Titelbild Osteuropa 7-8/2009

Aus Osteuropa 7-8/2009

Zur neuen Kommission beim Präsidenten der Russländischen Föderation
Erklärung der Gesellschaft MEMORIAL

Dokumentation

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Abstract in English

(Osteuropa 7-8/2009, S. 277–278)

Volltext

In Russland gib es eine neue Kommission. Sie heißt Kommission für die Bekämpfung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands (Komissija po protivodejstviju popytkam fal’sifikacii istorii v uščerb interesam Rossiii). Hat man sich durch das grammatikalische Dickicht der Bezeichnung gekämpft, kann man zu folgendem Schluss kommen: Es gibt Kräfte, die versuchen, die Geschichte zu fälschen. Diese Versuche schaden Russlands Interessen. Aufgabe der Kommission ist es, diesen Versuchen entgegenzuwirken. Welche Bedeutung die Kommission für den Staat hat, zeigt schon ihre Zusammensetzung. Da finden sich der Inlandsgeheimdienst FSB, der Auslandsnachrichtendienst, der Sicherheitsrat, das Außen- und das Justizministerium, ja sogar der Generalstabschef der Armee. Vorsitzender ist der Chef der Präsidialverwaltung Sergej Naryškin. Die professionellen Historiker unter den 28 Kommissionsmitgliedern kann man an einer Hand abzählen. Das ist kein Zufall. Geschichtsfälschungen fügen – unabhängig davon, welche nationale Geschichte sie betreffen und gegen wen sie sich richten – der gesamten Menschheit Schaden zu, den Franzosen und den Polen, den Amerikanern und den Finnen, den Bürgern Russlands und jedes anderen Landes. Der Versuch, eine besondere Kategorie von Fälschungen zu identifizieren, die „den Interessen Russlands schadet“, ist, gelinde gesagt, reichlich bizarr. Aber das ist bei weitem nicht alles. Es gibt tatsächlich zahlreiche Versuche, die Geschichte Russlands zu verfälschen. Nach wie vor kursieren die stalinistischen Erfindungen von einer „fünften Kolonne“ und einer „faschistischen Verschwörung im Militär“ im Jahre 1937. Ferner werden überall in Russland Bücher verbreitet, die entgegen allgemein bekannten Tatsachen beweisen sollen, dass der NKVD an „Katyn“ – der Erschießung polnischer Kriegsgefangener im Jahr 1940 – nicht beteiligt war. Hochrangige Politiker relativieren den Staatsterror der Stalin-Zeit oder rechtfertigen ihn sogar, obwohl längst veröffentlichte Dokumente ihn eindeutig belegen. Solche Tendenzen sind sogar in die Schulbücher eingegangen. Fügen derlei eklatante Geschichtsfälschungen Russland Schaden zu? Ohne Zweifel. Sie nehmen den Bürgern Russlands ihre einzigartige und tragische Vergangenheit, sie untergraben die Grundlagen unserer nationalen Identität, sie zerstören das Band zwischen den Generationen, sie verwischen die sittlichen Wertmaßstäbe der Jugend, sie erzeugen Konflikte mit den Nachbarvölkern und unterminieren Russlands Ruf in der Welt. Wir halten es für falsch, mit gesetzlichen Verboten gegen Geschichtsfälschungen vorzugehen. Man muss sich mit ihnen in freien wissenschaftlichen Diskussionen – auch internationalen – auseinandersetzen, in denen alle Parteien ihre Argumente einer breiten Öffentlichkeit vortragen können. Die Gesellschaft ist imstande und hat ein Recht darauf, frei und offen über historische Fakten – sowohl bereits bekannte als auch neu entdeckte – zu diskutieren, sie zu bewerten und historisch einzuordnen, zu entscheiden, wie mit ihnen umzugehen ist. Die Aufgabe des Staates beschränkt sich darauf, solche Diskussionen zu ermöglichen, indem er die historischen Materialien umfassend und schnell freigibt, den Zugang zu historischen Dokumenten erleichtert, die Arbeit der Archive finanziert und die historische Forschung sowie die Publikation ihrer Ergebnisse fördert. In keiner Weise darf er auf die Inhalte Einfluss nehmen. Freier Zugang zu historischen Quellen und ihre umfassende Veröffentlichung sind das beste Mittel gegen Fälscher. Dafür bedarf es keiner neuen Spezialkommissionen. Es reicht aus, die Arbeit jener Kommission zu verbessern, die für die Freigabe der staatlichen Archive zuständig ist und die übrigens der erwähnte Sergej Naryškin leitet. Insbesondere ist die Entscheidung zu revidieren, mit der die Untersuchungsergebnisse der Zentralen Militärstaatsanwaltschaft der Russländischen Föderation zu Katyn für geheim erklärt worden sind. Wir wollen uns aber keine Illusionen machen. Vermutlich wird die neue Kommission nicht gegen Fälschungen historischer Tatsachen vorgehen, sondern gegen bestimmte Ansichten, Bewertungen und Konzeptionen, natürlich nur gegen jene, die im Widerspruch zur staatlichen Erinnerungspolitik stehen. Gerade von diesen Bewertungen und Konzeptionen wird es heißen, sie schadeten Russlands Interessen; gerade sie wird der Staat bekämpfen. Wie das aussehen wird, kann man sich leicht vorstellen, wenn man von der reichhaltigen Erfahrung ausgeht, die man in Russland mit dem „Kampf gegen Geschichtsfälscher“ hat. Wenn sich unsere Befürchtungen bewahrheiten, dann ist diese Kommission nicht nur kontraproduktiv, sondern sogar verfassungswidrig, denn ihr Kampf ideologisiert die Politik des Staates, was nach Art. 13 der Verfassung der Russländischen Föderation ausdrücklich verboten ist. Moskau, 22. Mai 2009 Aus dem Russischen von Vera Ammer, Euskirchen

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