Titelbild Osteuropa 11/2010

Aus Osteuropa 11/2010

Editorial
Anders denken

Manfred Sapper, Volker Weichsel, Wolfgang Eichwede


Abstract in English

(Osteuropa 11/2010, S. 3–4)

Volltext

Eine Schreibmaschine, Papier und Kohlepausen. Das war alles, was die Dissidenten in den kommunistischen Diktaturen brauchten, um ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Fast alles. Noch wichtiger waren Rückgrat, Mündigkeit und das Bewusstsein, dass Freiheit und menschliche Würde untrennbar sind. Daraus speiste sich das emphatische Eintreten der Dissidenten für die Menschenrechte. Andrej Amal’rik brachte auf den Punkt, welche subversive Kraft ihr Handeln entfaltete: „Die Andersdenkenden vollbrachten eine Tat von genialer Einfachheit. In einem unfreien Land begannen sie, sich wie freie Menschen zu benehmen.“ Sie schrieben und druckten, was ihnen beliebte. Sie kämpften für die Freiheit der Kunst und für die Freiheit des Glaubens, oder aber sie stritten für die Freiheit von Bevormundung und ideologischer Borniertheit.
Mit Schreibmaschinen und Kohlepapier unterliefen sie den Allmachtsanspruch der Wahrheitsministerien und der Zensur. Die erste Auflage ihrer Flugblätter und Denkschriften, ihrer Gedichte, Romane oder historischen Abhandlungen kursierte in acht bis 12 Durchschlägen. Wer sie lesen wollte, musste eigene Abschriften anfertigen. Das lesende Weitergeben führte zu einem Schneeballeffekt. Das war der Kern des Samizdat, des Selbstverlags.
Heute steht der Begriff „Kohlepapier“ auf der Roten Liste der deutschen Sprache. Studierenden der Generation 2010 ist er fremd. Nichts verdeutlicht besser, welch atemberaubender Strukturwandel der Öffentlichkeit sich in den vergangen zwei Jahrzehnten vollzogen hat. Laptop und Smartphones, Blogs und Twitter sind heute state of the art. Ist damit das Erbe der Dissidenten und des Samizdat nicht mehr als eine historische Reminiszenz, fast soweit weg wie das Genre der Bulle? Dieses Urteil wäre voreilig. Denn in autoritären Regimen, die das politische Denken regulieren und die Massenmedien kontrollieren, um die Öffentlichkeit zu anästhesieren, sind das dissidentische Denken und die Kultur des Samizdat noch immer aktuell. Autoren im russischen Internet stellen sich in die Tradition des Samizdat. Einige machen es, um das eigene Schaffen zu nobilitieren. Andere stilisieren sich so als Verteidiger der Freiheit im Kampf gegen staatliche Eingriffe ins Netz. Doch das ist nur die Eigenzuschreibung. Wer in einem Blick zurück Samizdat als analytische Kategorie begreift, erkennt schnell, was der historische und der digitale Samizdat gemeinsam haben: eine potentielle Widerständigkeit gegen Kontrolle und Zensur. Was die Produktionsform und die potentielle Zugänglichkeit betrifft, überwiegen zwar die strukturellen Unterschiede. Das Netz bietet jedem Raum zur Selbstartikulation. Doch per se ist es weder ein Raum der Gegenöffentlichkeit, noch der Gegenkultur, noch der Gesellschaftskritik. Aber das Eintreten für die Freiheit des Wortes ist so aktuell wie eh und je. Und was die politische Kraft des anderen Denkens betrifft, so ist an Eines zu erinnern: In historischer Perspektive erwiesen sich die Bürgerrechtler als realistischer als die Realpolitiker. Auch in diesem Sinne bleibt die Welt der Dissidenten und des Samizdat aktuell.