Die Passagierin
Über Auschwitz, das Buch und Weinbergs Oper
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Abstract in English
Abstract
Zofia Posmysz hat Auschwitz überlebt. Ihre Erfahrungen im KZ verarbeitete sie in der Novelle Die Passagierin. Das Buch erschien 1962 und diente Mieczysław Weinberg als Vorlage für seine gleichnamige Oper. Aus ideologischen Gründen war sie in der UdSSR aber auch in Polen tabu. Nun wird sie uraufgeführt. Zofia Posmysz empfindet dies als großes Glück. Sie blickt zurück auf die Zeit im KZ, schildert den Weg zum Buch und zur Oper, erinnert sich an den verschlossenen Weinberg und plädiert dafür, jüdisches oder polnisches Leid nicht gegenüberzustellen. Auschwitz ist ein Trauma der Menschheit.
(Osteuropa 7/2010, S. 147156)
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Osteuropa: Frau Posmysz, im Sommer 2010 wird Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin szenisch uraufgeführt. Dieser Oper liegt Ihr gleichnamiges Buch zugrunde. Was empfinden Sie dabei, fünf Jahrzehnte nachdem Sie Ihre Erfahrungen aus Auschwitz literarisch verarbeitet haben?
Zofia Posmysz: Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben, dass Die Passagierin aufgeführt würde. Weinberg hatte die Oper ja 1968 abgeschlossen. Sie sollte im Bol’šoj-Theater in Moskau aufgeführt werden. Aber aus ideologischen Gründen wurde das unterbunden. Im damaligen Jargon hieß es, wegen „abstrakten Humanismus“. Aleksandr Medvedev, der das Libretto verfasst hat, versuchte später, die Oper in der Estnischen Sowjetrepublik und in der Tschechoslowakei zur Aufführung zu bringen. Soweit ich weiß, gab es in Prag sogar erste Proben, doch auch das wurde unterbunden – angeblich auf Intervention aus Moskau. Auch in Polen gelang es Medvedev nicht, Interesse an der Oper zu wecken. Vor vier Jahren passierte etwas Überraschendes. Das Polnische Kulturinstitut in Moskau rief mich an. Ich erfuhr, dass in Moskau eine konzertante Aufführung der Oper geplant sei. Ich sollte zur Uraufführung kommen. Ich hatte Lust, aber ehrlich gesagt auch Angst, mich nach so vielen Jahren wieder mit dem Werk auseinander zu setzen. Letztlich bin ich nicht gefahren … Osteuropa: Lassen Sie uns auf Ihr Schicksal zurückblicken. Ohne Sie würde es Weinbergs Oper nicht geben. Wann und warum kamen Sie nach Auschwitz? Posmysz: Als die Deutschen Polen überfielen und besetzten, war ich Schülerin in Krakau. Dort besuchte ich den Unterricht, der im Untergrund stattfand. Und ich verteilte Flugblätter. Irgend jemand denunzierte uns. Wir waren zu viert und wurden im April 1942 von der Gestapo verhaftet. Zuerst war ich im Montelupich-Gefängnis in Krakau und wurde ständig verhört. Dann wurde ich nach Auschwitz transportiert.
Posmysz: Zuerst arbeitete ich auf dem Feld. Das war eine sehr schwere Arbeit. Als eine Frau floh, kam das ganze Landwirtschaftskommando zur Strafe nach Budy in eine Strafkompanie. Dort waren wir zwei Monate. Von 400 Frauen überlebten 143. Nun wurden wir nach Birkenau geschickt. Dort wurde ich einem so genannten Dreckkommando zugeteilt. Wir mussten den Matsch auf der Lagerstraße wegräumen. Dank dieser Drecksarbeit durfte ich einmal pro Woche in den Waschraum. Eines Abends waren wir dort, um uns zu waschen. Plötzlich mussten wir alle vor dem Block in Vierer- oder Fünferreihen antreten. Ich war schon erfahren. Eigentlich wusste ich, dass man sich nicht in die erste Reihe oder an die Seite stellen sollte. Da konnte man Schläge abbekommen oder von einem Hund angefallen werden. Dagegen war es in der Mitte relativ sicher. Aber plötzlich stand ich in der ersten Reihe. Ein Zufall. Ein SS-Unterscharführer kam an, lief die erste Reihe entlang und wählte aus: du, du, du. Wir wussten nicht, wozu. Es zeigte sich aber, dass er die Küche leitete. Er wählte Leute zum Schälen von Kartoffeln und Rüben aus. Anderes gab es nicht. Das war schon eine andere Arbeit. Nicht auf dem Feld, nicht im Regen, nicht im Frost, sondern unter einem Dach und sitzend. Wir mussten auch nachts um drei Uhr schälen. Manchmal brachten die Köchinnen eine Schüssel Suppe mit. Eine Schüssel war schon eine Chance, einen Monat länger zu leben.
Osteuropa: Dennoch erkrankten auch Sie schwer.
