noch schneller als die Ausgaben für Löhne und Gehälter wuchsen im Staatshaushalt in den vergangenen Jahren die Ausgaben für Militär und Sicherheitsdienste aller Art. Allerdings wird für 2009 eine nicht unerhebliche Kürzung erwartet. Der Haushalt des russländischen Verteidigungsministeriums etwa hat mittlerweile ein ähnliches Volumen wie der Verteidigungshaushalt Deutschlands, obwohl das Bruttoinlandsprodukt Russlands nur etwa ein Viertel des deutschen beträgt. Nicht berücksichtigt dabei sind die großen bewaffneten Truppen anderer Ministerien, insbesondere des Innenministeriums. Aktivismus statt Reform Die Wirtschaftskrise hat noch einmal deutlich gemacht, wie dringend Russland tiefgreifende soziale, wirtschaftliche und politische Reformen braucht. Die Rohstofffixierung der russländischen Wirtschaft hat sich in den Jahren des Erdölbooms verstärkt. Die oft beschworene Diversifizierung der Volkswirtschaft, die mit den Einnahmen aus dem Energiegeschäft finanziert werden sollte, hat nicht stattgefunden. Die Krise schränkt die Modernisierungsfähigkeiten des Landes weiter ein. Sowohl der „Strategische Entwicklungsplan 2020“, der in der Kampagne vor der Neubesetzung der Duma noch geheimnisvoll „Putins Plan“ genannt worden war, als auch Medvedevs „Vier I’s“ – Institutionen, Investitionen, Infrastruktur und Innovationen – sind in Frage gestellt. So wie die enormen Erlöse aus dem Export nur weniger Gütergruppen, vor allem Öl, Gas und anderer Rohstoffe, die Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren nach oben gezogen haben, haben die gefallenen Rohstoffpreise die gesamte Wirtschaft mit nach unten gezogen. Geringere Exporterlöse führen zu einer abnehmenden Nachfrage in allen Sektoren der Volkswirtschaft. Eine nennenswerte Industrieproduktion fehlt und andere Boomsektoren wie die Dienstleistungs- oder Immobilienbranche hängen direkt vom Cash-Flow aus dem Rohstoffexport ab. Russland befindet sich daher in einer Spirale aus Kapitalflucht, Abwertungsdruck und in der Folge erschwertem privatem Auslandsschuldendienst. Die Währungsreserven reichen zur Deckung der Auslandsschulden nicht mehr aus. Welche Folgen wird die Wirtschaftskrise für die Stabilität des in den vergangenen acht Jahren aufgebauten politischen Systems haben? Kann sie zu einer politischen Krise werden, in der möglicherweise Putins und Medvedevs Macht in Frage gestellt wird? Wer könnten die Träger politischer Veränderungen sein? Bisher ist die Machtgruppe um Putin aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen. Die Katastrophe auf dem Atom-U-Boot Kursk, die Geiselnahmen im Musicaltheater Dubrovka in Moskau und im nordossetischen Beslan sowie die Verhaftung Michail Chodorkovskijs hatten Putins persönliche Macht wachsen lassen. Dazu hat Putin vor allem drei Instrumente eingesetzt: Er hat Freiheits- und Beteiligungsrechte immer weiter eingeschränkt, die Bevölkerung mit nationalistischen Parolen mobilisiert und Loyalität mit Geld erkauft. Allerdings waren in diesen Krisen ungleich weniger Menschen direkt, wenn auch vielleicht essentieller, betroffen. Es war viel leichter, angebliche Feinde verantwortlich zu machen und so jegliche Verantwortung von sich zu weisen. So schockierend die Ereignisse in Beslan waren, vor allem wenn man nicht der offiziellen Version glaubt: für die meisten Menschen blieb das virtuell. Anders jetzt. Betrachten wir zuerst die traditionellen Machtsicherungsressourcen. Die Ressource Freiheitsentzug ist weitgehend ausgeschöpft. Außerdem hat sie unangenehme Nebeneffekte. Dazu gehört vor allem, dass sie das Verhältnis zum Westen empfindlich stört. Zwar hat sich Russlands Führung entschieden, nicht Freund des Westens sein zu wollen, aber Feind will sie auch nicht sein. Die Ressource der negativen Mobilisierung hat sich im Kaukasus 2008 aus Sicht Putins und Medvedevs gut bewährt, vielleicht sogar über alle Erwartungen gut. Doch auch die Hetze gegen „fünfte Kolonnen“ oder soziale, ethnische und politische Minderheiten geht auf Kosten des Verhältnisses zum Westen, in erster Linie zu den USA. Auch hier dürfte der Kreml sehr genau Kosten und Nutzen abwägen. Angesichts der Wirtschaftskrise zeichnet sich ab, dass das Führungsduo sich vorerst gegen eine weitere Konfrontation und für mehr Zusammenarbeit entschieden hat. Besonders deutlich wurde das in der Rede Vladimir Putins vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos Ende Januar 2009. Auch die dritte Ressource, das Geld, ist knapper geworden. Zwar ist Russland dank der immer noch hohen Devisenreserven und des in den guten Jahren aufgebauten Stabilitätsfonds in einer unvergleichlich besseren Situation als beim Staatsbankrott 1998. Doch auch die Staatsausgaben sind in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Wenn die versprochenen weiteren Einkommenssteigerungen für große Bevölkerungsschichten eingehalten werden sollen, und gerade daran hält die politische Führung ausdrücklich fest, ergibt sich ein weiteres strukturelles Defizit. Die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang ist, wie lange die weltweite