Die Entfesselung des Krieges
Von „München“ zum Hitler-Stalin-Pakt
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Abstract
Ende August 1939 schlossen Deutschland und die UdSSR einen Pakt, in dem sie sich offiziell verpflichteten, auf jede Aggression gegeneinander zu verzichten. Faktisch teilten die bis dahin ideologisch verfeindeten Diktaturen Ostmitteleuropa in Einflusssphären auf. Der überraschende Coup wurzelte tiefer in der gesamteuropäischen Vorkriegssituation, als es das hastig zuwege gebrachte Konglomerat von Abmachungen zwischen Hitler und Stalin auf den ersten Blick erkennen lässt.
(Osteuropa 7-8/2009, S. 3346)
Volltext
Ende August 1939 schlossen Deutschland und die UdSSR einen Pakt, in dem sie sich offiziell verpflichteten, auf jede Aggression gegeneinander zu verzichten. Faktisch teilten die bis dahin ideologisch verfeindeten Diktaturen Ostmitteleuropa in Einflusssphären auf. Der überraschende Coup wurzelte tiefer in der gesamteuropäischen Vorkriegssituation, als es das hastig zuwege gebrachte Konglomerat von Abmachungen zwischen Hitler und Stalin auf den ersten Blick erkennen lässt. MÜNCHEN, SEPTEMBER 1938 Suchte man nach einem prägnanten Markenzeichen für ein folgenschweres politisches Fehlurteil in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, so käme der 30. September 1938 und Neville Chamberlains peace for our time gewiss in die engste Wahl. Mit diesen legendär gewordenen Worten präsentierte und wertete der britische Premierminister nach seiner Rückkehr aus Deutschland das am Vortage unterzeichnete Münchner Abkommen. Es garantierte Europa den Frieden gerade nicht. In München wurden indes Signale gesetzt, welche die nächsten Monate europäischer Diplomatie und Politik von London über Paris, Prag, Berlin und Warschau bis nach Moskau maßgeblich bestimmen sollten. München ist der Ort, an dem die Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Paktes spätestens einsetzte. Mit Chamberlain und dem Münchner Abkommen ist der Begriff des appeasement untrennbar verbunden, an dem sich die britische Deutschlandpolitik nicht erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre orientierte. Vielmehr existierte diese Orientierung seit dem Beginn der 1920er Jahre. Appeasement ging im Kern davon aus, den deutschen Anspruch auf Wiederherstellung seiner Großmachtposition grundsätzlich anzuerkennen und Berlin politisch entgegenzukommen, sofern es diesen Anspruch einvernehmlich und friedlich im Sinne eines europäischen Gleichgewichtes zu realisieren beabsichtigte. Ließen sich britische Machtinteressen mit plausiblen Forderungen Berlins koordinieren, so war London zu erheblichen Konzessionen bereit – unter anderem war das deutsch-britische Flottenabkommen von 1935 aus diesem Geist entstanden. Deutschland – auch dies ein Kernelement des appeasement-Gedankens – sollte auf diese Weise nicht in eine außenpolitische Isolation gedrängt werden, sondern ein berechenbarer Partner europäischer Diplomatie werden und bleiben. Aus dieser Perspektive war das 1938 von den Nationalsozialisten zugespitzte Problem der sudetendeutschen Minderheit in der Tschechoslowakei durchaus im Sinne einer Befriedigung plausibler und anscheinend begrenzter deutscher Ansprüche nach der Logik des appeasement zu lösen. Denn blendete man Danzig und die Frage der deutschen Minderheit in Polen aus der Betrachtung aus, so sprach im Sommer 1938, nach dem Anschluss Österreichs und nach der einvernehmlichen Regelung der Südtirolfrage, tatsächlich vieles dafür, dass das Problem der Sudetendeutschen das letzte seiner Art sei. Noch diese eine Konzession war zu gewähren, dann musste Großdeutschland national im Wesentlichen saturiert sein. Dass eine solche Saturierung Hitlers Zielen nie entsprochen hatte, steht auf einem anderen Blatt. Peace for our time brachte München nicht, wohl aber einen ungeheuerlichen Bruch im Umgang souveräner, aneinander vertraglich gebundener europäischer Staaten. Um den deutschen Forderungen nach der Angliederung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich nachzukommen, gaben im September 1938 die Westmächte mit der ČSR einen vertragstreuen, souveränen, demokratischen, ökonomisch potenten Partner preis, der zur Wahrung seiner vitalen Interessen militärisch hervorragend gerüstet war. In unwürdiger Demütigung hatten die nicht zur Konferenz zugelassenen Vertreter der Tschechoslowakei abzuwarten und entgegenzunehmen, was Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien auf vermeintlicher Augenhöhe untereinander entschieden, nämlich die Ausgliederung der mehrheitlich deutsch besiedelten Randgebiete der Tschechoslowakei und den Anschluss dieser an das Deutsche Reich. Die deutsche Führung dachte nicht entfernt daran, jene Teile des Abkommens zu erfüllen, die eine Garantie der zum Torso verstümmelten ČSR vorsahen, sondern betrieb, was in der Sprache des Dritten Reiches „Erledigung der Resttschechei“ hieß. Im März 1939 besetzte die Wehrmacht Prag, Hitler proklamierte das Protektorat Böhmen und Mähren, und das Deutsche Reich erkannte einen pseudosouveränen slowakischen „Schutzstaat“ an. DIE UDSSR 1938 München bedeutete auch für die Außen- und Bündnispolitik der Sowjetunion eine tiefe Zäsur. Aus dem Russischen Reich war als Folge des Ersten Weltkriegs, der Revolution und des bis 1921 andauernden Bürgerkriegs der territorial reduzierte, formal zur Föderation umgebildete, im Kern aber erhalten gebliebene Vielvölkerstaat namens UdSSR geworden. Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen waren unabhängige Staaten geworden, das ehemals kaiserliche Gouvernement Bessarabien Rumänien angegliedert worden. In den 1920er Jahren zunächst vorrangig auf das vielzitierte „Sonderverhältnis“ zum Deutschen Reich fixiert, strebte die sowjetische Führung mit ihrer Außenpolitik seit 1928/29 danach, das Land den Strukturen kollektiver Sicherheit anzunähern. Protagonist dieser Orientierung war der langgediente und erfahrene Außenpolitiker Maksim Litvinov. Seinen Namen trägt das 1929 unterzeichnete Moskauer Protokoll, in dem die UdSSR gemeinsam mit Polen, Rumänien, Estland und Lettland, später auch mit Litauen, dem Iran und der Türkei, die Gültigkeit des Briand-Kellog-Paktes zur Ächtung des Krieges anerkannte. In diese Zeit fiel auch der Aufbau eines Systems bilateraler Nichtangriffspakte mit den westlichen Anrainern. 1934 trat die Sowjetunion dann dem Völkerbund bei. Kollektive Sicherheitspolitik, das darf nicht aus dem Blickfeld geraten, sicherte nach außen ab, was das größte Land der Welt im Inneren bis in die Grundfesten erschütterte. Das Ende der 1920er, der Beginn der 1930er Jahre markierten den scharfen Bruch mit der seit 1921 praktizierten Neuen Ökonomischen Politik. An deren Stelle rückte der erste Fünfjahresplan. Die bisher schon zielstrebig verfolgte Industrialisierungsstrategie wurde fortan zu einer Frage von Leben und Tod erhoben, bei der der Zweck alle Mittel zu heiligen hatte. Zeitgleich stürzte die Wirtschaftspolitik mit der überhasteten, brachial durchgesetzten Zwangskollektivierung der Landwirtschaft die Sowjetunion in eine wirtschaftliche, demographische und kulturelle Katastrophe ohnegleichen. Die extreme Anspannung im Inneren korrespondierte mit dem starken Interesse an äußerer Absicherung. Bereits seit 1932 verband ein Bündnisabkommen die UdSSR mit Frankreich, das die Verpflichtung enthielt, beim Angriff einer dritten Macht gegenseitige Waffenhilfe zu leisten. Anfang Mai 1935 wurde diese Konstruktion zu einem französisch-sowjetischen Beistandspakt mit einer Laufzeit von fünf Jahren erweitert. Exakt zwei Wochen später, am 16. Mai 1935, unterzeichnete die Sowjetunion einen hiervon formal unabhängigen, faktisch eng darauf bezogenen Beistandspakt mit der ČSR. Der Pakt enthielt den wichtigen Vorbehalt, dass er im Falle eines Angriffs auf einen der Vertragspartner nur dann wirksam werden sollte, wenn zuvor Frankreich seinen Beistandsverpflichtungen nachgekommen war. Ein zweiter Vorbehalt ergab sich aus der politischen Geographie Europas vor 1939: Die UdSSR verfügte über keine Grenze mit der Tschechoslowakei. Eine Realisierung des Bündnisfalls wäre also ohne das Überschreiten polnischen oder rumänischen Territoriums nicht möglich gewesen. Beide Umstände waren der sowjetischen Politik natürlich bewusst und müssen bei der Bewertung der 1938 vertretenen Positionen berücksichtigt werden. Dieser Befund ändert indes nichts daran, dass die UdSSR fest in die Interessenslage eingebunden war, die auf der Münchner Konferenz – demonstrativ ohne die Hinzuziehung Moskaus – verhandelt wurde. In der gegebenen Situation beschränkte sich die Sowjetunion darauf, von außen verlautbaren zu lassen, selbstverständlich zu ihren Verpflichtungen gegenüber den Bündnispartnern zu stehen. Wenngleich es im Bereich der Spekulation bleiben muss, über welche anderen Optionen Moskau nach München verfügte, so war ihre oftmals als „Auskreisung“ bezeichnete Isolierung kaum geeignet, das Vertrauen in die Westmächte und ihr Engagement für ein kollektives Sicherheitskonzept zu stärken. Großbritannien und Frankreich hatten ganz offensichtlich ihre Prioritäten ohne Moskau gesetzt. Misstrauen hegten indes beide Seiten: 1937 und 1938 erschütterten Terrorwellen größten Ausmaßes die Sowjetunion. Besonders hart trafen die Säuberungen dieser Jahre die diplomatische und militärische Elite des Landes. Über 50 Prozent der Generäle und Obersten, 13 von 15 Armeekommandeuren, 110 von 195 Divisionskommandeuren wurden in diesen Jahren ihrer Posten enthoben und zum großen Teil umgebracht. Daher galt die Sowjetunion den westlichen Bündnispartnern auf längere Sicht nicht mehr als leistungsfähiger, berechenbarer und ernst zu nehmender militärischer Partner – oder Gegner. POLEN 1938 Zwar war Polen im November 1918 nach 123 Jahren als souveräner Staat in die europäische Politik zurückgekehrt, doch erst 1921 konnten Polens Grenzen als weitgehend definiert gelten. Vollständig und verbindlich ausgesprochene Anerkennungen seiner Grenzen erfuhr Polen bis 1939 nur in wenigen Ausnahmefällen – die Geschichte Polens zwischen 1918 und 1939 ist zu