Posmysz: Ja, im November 1942 bekam ich Fleckfieber und wurde in den Block 27 gesteckt, das war der für Häftlinge mit infektiösen Krankheiten. Ich hatte über 40 Grad Fieber. Ich konnte nicht mehr gehen und lag auf der höchsten Pritsche. Selbst wenn ich hätte runtersteigen wollen, wäre ich sofort umgefallen. Aber auch das war ein Glück für mich. Denn da gab es ein Fenster, und von der Scheibe habe ich den Raureif abgekratzt, um die Lippen feucht zu halten. Die Fleckfieberkranken bekamen keinen Tropfen zusätzlicher Flüssigkeit. Bei so einem Fieber reichte der halbe Liter für den ganzen Tag nicht aus. Und dann … (sie stockt) Ich kann es nicht erzählen …
Aber ich habe überlebt. Irgendwann erschienen zwei Häftlinge. Die beiden Männer waren zur Arbeit im sogenannten Revier, den Krankenblocks im Frauenlager, eingeteilt. Der eine hieß Janusz Mąkowski und war Arzt. Der andere war Medizinstudent. Damals fiel mein Fieber, den Höhepunkt des Fleckfiebers hatte ich überwunden. Ich war aber sehr hungrig und hätte eine besondere Ernährung gebraucht. Aber es gab nur diese Steckrüben. Prompt erkrankte ich an der zweiten schrecklichen Lagerkrankheit: der Ruhr. Dr. Mąkowski sah, wie schlecht es mir ging, und sagte eines Abends: „Halte diese Nacht noch durch, morgen bringe ich dir Medikamente.“ Tatsächlich brachte er am nächsten Tag Tropfen und befahl mir, sie drei Tage einzunehmen. Später erfuhr ich: Es war Opium. Die beiden Häftlinge hatten Kontakte zum Widerstand. Manche Dinge bekamen sie von draußen, andere stahlen sie aus dem SS-Lazarett, wo auch polnische Häftlinge arbeiteten. Wahrscheinlich kamen diese Medikamente aus dem SS-Lazarett. So hat mir Herr Mąkowski das Leben gerettet. Nach ein paar Tagen kam er nicht mehr ins Frauenlager. Ich erfuhr, dass Mąkowski am Tor aufgehalten worden war. Sie fanden Medikamente bei ihm. Dafür bekam er Schläge und zehn Tage Haft im Stehbunker. Wahrscheinlich wurde er nicht erschossen, weil er Arzt war und die SS ihn brauchte … Aus dem Lazarett kam ich wieder ins Küchenkommando. Wieder hatte ich Glück im Unglück. Erkrankungen waren der Alltag. Eine Köchin wurde krank und ein SSMann suchte unter uns Kartoffelschälerinnen Ersatz für sie. Er hat mich gewählt … Nun arbeitete ich am Kochkessel. Der SS-Mann war ein Ungar. In den SS-Wachmannschaften gab es außer Deutschen auch Slowaken, Esten, Kroaten, Ukrainer: eine „SS-Internationale“. Einmal fand ich auf der Lagerstraße einen Rosenkranz. Irgendeine KZ-Insassin hatte ihn wohl aus Angst weggeworfen. Der Besitz eines Rosenkranzes war streng verboten und wurde schwer bestraft. Ich hob ihn trotzdem auf, nahm ihn an mich und auch mit in die Kü- che, wo ich nachts arbeitete. Ich füllte den Kessel und zündete das Feuer an. Ich ging an meinen Herd zurück, nahm den Rosenkranz und betete. Denn ich war allein. Plötzlich kochte der andere Kessel und fing an zu pfeifen. Ich eilte hin, um das Feuer niedriger zu machen. Als ich mich umdrehte, stand der SS-Mann vor mir, in seiner Hand hielt er den Rosenkranz. Er fragte: „Ist das deiner?“ Was sollte ich sagen? Ich sagte die Wahrheit. Dann fragte er: „Bist du katholisch?“ Und ich sagte: „Ja, ich bin katholisch.“ Er nahm den Rosenkranz und lief in dem Raum auf und ab. Ich dachte, das war’s. Plötzlich wandte er sich mir zu und sagte: „Meine Eltern sind auch katholisch. Nimm, aber verstecke ihn gut.“ Ich hatte, so merkwürdig das klingen mag, einen guten Kontakt mit ihm. Manchmal steckte er mir sogar ein Stückchen Brot zu. Doch diese Zeit währte nicht lange. Aus dem Lager in Ravensbrück kam eine Gruppe von SS-Frauen nach Birkenau. Das war im Mai 1943. Unter diesen Aufseherinnen war eine, die ich noch Jahre später vor Augen hatte, als ich zuerst ein Hörspiel und dann den Roman schrieb: die Aufseherin Franz. Und Marta, in meinem Buch die Passagierin, hatte mit mir am Kochkessel gestanden …
Osteuropa: Wann fanden Sie die Kraft, Die Passagierin zu schreiben?