Wirtschaftskrise anhält und wann die Preise für die Haupteinnahmequelle Rohstoffe wieder steigen werden. Russland ist hier in der kaum beneidenswerten Lage, selbst wenig tun zu können und hoffen zu müssen, dass die Krise nicht länger dauert, als das Geld reicht. Ist aber soziale Unruhe als Folge finanzieller Engpässe überhaupt wahrscheinlich? Fürchtet der Kreml sie überhaupt? Und wie würde sie sich auf das politische Regime auswirken? Dass sozialer Protest durchaus ernst genommen wird, zeigt die Reaktion auf den Widerstand gegen die Erhöhung der Importzölle auf gebrauchte Autos. Im Spätherbst 2008 verkündete Ministerpräsident Putin, die Importzölle für Gebrauchtwagen würden erhöht, um die russländische Autoindustrie, vor allem das Lada-Werk in Tol’jatti an der Volga, zu schützen und rund eine Million Arbeitsplätze zu bewahren. Sofort nachdem Putin diese Absicht verkündet hatte, erhob sich vor allem im Fernen Osten lauter Protest, denn ein großer Teil der Klein- und Mittelklassewagen jenseits des Urals kommt als Gebrauchtwagen aus Japan und an diesem Importgeschäft hängen ebenfalls einige zehntausend Arbeitsplätze. Demonstranten blockierten Anfang Dezember 2008 die Hauptverkehrsstraße von Vladivostok, der Gouverneur des Gebiets Chabarovsk und die Gebietsduma solidarisierten sich mit ihnen. Moskau ließ die Demonstration gewaltsam auflösen. Einige Tage übernahm Vladimir Putin persönlich die PR-Arbeit: Er zog von einem von der Krise betroffenen Motoren- und Autowerk zum nächsten, um dem Fernsehvolk zu demonstrieren, dass die Menschen in Russland seine Entscheidung für die Zölle begrüßen. Die Proteste verstummten jedoch nicht. Dies zeigt, dass die zentrifugalen Kräfte in der sich zunehmend ausdifferenzierenden russländischen Gesellschaft zunehmen. Die im wesentlichen politischen und nicht polizeilichen und juristischen Reaktionen auf die Demonstrationen deuten aber auch darauf hin, dass das Putin-Regime Protesten gegenüber gelassener geworden ist. So wird die Wirtschaftskrise allein kaum zu einem Umsturz führen. Sie ist gleichwohl eine unerwartete Herausforderung für das Regime. Zwar ist eine Abwahl von Putin oder Medvedev angesichts der politischen und vor allem institutionellen Kräfteverhältnisse unmöglich, aber die Krise könnte neue Machtkämpfe in der Elite auslösen oder alte, nach dem Präsidentenwechsel und dem Georgienkrieg kurzfristig in den Hintergrund getretene Konflikte wieder aufflammen lassen. Das durch das Stühlerücken zwischen Kreml und Weißem Haus gestörte Gleichgewicht im Staatsapparat ist noch nicht wieder im Lot. Daher sind sowohl die Spekulationen über eine Machtkonkurrenz zwischen Putin und Medvedev wieder aufgetaucht, als auch die Frage, ob Medvedev doch eine etwas liberalere Politik als sein Vorgänger wünscht und durchsetzen kann. Dafür spricht, dass Medvedev Ende Februar 2009 den Rat zur Unterstützung der Entwicklung der Institutionen der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte (Sovet po sodejstviju razvitiju institutov graždanskogo obščestva), der seit seiner Amtsübernahme nicht mehr getagt hatte, neu besetzte. In diese, nach der Vorsitzenden Ėlla Pamfilova häufig Pamfilova-Rat genannte Institution berief er eine ganze Reihe bekannter oppositioneller NGO-Vertreter, darunter vier Vertreter der Menschenrechtsorganisation Memorial sowie Irina Jasina, die bis zu deren Schließung die von Michail Chodorkovskij geförderte Stiftung Otkrytaja Rossija (Offenes Russland) geleitet hatte. Zudem wählte die Duma auf Vorschlag Medvedevs in der zweiten Februarhälfte den liberalen Politiker Vladimir Lukin, der einst für weitere fünf Jahre zu ihrem Menschenrechtsbeauftragten. Gleichwohl ist die Hoffnung, dass sich gegenwärtig ein „Entscheidungsfenster“ öffnet und Russland die Möglichkeit hat, den Kurs einer nachhaltigen Modernisierung zu wählen, sehr optimistisch. Eine Gruppe liberaler Wirtschaftswissenschaftler aus dem Umfeld des Instituts für moderne Entwicklung hat bereits 2007 vier mögliche Szenarien für die Zukunft Russlands entworfen: Leben von den Rohstoffrenten, Mobilisierung, Trägheit und Modernisierung. Das Rohstoffszenario ist durch den Einbruch der Ölpreise fürs erste obsolet geworden. Mobilisierung als Ersatz von Modernisierung, so gut sie im vergangenen Sommer gewirkt hat, wäre ein riskanter Weg. Doch zu einer durchgreifenden Modernisierung, zu der nicht nur „westliche“ Managementmethoden, sondern auch mehr individueller und politischer Freiraum gehören müssten, war das herrschende Regime bisher nicht bereit. Präsident und Regierung scheinen vielmehr zu hoffen, dass das Geld reicht, bis der Ölpreis wieder steigt. Jens Siegert (1960), Politikwissenschaftler, Leiter des Büros der Heinrich Böll-Stiftung, Moskau Von Jens Siegert erschien in Osteuropa: Die Pipeline, der Protest und der Präsident. Ein sibirisches Lehrstück über das System Putin, in: OE, 9/2006, S. 43–55. – Ökoheld oder Vaterlandsverräter? Der Fall Pas’ko – ein Lehrstück über Rußlands defekten Rechtsstaat, in: OE, 4/2002, S.405–418.

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