einem guten Teil die Geschichte bedrohter oder als bedroht empfundener Staatsgrenzen. Das galt in besonderem Maße für die Grenze zur Sowjetunion. Zwar war sie im März 1921 im Vertrag von Riga fixiert worden, doch ließ die UdSSR sofort erkennen, dass sie die neue Grenze keineswegs als eine Linie anzuerkennen bereit war, jenseits derer sie keine Interessen wahrzunehmen beabsichtige. Die Grenzziehung im Osten Polens zerschnitt weißrussisches und ukrainisches Siedlungsgebiet und stellte Polen vor eine klassische Irredentasituation: Östlich der Grenze, in der Belorussischen und Ukrainischen SSR, waren beide Nationen mindestens formal und unter den Bedingungen des sowjetischen Föderalismus zu Titularnationen eigener Republiken aufgestiegen. Insbesondere in den 1920er Jahren hatte dieser Umstand eine erhebliche Ausstrahlungskraft auf die polnischen Bürger weißrussischer und ukrainischer Nationalität. Allgemein war die Warschauer Perspektive auf die zahlreichen Minderheiten im Land – dazu gehörten etwa 30 Prozent der Bevölkerung – von einer besonders geschärften, bisweilen zweifellos überzogenen Hellhörigkeit für alles gekennzeichnet, was nach den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts auch nur entfernt nach einer Infragestellung der neugewonnenen nationalen Souveränität und staatlichen Integrität aussehen konnte. Weder der westliche noch der östliche Nachbar gaben sich Mühe, diese Infragestellung zu tarnen – das in Deutschland geprägte Wort vom polnischen „Saisonstaat“ zeugt davon. Eine besondere Stellung nahm die Wilna-Frage ein, war doch die 1922 zementierte Zugehörigkeit dieser Großstadt zu Polen im polnischen Verständnis der Zeit eine absolute Unabdingbarkeit und Selbstverständlichkeit. Ähnlich kategorisch forderte indes die litauische Nationalbewegung Vilnius als ihre historische Hauptstadt ein. Dieser Konflikt führte bald zu einer solchen Verhärtung der Positionen, dass Polen und Litauen fast während der gesamten Zwischenkriegszeit in einem Zustand des kalten Krieges zueinander standen. Und es entging Warschau natürlich nicht, dass die UdSSR wiederholt vehement die litauischen Ansprüche unterstützte. Die polnische Außen- und Sicherheitspolitik orientierte sich seit der Wiedergründung des Staates im Wesentlichen an Frankreich, und alle Akzentverschiebungen französischer Außenpolitik wurden an der Weichsel aufmerksam registriert. Das betraf die deutsch-französische Entspannung von Locarno 1925, mehr noch betraf es jenes Bündnis, das Paris ausgerechnet mit Moskau zehn Jahre später einging. Auch der zweite Bestandteil des Paktes, das tschechisch-sowjetische Abkommen, konnte Polen nicht gleichgültig sein, holte es doch die UdSSR in die west- und mitteleuropäische Allianz hinein und sicherte somit jenen Nachbarn im Süden, mit dem Polen wegen der Grenzziehung in der einst österreichisch-schlesischen Region Teschen ungelöste Territorialkonflikte hatte. Ganz anders gestaltete sich die Situation im Westen. Der Machtantritt der Nationalsozialisten bedeutete den Beginn einer ungewöhnlichen Entspannung zwischen Berlin und Warschau. Was zur Zeit der Weimarer Republik undenkbar gewesen war, regelte der NS-Staat in einer seiner ersten außenpolitischen Handlungen mit einem spektakulären Federstrich: Am 26. Januar 1934 unterzeichneten Deutschland und Polen ein Gewaltverzichtsabkommen, vereinbarten die direkte Verständigung in allen bilateralen Fragen, verkündeten die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des jeweiligen Nachbarn und benutzten die Formulierung eines künftigen „gutnachbarschaftlichen Verhältnisses“. Der seit zehn Jahren andauernde Wirtschaftskrieg zwischen beiden Ländern wurde beendet. Zwar war dies noch nicht die erhoffte formale Garantie der bestehenden Grenzen, doch entwickelten sich die polnisch-deutschen Kontakte demonstrativ gut. Zahlreiche Besuche hoher NS-Würdenträger in Polen, auch die auffällige Wertschätzung, die das Dritte Reich Marschall Józef Piłsudski entgegenbrachte, legten hiervon öffentlich Zeugnis ab. Dennoch legte Warschau großen Wert darauf, sich seine außen- und sicherheitspolitische Manövrierfähigkeit zu erhalten und eine einseitige Orientierung auf Berlin zu vermeiden. So bekräftigten Polen und Frankreich 1936 im Abkommen von Rambouillet ihre Kooperation insbesondere im militärischen Bereich. Polen erhielt massive französische Rüstungskredite, die in das im selben Jahr verkündete Vierjahresprogramm zur Entwicklung der polnischen Wirtschaft einflossen. Warschau hatte die dynamische Aufrüstung des Deutschen Reiches in der Mitte der 1930er Jahre aufmerksam verfolgt: 1935 war die allgemeine Wehrpflicht wiedereingeführt worden, 1936 folgte die Remilitarisierung des Rheinlandes, und 1937 hatte die Luftwaffe in Guernica drastisch unter Beweis gestellt, zu welch verheerenden Schlägen sie bereits in der Lage war. Polen setzte 1936 an, durch den konzentrierten Ausbau einer neuen schwerindustriellen Zone im Zentrum und im Süden des Landes seine eigene Rüstungsbasis auszuweiten und zu modernisieren, und sich