Titelbild Osteuropa 2-4/2010

Aus Osteuropa 2-4/2010

Editorial
Kontinuität und Wandel

Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 2-4/2010, S. 7–8)

Volltext

Die Ukraine ist ein Zwischenland. Sie liegt zwischen Ost und West, Nord und Süd, Europa und Asien. Ihr Staatsgebiet – das zweitgrößte Europas – erstreckt sich von der feuchten Mischwaldzone im Norden über die Trockensteppe bis zur mediterranen Südküste der Krim. Für viele Jahrhunderte lag das Gebiet der heutigen Ukraine an der Scheidelinie zwischen sesshaften Ackerbauern und Reiternomaden. In der Ukraine liegt die Wiege der ostslawischen Orthodoxie. Später gehörten große Teile der heutigen Ukraine zu Polen-Litauen und damit zur katholisch-lateinischen Welt. Bis heute ist die Ukraine das Übergangsland zwischen den christlichen Konfessionen. Der Westen der Ukraine gehörte von den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg zum Reich der Habsburger, der Osten zum Russischen Zarenreich. Doch mehr noch als diese oft betonten Gegensätze ist es die Einheit in der Vielfalt, welche die Ukraine so bemerkenswert macht. Das Klischee von der Ost-West-Spaltung hält der Prüfung nicht stand. Der Gegensatz zwischen der ukrainischsprachigen und der russophonen Ukraine wird oft überzeichnet. Lemberg hat seine Plattenbausiedlung und Charkiv seine katholische Kirche. Das Land entzieht sich den einfachen Zuschreibungen. Die Rotbuchen-Urwälder in den Karpaten gehören zu den letzten Flecken Europas ohne sichtbaren menschlichen Einfluss. In den devastierten Industrielandschaften im Donbass sind die natürlichen Ökosysteme weitgehend zerstört. Den schnauzbärtigen Bergarbeiter auf dem Titelbild assoziieren viele mit der Ukraine. Doch er ist nicht typischer für das Land als die Dame auf der Rückklappe. Sie gehört zur Frauenrechtsbewegung FEMEN. Hier fordert sie in markanter Verkleidung: Sei keine Hure, verkauf Deine Stimme nicht. Beide Bilder entstanden während des Wahlkampfs 2010. Auch politisch gilt es, Widersprüche auszuhalten: Nach der Orangen Revolution versprachen Viktor Juščenko und Julija Tymošenko 2005 einen radikalen Neuanfang nach Jahren der autoritären Herrschaft. Fünf Jahre später herrschte große Ernüchterung: Nichts schien sich verändert zu haben. Die Bilanz hängt jedoch vom Maßstab ab. Misst man die Ukraine an Polen oder den baltischen Staaten, ist die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit enttäuschend. Politischer Wettbewerb findet in der Ukraine oft nicht nach festen Regeln statt. Die Regeln sind vielmehr Teil des Wettbewerbs. Eine Gruppe von Großunternehmern, die sogenannten Oligarchen, dominiert die ukrainische Politik. Viele politische Entscheidungen sind intransparent, die Korruption ist endemisch. Vergleicht man die Ukraine allerdings mit den ostslawischen Nachbarn Belarus und Russland, so fällt die Bewertung anders aus: Während dort Präsidentschaftswahlen bloße Akklamation für den Kandidaten der Macht sind, standen in der Ukraine bereits bei den Wahlen 2004, deren Manipulation zur Orangen Revolution führte, zwei Kandidaten mit einer echten Chance auf Erfolg zur Auswahl. Die Parlamente in Minsk und Moskau verdienen den Namen nicht, den sie tragen. In Kiew hingegen bildet eine parlamentarische Mehrheit die Regierung, und politische Konflikte werden in der Verchovna Rada ausgetragen. Dies sind im postsowjetischen Raum Alleinstellungsmerkmale, mit denen die Ukraine sich schmücken darf. Ökonomisch fällt die Bilanz düsterer aus: Die ukrainische Volkswirtschaft steht am Abgrund. Bereits in den 1990er Jahren erlebte sie eine Rezession, wie es sie im letzten Jahrhundert zu Friedenszeiten in keinem anderen Land der Erde gegeben hatte. Der Aufschwung des vergangenen Jahrzehnts endete jäh mit der Finanzkrise von 2008. Diese griff rasch auf die Realwirtschaft über. Der Staatsbankrott konnte nur mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds verhindert werden. Auch wenn sich eine Erholung abzeichnet, ist die Ukraine weiter enorm anfällig. Dies hat mehrere Gründe. Einer ist die hohe Abhängigkeit von den sprunghaften Rohstoffpreisen. Über die Hälfte der ukrainischen Ausfuhren entfallen auf die Grundstoffindustrie, vor allem auf Stahl. Entsprechend gering ist die Wertschöpfung im Land. Viel schlimmer noch ist, dass die ukrainische Wirtschaft eine der energieintensivsten der Welt ist – und gleichzeitig vom Import teurer Energieträger aus Russland abhängig. Seit 2010 – fast zwanzig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion – zahlt die Ukraine für Erdgas aus Russland erstmals einen Preis, der nicht mehr unter dem europäischen liegt. Dies ist eine schwere Bürde. Doch der Reformdruck bietet Chancen: Der Energieverbrauch muss gesenkt und erneuerbare Energien müssen gefördert werden. Damit die Ukraine ihr großes landwirtschaftliches Potential nutzen kann, braucht sie mehr technische Expertise, besseres Management und eine verlässliche Agrarpolitik. Auch die sozialen Sicherungssysteme müssen dringend reformiert werden, damit sie die Beitragszahler tatsächlich gegen Einkommensausfälle durch Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit schützen. All dies findet nicht irgendwo in der Ferne statt. Seit der Osterweiterung der Europäischen Union gehört die Ukraine zu unseren Nachbarn. Was zwischen Užhorod und Luhans’k geschieht, geht uns unmittelbar an. Doch allzu oft wird die Ukraine noch immer aus der Ferne wahrgenommen. Die Korrespondenten der meisten internationalen Medien berichten über die Ukraine mitnichten aus Kiew, sondern aus Moskau oder Warschau. Dieser Band macht es anders: Er lässt neben deutschen und internationalen Experten viele Ukrainer zu Wort kommen: Journalisten und Historiker, Schriftsteller und Politikwissenschaftler. Zusammen gehen sie den Metamorphosen des Politischen nach, den Wandlungen der öffentlichen Sache, zu der neben der Politik selbstverständlich auch die Kultur, neben der Ökonomie auch die Gesellschaft gehört. Sie richten ihren Blick zu einem Zeitpunkt auf die Ukraine, da das Land einen Schichtwechsel erlebt. Der neue ukrainische Präsident Viktor Janukovyč, so fürchten oder hoffen viele, werde als starker Mann das Land wieder näher an Russland rücken. Doch Janukovyč versprach im Wahlkampf nicht „Change“, sondern Stabilität. Und angesichts der Lage der Ukraine kann Janukovyč gar nicht anders, als die Ukraine nach allen Seiten offen zu halten. Für Moskau und für Washington – und für Brüssel sowieso.