so mit zunächst wenigstens punktuellen Erfolgen im Rüstungswettlauf der europäischen Mächte zu positionieren. Weiterhin suchte der polnische Außenminister Józef Beck eine allzu große Annäherung an Deutschland zu vermeiden. Viel eher folgte Warschau der Leitlinie, Polen zum politischen Zentrum eines Staatenblockes zwischen Finnland und dem Balkan unter dem Schlagwort des „Dritten Europa“ zu machen. Einzelne Machtdemonstrationen gegenüber den Nachbarn liefen diesem Konzept ganz und gar nicht zuwider, und so nutzte Warschau die faktische Machtlosigkeit der in München preisgegebenen ČSR, um im Oktober 1938 mit großem propagandistischen Aufwand die „Rückkehr“ des tschechischen Teils der Stadt Těšín/Cieyzyn an das polnische „Mutterland“ zu fordern und zu vollziehen. Schon im März desselben Jahres hatte Polen einen Grenzzwischenfall genutzt, um von Litauen ultimativ die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu verlangen. Warschaus außenpolitische Erfolge schienen die Position Polens als ernstzunehmende ostmitteleuropäische Vormacht zu festigen. DER UMBRUCH DER BÜNDNISSE Wenige Wochen nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens begann die deutsche Regierung mit Nachdruck, Polen eine „Generalbereinigung“ der offenen Fragen zwischen beiden Ländern anzudienen. Das deutsche Interesse richtete sich oberflächlich auf eine Revision des Status der Freien Stadt Danzig und auf die Schaffung exterritorialer Verkehrsverbindungen zwischen den Provinzen Pommern und Ostpreußen, um so den niemals ganz unproblematischen Transit durch polnisches Hoheitsgebiet formal umgehen zu können. Polen sollte außerdem dem 1936 zwischen Deutschland und Japan geschlossenen Antikominternpakt beitreten, was Italien 1937 bereits getan hatte. Mit dem Selbstverständnis einer souveränen und eigenständigen polnischen Außen- und Sicherheitspolitik war die Summe der deutschen Ansinnen letztlich unvereinbar, so dass sich die Gespräche schnell festfuhren. Gleichwohl wurden die Unterredungen auf hohen und höchsten staatlichen Ebenen fortgesetzt. Der polnische Außenminister Józef Beck hatte bei seiner Visite am 5. und 6. Januar 1939 auf dem Obersalzberg und in München die von Hitler und Ribbentrop vorgebrachte Forderung entgegenzunehmen, Polen möge die deutschen Vorschläge unverändert annehmen. Warschau kam indes diesem Ansinnen nicht nach. Auch ein dreitägiger Besuch Ribbentrops in der polnischen Hauptstadt Ende Januar vermochte die Lage nicht zu ändern. Im Einvernehmen mit Staatspräsident Ignacy Mościcki und dem ranghöchsten Repräsentanten des polnischen Militärs, Marschall Edward Rydz-Śmigły, wiederholte Beck, Polen werde den deutschen Forderungen nicht stattgeben. Am 3. April 1939, erteilte Adolf Hitler der Wehrmacht die Weisung, einen detaillierten militärischen Aktionsplan gegen Polen, den sogenannten „Fall Weiß“, auszuarbeiten. Wenige Tage zuvor, am 23. März 1939, hatte sich mit der Unterzeichnung des „Schutzabkommens“ zwischen dem Deutschen Reich und der formal unabhängigen Slowakei die geostrategische Lage Polens massiv verschlechtert, denn fortan war das polnische Territorium im Norden, Westen und Süden nahezu vollständig von deutschem Staats- und Einflussgebiet umgeben. Sollte Polens Weigerung ihr substantielles Gewicht behalten, so bedurfte das Land jetzt mehr denn je eines starken Partners unter den Großmächten des Westens. Auch Großbritannien beobachtete den Verlauf der Ereignisse in Ostmitteleuropa aufmerksam, namentlich die im Gegensatz zum Münchner Abkommen stehende territoriale Expansion des Deutschen Reiches. Sie bedeutete einen Bruch des Münchner Abkommens und desavouierte den britischen Premierminister. Parallel zur Verhärtung der deutsch-polnischen Beziehungen wuchs in London die Bereitschaft, ein deutlicheres politisches Zeichen an Deutschland zu senden. Dieses Zeichen sollte Berlin auf die Bahn einer friedlichen und berechenbaren Politik zurückbringen, indes aber keinen vollständigen Bruch mit den Deutschen provozieren. Der Grundgedanke des appeasement, in jedem Fall den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, wurde auch in dieser Situation nicht aufgegeben. Nach intensiven Kontakten zwischen Neville Chamberlain und Józef Beck unterzeichneten Großbritannien und Polen am 6. April 1939 einen vorläufigen Beistandspakt. Adolf Hitler nahm diesen zum Anlass, in seiner Reichstagsrede am 28. April 1939 das seit 1934 gültige Freundschaftsabkommen mit Polen zu kündigen und im gleichen Atemzug das Flottenabkommen mit Großbritannien für hinfällig zu erklären. Als die Fronten bereits derartig verhärtet waren, schaltete sich nun auch Frankreich ein und schloss am 19. Mai eine erneuerte Militärkonvention mit Polen ab. Frankreich sagte zu, im Falle einer deutschen Aggression gegen Polen sofort seine Luftwaffe gegen den Angreifer einzusetzen, am dritten Tag der Mobilmachung erste Angriffsoperationen zu führen und am 15. Tag eine Generaloffensive gegen das Reich einzuleiten. Diese 15-Tage-Frist löste nach dem Überfall Deutschlands auf Polen im September 1939 bei den polnischen Verteidigern eine enorme Erwartungshaltung aus – die Nichteinlösung dieses Passus hat sie zu einem Topos der polnischen Geschichte gemacht. Die berühmten Rundfunkansprachen des Warschauer Stadtpräsidenten Stefan Starzyński aus den Tagen der Belagerung im September 1939 legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab, zeichnen sie doch den Wandel der Stimmung von Zuversicht und Kampfeswillen über mahnendes Aufrufen der Alliierten bis zur Resignation ob ihrer Untätigkeit eindrucksvoll nach. Im Mai 1939 warf die Parteinahme der Westmächte für Polen jedoch zunächst die Frage auf, wie ein solcher Beistand zu realisieren sei. Von selbst rückte jene osteuropäische Macht in das Blickfeld der Westmächte, die diese noch wenige Monate zuvor, im September 1938, in München ausgeschlossen hatten – die Sowjetunion. DIE UDSSR ZWISCHEN DEN WESTMÄCHTEN UND DEUTSCHLAND Die Politik des Deutschen Reichs in diesen Tagen des März und April 1939 zielte darauf, nun möglichst schnell und allseitig Polen in Europa zu isolieren. Nicht zuletzt aus diesem Grund rückte die UdSSR auch in den Fokus der Berliner Kalkulationen, denn kein Staat in Europa konnte diese Isolation effektiver bewerkstelligen als eben sie. Die Ausgangsposition indes war problematisch. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen hatten sich mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten deutlich verschlechtert. Auch wenn das „Sonderverhältnis“ zwischen Berlin und Moskau bereits in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre abgekühlt war, so führte doch erst der Antibolschewismus der neuen Machthaber zu einer signifikanten Verschlechterung. Die deutsche Außenpolitik nach 1933 zielte zunächst auf eine rasche Verbesserung der Beziehungen zu Polen. Die Kontakte zur Sowjetunion, dem Hort des „jüdischen Bolschewismus“, ließ sie zwar nie ganz abreißen, indes auf ein Minimum absinken. Berlin und Moskau entwickelten in den 1930er Jahren ihre außen- und sicherheitspolitischen Konzepte ohneeinander und sogar gegeneinander: Die Bezeichnung des 1936/37 geschlossenen deutsch-japanisch-italienischen Bündnisses als „Antikominternpakt“ sprach Bände. Im Frühjahr 1939 aber wurde sich die sowjetische Führung ihrer gestiegenen Bedeutung – sowohl für die Lage der Westmächte als auch für die Interessen Berlins – bewusst. Was die Politik Moskaus nun seit dem März 1939 kennzeichnen sollte, war eine vorsichtige, auf die Wahrung eigener Interessen bedachte Doppelgleisigkeit. Zunächst aber vermied die sowjetische Politik jegliche verfrühte Festlegung. Scharf, dabei aber noch immer auslegungsfähig, war die berühmt gewordene Äußerung Josef Stalins auf dem 18. Parteikongress im März 1939: "Die Aufgaben der Partei auf dem Gebiet der Außenpolitik bestehen in folgendem: […] Vorsichtig zu beobachten und den Kriegsprovokateuren, die es gewohnt sind, sich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen, nicht die Möglichkeit zu geben, unser Land in Konflikte hineinzuziehen." In Berlin traf diese Formulierung auf erhöhtes Interesse, sah die NS-Führung sie doch als eine Art Gesprächsangebot. Im April folgten Gespräche zwischen dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker und dem sowjetischen Botschafter Aleksej Merekalov, aus denen die deutsche Seite herauslas, was sie lesen wollte: Offenbar sei Moskau durchaus bereit, die stark reduzierten Kontakte zu Deutschland wieder zu aktivieren. Moskau setzte allerdings keineswegs allein auf eine deutsche Option, sondern lotete ebenso die Verhandlungsbereitschaft der Westmächte aus. Seit dem 23. März führten Großbritannien, Frankreich und die UdSSR Gespräche über gemeinsame Maßnahmen, um weitere deutsche Aggressionen abzuwehren. Vertragsvorschläge, Adaptionen, Gegenvorschläge und Vorwürfe wechselten in diesen Wochen einander in hoher Dichte ab. Wichtiger als eine genaue Rekonstruktion der sowjetischen Kontakte zu beiden Seiten ist die Feststellung, dass die grundlegenden Interessen der Verhandelnden keineswegs identisch waren. London und Paris war an einem eindeutigen, an Berlin gerichteten Zeichen gelegen, das den Nationalsozialisten die Risiken weiterer Expansion aufzeigen sollte. Die Einbeziehung der UdSSR diente der Erhöhung des Drucks und einer Demonstration der Entschlossenheit. Ihr Ziel war es weder, den Gesprächsfaden mit Deutschland gänzlich abreißen zu lassen, noch einen Vertrag mit der Sowjetunion abzuschließen, der beide Seiten völlig eindeutig aneinander gebunden hätte. Moskau wollte angesichts der Erfahrung von München, dass sich die Westmächte eindeutig festlegen. Und es strebte danach, dass diese der Sowjetunion freie Hand im Umgang mit allen Staaten ihrer unmittelbaren westlichen Peripherie geben. Moskau argumentierte mit der nicht von der Hand zu weisenden unkalkulierbaren Gefahr einer weiteren deutschen Einflussnahme auf die Klein- und Mittelstaaten zwischen Nordeuropa und dem Balkan und forderte das Recht darauf, diese Staaten auch ohne deren expliziten Willen garantieren zu können. Die hierfür nötigen Maßnahmen zu bestimmen, behielt sich die UdSSR vor. Eine solche Haltung überging die Souveränität der formell garantierten, tatsächlich dem sowjetischen Einfluss geöffneten kleineren Staaten völlig. Widerwillig und durchaus im Bewusstsein der prinzipiellen Fragwürdigkeit ihres Tuns, stimmten die Westmächte am Ende zu und einigten sich mit Moskau am 24. Juli 1939 auf eine geheim zu haltende Liste von Staaten, die unter diese Garantiezusage fallen sollten. Moskau hatte hiermit faktisch eine Zusage erhalten, in weiten Teilen Ostmitteleuropas nach eigener Interessenlage handeln zu können. War die Verhandlungsposition der Westmächte in diesem Sommer 1939 nahezu alternativlos, so verfügte das Dritte Reich über noch geringeren Spielraum, wenn es den eingeschlagenen Kurs der bewussten Konfrontation konsequent weiter verfolgen wollte. Berlin benötigte angesichts der polnischen Weigerung einen Partner, mit dem eine schnell verabredete, für den konkreten Augenblick tragfähige Übereinkunft zur Isolierung Polens zu erzielen war. Gelang diese Isolierung nicht, drohte der Zeitplan des „Fall Weiß“ aus der Hand zu gleiten, drohte der Präzedenzfall einer Desavouierung Deutschlands durch Polen und seine Verbündeten, drohte das Risiko, dass aus einer begrenzten militärischen Strafaktion gegen den widerspenstigen Gegner im Osten ein Konflikt unkalkulierbarer Dimensionen erwuchs. Deutschlands militärisches Potential war wesentlich begrenzter, als es die Propaganda Glauben machen wollte. Die Nationalsozialisten waren indes in der Lage, unter dem Zwang der selbst hervorgerufenen Lage pragmatischer, rücksichtsloser und egoistischer zu handeln als ihre Konkurrenten. Weder bei ihren Zielen, noch bei ihren Mitteln hielt sich die nationalsozialistische Außenpolitik an die Spielregeln klassischer Diplomatie. Da die veröffentlichte Meinung vollständig von der Partei kontrolliert war, brauchte die Führung im Falle eines plötzlichen ideologischen Schwenks keinen Widerspruch zu fürchten. Von keinerlei Interessen eines Partners eingeengt, konnte Berlin in einer Weise auf Moskau zugehen, die von Zeitdruck einerseits und von nacktem situationsbedingten Pragmatismus andererseits gekennzeichnet war. Veränderungen auf der personellen Ebene begünstigten die Entwicklung. Die Nationalsozialisten nahmen mit großer Aufmerksamkeit wahr, dass die Sowjetunion Anfang Mai 1939 ihren langjährigen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, den Protagonisten der Idee der „kollektiven Sicherheit“, aus dem Amt verabschiedete. An die Stelle Maksim Litvinovs, eines herausragenden Repräsentanten der Sowjetintelligenz der 1920er Jahre, eines Intellektuellen mit jüdischen Wurzeln, wurde Vjačeslav Molotov in das Amt des sowjetischen Außenkommissars berufen. Molotov, der Typus eines der Partei rückhaltlos ergebenen, intellektuell nicht allzu eigenständigen, dafür vielseitig verwendbaren und Stalin gegenüber kritiklos loyalen sowjetischen apparatčik, verkörperte in der geneigten Lesart der Nationalsozialisten den Vertreter einer nationalrussischen, weniger kommunistischen und schon gar nicht jüdischen Orientierung sowjetischer Politik. Als ein Symbol dezidierten sowjetischen Desinteresses ließen sich die seit März aus Moskau gesandten Signale gerade nicht interpretieren. Zeitlich nah zu den ersten Verhandlungsergebnissen der Westmächte und der UdSSR setzte nun eine rückhaltlose, drängende deutsche diplomatische Offensive ein. Moskaus territoriale Interessen blieben dieselben. Was aber die Westmächte zögerlich und im Lichte großen prinzipiellen Misstrauens unter dem Siegel der Geheimhaltung zugestanden hatten, das konnte Berlin schnell, pragmatisch und rücksichtslos großzügig über alle Bedenken hinweg anbieten. Und auch das Angebot des gegenseitigen Nichtangriffes kam in der Situation der Stunde den sowjetischen Sicherheitsinteressen glaubhafter und konkreter entgegen, als es das Alternativangebot der Westmächte tat. Die Deutschen kamen später, ihr Angebot aber war handfester und besser. Am 23. August 1939 unterzeichnete der Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop in Moskau die ersten Teile jenes Vertragswerkes, das der Welt als Hitler-Stalin-Pakt bekannt ist. DER PAKT Kernbestandteil des Abkommens war der Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der UdSSR vom 23. August 1939. In ihm vereinbarten beide Seiten, keinerlei Gewaltakt, aggressive Handlung oder Angriff auf den jeweils Anderen zu vollziehen. Sie vereinbarten, dass kein Partner eine dritte Macht bei einem Angriff auf den Vertragspartner unterstützen werde und sagten einander zu, Fragen von gemeinsamem Interesse künftig in enger Fühlung miteinander zu erörtern. Etwaige Konflikte zwischen beiden sollten ausschließlich einvernehmlich gelöst werden. Mit demselben Datum versehen ist ein Geheimes Zusatzprotokoll, das die „Abgrenzung der beiderseitigen Interessenssphären in Osteuropa“ fixierte. Punkt 2 regelte, was den Deutschen konkret unter den Nägeln brannte, nämlich den Umgang mit Polen. Darin heißt es: "Für den Fall einer territorialpolitischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete werden die Interessenssphären Deutschlands und der UdSSR ungefährt [sic] durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt. Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden." Deutschlands Einflusssphäre sollte nach diesem Zusatzprotokoll bis zur Nordgrenze Litauens reichen, wobei das als „berechtigt“ bezeichnete litauische Interesse an Wilna – das große Konfliktthema der polnisch-litauischen Beziehungen – von beiden Seiten bekräftigt wurde. Alle weiteren ostmitteleuropäischen Staaten und Territorien, explizit Finnland, Estland und Lettland, ebenso Bessarabien, fielen demnach der sowjetischen Einflusszone zu. Gestützt auf diese zwei Dokumente, deren Inhalt und noch mehr deren Form von der Hektik und dem Zeitdruck zeugen, konnte sich Deutschland der wirkungsvollen Isolation Polens sicher sein. DIE FOLGEN Der deutsche Angriff auf Polen begann in den Morgenstunden des 1. September 1939. Der Angegriffene, der fest auf die westlichen Zusagen des vergangenen Sommers baute, setzte sich mit allen Mitteln zur Wehr. Die britische und französische Kriegserklärung an das Deutsche Reich vom 3. September rief in Polen die begeisterte Hoffnung auf einen raschen Sieg über den Aggressor hervor. Der Gang der Ereignisse indes ist bekannt: Weder Briten noch Franzosen griffen Deutschland an. Im Bewusstsein, dass die alliierte Waffenhilfe erst nach der Anlauffrist von 15 Tagen zu erwarten sei, führte die polnische Armee den ungleichen Kampf fort, zog sich aber unter großen Verlusten in raschem Tempo ins Landesinnere zurück. Auch am 15. Tag der deutschen Offensive griffen die Westmächte nicht ein. Polens heutige Erinnerung an den September 1939 ist von mehreren Elementen getragen: Zum einen verweist man seit der Frühphase des Zweiten Weltkrieges stolz darauf, dass vor den Polen niemand gewagt habe, sich den deutschen Aggressoren bewaffnet entgegenzustellen. Das Schreckliche, das danach kam, zeige, dass die verlustreiche und traumatische, letztlich militärisch erfolglose Abwehr ohne ernstzunehmende Alternative gewesen sei. Zum anderen ist die Passivität der Westmächte tief in das historische Bewusstsein eingedrungen: Mehr noch als Großbritannien trifft vor allem Frankreich der Vorwurf, einen entschlossenen, richtig handelnden Verbündeten sehenden Auges in der Stunde größter Not allein gelassen zu haben. Das polnisch-französische Verhältnis ist hiervon bis heute belastet. Drittens – und das führt zu den Ereignissen des Septembers zurück – war der September 1939 kein deutsch-polnischer Konflikt allein. Am 17. September griff die Sowjetunion das mit den Deutschen kämpfende Polen von Osten an. Moskau erklärte, angesichts einer faktisch nicht mehr vorhandenen Autorität der polnischen Regierung den Schutz der Menschen im östlichen Polen übernehmen zu müssen. Die im Zusatzprotokoll verabredete territoriale Teilung Polens erfolgte unter dem Vorwand, die Interessen der dort lebenden weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung zu wahren. Noch bevor am 6. Oktober 1939 die letzten polnischen Feldtruppen kapitulierten, reiste am 28. September der deutsche Außenminister von Ribbentrop erneut nach Moskau. Deutschland und die UdSSR präzisierten nach den schnellen gemeinsamen Erfolgen im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag einige Elemente des im August so eilig abgeschlossenen Abkommens: In einem weiteren Geheimen Zusatzprotokoll wurde die Grenzziehung der Einflusssphären geändert. Fortan zählte der gesamte litauische Staat zur sowjetischen, die ehemalige Wojewodschaft Lublin und Teile der Wojewodschaft Warschau hingegen zur deutschen Zone. Ein weiteres Protokoll formulierte die gemeinsame Absicht, keinerlei „polnische Agitation“ zu dulden, die „auf die Gebiete des anderen Teiles hinüberwirkt“. War diese Festlegung auch dem noch gar nicht beendeten Krieg gegen Polen geschuldet, so griff ein „Vertrauliches Protokoll“ vom selben Tag ein Thema von letztlich verheerender Tragweite für ganz Ostmitteleuropa auf: Die Regierung der UdSSR erklärte, der planmäßigen Übersiedlung von Personen deutscher Abstammung aus ihren Interessensgebieten „keine Schwierigkeiten in den Weg zu legen“. Im Gegenzug übernahm die deutsche Seite eine gleichlautende Verpflichtung, Personen ukrainischer und weißrussischer Abstammung aus ihrem Interessensgebiet dasselbe zu gewähren. Beide Diktatoren – offiziell in Freundschaft vereint – begannen mit der erzwungenen Auflösung dessen, was Ostmitteleuropa bis dahin so einzigartig gemacht hatte: der komplizierten ethnischen, konfessionellen und sozialen Gemengelage. Jahrhundertealte Strukturen, die trotz der Verwerfungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch immer in ihrem Kern existierten, wurden mit einem Federstrich der Regelungskompetenz Berlins und Moskaus unterstellt. Die demographische Katastrophe Ostmitteleuropas – auch der dort lebenden Deutschen – wurde hier, nicht etwa in den folgenden Kriegsereignissen, erst recht nicht in den Jahren 1944/45 angestoßen und ohne Verzögerung in die Tat umgesetzt. Ob beide Diktaturen sich der Ungeheuerlichkeit des Begonnenen bewusst waren? Mindestens vollzogen sie in einer „Erklärung der Deutschen Reichsregierung und der Regierung der UdSSR vom 28. September 1939“ den demonstrativen politischen Schulterschluss. Gemeinsam forderten sie England und Frankreich auf, den Kriegszustand mit Deutschland (einen solchen mit der Sowjetunion gab es nicht) zu beenden. "Sollten jedoch die Bemühungen der beiden Regierungen erfolglos bleiben, so würde damit die Tatsache festgestellt sein, dass England und Frankreich für die Fortsetzung des Krieges verantwortlich sind, wobei im Falle einer Fortdauer des Krieges die Regierungen Deutschlands und der UdSSR sich gegenseitig über die erforderlichen Maßnahmen konsultieren werden." BESATZUNG Noch am selben Tag schloss die Sowjetunion einen ersten Beistandspakt mit Estland ab, am 5. Oktober einen solchen mit Lettland und am 10. Oktober mit Litauen. Moskau begann, die im Sommer vertraglich bereits sanktionierten Garantien auszusprechen. Alle Verträge sahen die Einrichtung sowjetischer militärischer Stützpunkte auf den Territorien der kleinen Partnerländer vor. Im Laufe weniger Monate kam es in allen drei Staaten zu inszenierten „Vorfällen“, die Moskau zur Erhöhung seiner Truppenpräsenz, letztlich zur ultimativen Forderung nach der prosowjetischen Umgestaltung der jeweiligen Regierung nutzte. Bereits im August 1940 erfolgte die Aufnahme der drei Staaten als Sowjetrepubliken in die UdSSR. Fast ebenso schnell ging die sowjetische Regierung im östlichen Polen vor: Ende Oktober 1939 proklamierte die dort unter sowjetischen Bedingungen gewählte Volksversammlung der Westukraine und des westlichen Weißrussland die Angliederung der jeweiligen Territorien an die UdSSR. Dem „Wunsch“ der Volksversammlungen entsprach der Oberste Sowjet der UdSSR in den ersten Novembertagen. Die Sicherung der territorialen Erweiterung aus dem Hitler-Stalin-Pakt vollzog die UdSSR also in Form der konsequenten Annexion, was erhebliche Bedeutung für das Schicksal dieser Territorien und ihrer Bürger in den folgenden Jahren hatte. Allein Finnland weigerte sich, dem identischen sowjetischen Ansinnen nachzugeben und konnte – territorial reduziert – seine Unabhängigkeit nach dem finnisch-sowjetischen Winterkrieg von 1939–1940 aufrechterhalten. Das Deutsche Reich schloss ebenfalls weite Teile des eroberten polnischen Territoriums unmittelbar an das Reich an und bildete aus den verbliebenen Gebieten das als „Nebenland des Deutschen Reiches“ titulierte sogenannte Generalgouvernement. Wie sich das Deutsche Reich und die UdSSR seit dem September 1939 als Okkupationsmächte verhielten, sprengt den Rahmen dieser Übersicht zum Hitler-Stalin-Pakt, hat aber seither als Gegenstand historischer Forschung nichts an Aktualität verloren. Namentlich seit den Umbrüchen von 1989 hat die Aufarbeitung der lange Zeit verschwiegenen sowjetischen Herrschaftspraxis in diesem Teil Osteuropas begonnen. Als vor siebzig Jahren der Pakt der beiden Diktatoren geschlossen wurde, war er eine kaum vorstellbare Sensation. Zwei bis dato vermeintlich ideologisch diametral entgegengesetzte Systeme überwanden in wenigen Wochen scheinbar die Grundfesten ihrer Weltanschauung und schlossen ein Abkommen von größter Rücksichtslosigkeit. Die Propaganda verstummte, der „Abschaum der Erde“ und „der blutige Mörder der Arbeiterklasse“ verneigten sich höflich voreinander, wie es David Low im Evening Standard so einprägsam zeichnete. Dem genauen Betrachter entgeht nicht, dass der britische Karikaturist zwischen Hitler und Stalin ein am Boden liegendes Opfer zeichnete. Zu Recht: Die Folgen des Paktes waren für Polen und ganz Ostmitteleuropa verheerend. Die im Pakt fixierte sowjetische Einflusszone sollte viel länger Bestand haben als die bereits im Juni 1941 gebrochene Phase von Nichtangriffspakt und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau. Für Ostmitteleuropa begann 1939 eine zweifache Okkupation. Die Feststellung, dass dabei nicht nur Deutschland, sondern auch die Sowjetunion eine entsetzliche Rolle spielte, relativiert nicht im geringsten deutsche Schuld und Verantwortung. Sie fordert lediglich dazu auf anzuerkennen, dass zu den finnischen, estnischen, lettischen, litauischen und polnischen Erfahrungen seit dem August 1939 neben der nationalsozialistischen Besatzungspolitik auch die sowjetische Okkupation gehört. Ostmitteleuropa hat besondere historische Erfahrungen, die bis heute die Politik dieser Staaten prägen. Sie gilt es zu kennen und zu berücksichtigen. Der Hitler-Stalin-Pakt ist dabei eine der zentralen Zäsuren. Werner Benecke (1964), Prof. Dr., Gerd Bucerius Stiftungsprofessor für Kultur und Geschichte Mittel und Osteuropas, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder Von Werner Benecke erschien zuletzt in Osteuropa: Der Warschauer Aufstand 1944, in: Osteuropa, 8/2004, S. 13–26.
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