Posmysz: Das dauerte lange. 1946 studierte ich zunächst in Warschau Polnische Philologie. Ab 1953 arbeitete ich dann für die Literaturabteilung des Polnischen Rundfunks. Ich schrieb Reportagen. Diese nahm man damals nicht auf, sondern wir schrieben eine Art Bericht, der dann von einem Sprecher vorgelesen wurde. Das war eine gute Schule für Journalismus. Bis 1959 dachte ich überhaupt nicht daran, etwas über das Lager zu schreiben, gar über eigene Erlebnisse. Mich interessierte eher das, was Freundinnen schrieben, die auch das Lager überlebt hatten. Es gab zwei sehr wichtige Bücher. Dymy nad Birkenau (Rauch über Birkenau) von Seweryna Szmaglewska sowie Krystyna Żywulskas Przesyłam Oświęcim (Ich habe Auschwitz überlebt). Mir schien damals, dass sich mit Worten gar nicht schildern lässt, was das Lager war. Auf jeden Fall fühlte ich mich nicht begabt, darüber zu schreiben. Statt dessen habe ich mich mit aktuellen Themen beschäftigt. Als Reporterin wurde ich nach Auschwitz geschickt. Dort befand sich der chemische Betrieb, der während des Krieges ein Zweigwerk der Bunawerke gewesen war. Hier hatten Ingenieure, Zwangsarbeiter aus Polen, aber auch Kriegsgefangene aus England gearbeitet. Damals hatte ich keinen Kontakt zu ihnen. Nach dem Krieg wurde das Werk von Polen übernommen und ausgebaut. Darüber sollte ich schreiben. Sehr beunruhigt fuhr ich hin, denn es war doch Auschwitz. Da sich der Betrieb aber auf dem gegenüber liegenden Ufer der Soła befand, hatte ich fast vergessen, dass es das Lager auf der anderen Seite gab, als ich die Interviews mit den Arbeitern führte. Ich übernachtete in einem einfachen Arbeiterhotel. Mitten in der Nacht rissen mich deutsche Stimmen aus dem Schlaf. Halbwach wusste ich nicht, was passierte. Ich ging auf den Flur und sah drei Männer; natürlich in ziviler Kleidung, aber mir schien, als wären sie SS-Männer. Verstört stand ich da, und einer stammelte: „Entschuldigung, ich habe zu laut gesprochen.“ Als ich am nächsten Tag dem Chemieingenieur im Werk davon berichtete, lachte er. Das seien Deutsche aus einem Chemiekombinat der DDR, mit dem sie einen Austausch hätten. Nun ja. Damals stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, ob nicht einer dieser Männer schon früher in diesem Betrieb gewesen sein könnte … Aber den Impuls, über Auschwitz zu schreiben, bekam ich erst später, und zwar durch eine ähnliche Erfahrung. 1959 wurde ich nach Paris geschickt, um über die Eröffnung der Fluglinie Warschau–Paris zu schreiben. Ich sollte berichten, wie man fliegt, welche Passagiere reisen, welche Atmosphäre herrscht. Nach der Landung hatte ich ein paar Stunden frei und lief sofort zur Place de la Concorde. Da gab es viele Touristen, darunter eine deutsche Gruppe. Plötzlich hörte ich eine weibliche Stimme: „Erika, wo bist Du, komm her! Wir fahren weg!“ Erschrocken drehte ich mich um. Das war die Stimme meiner Aufseherin Franz, eine scharfe, hohe Stimme. Natürlich war sie es nicht, aber die Ähnlichkeit der Stimmen war frappierend. Von dieser Aufgewühltheit konnte ich mich nicht mehr befreien. Zuhause erzählte ich meinem Mann davon. „Was hätte ich gemacht, wenn sie es gewesen wäre? Wäre ich zu einem Polizisten gegangen oder auf sie zugegangen, um zu fragen, wie sie sich fühlt?“ Ich kam damit nicht zurecht. Mein Mann sagte: „Schreib darüber.“
Osteuropa: Das Ergebnis war Die Passagierin?
Posmysz: Nicht sofort. Zuerst schrieb ich ein Hörspiel. Das war 1959. Es hieß „Die Passagierin aus Kabine 45“. Das war mein Debüt. Das Polnische Fernsehen interessierte sich für den Stoff und schlug dem Regisseur Andrzej Munk vor, daraus ein Fernsehspiel zu machen. Es wurde 1960 gesendet und fand ein sehr positives Echo. Andrzej Munk wollte dann einen Film drehen, und ich sollte das Drehbuch dazu verfassen. Da ich darin aber keine Erfahrung hatte, schlug er mir vor, zunächst eine Erzählung zu schreiben. Das tat ich. Dann nahmen wir gemeinsam das Drehbuch in Angriff, und zu meiner großen Verwunderung wurde es zur Produktion angemeldet. Munk fing an, Fotos zu machen, zuerst auf einem Schiff, für den aktuellen Teil der Erzählung. Später kamen die Szenen aus dem Lager dazu. Sowohl im Hörspiel als auch im Fernsehspiel gibt es nur die aktuelle Handlung zwischen Lisa und Walter. Munk wollte, dass ich die Erinnerungen ausbaue, die Rückblende ins Lager. Das machte ich. Auf einem gecharterten Schiff begannen die Dreharbeiten. Munk fuhr nach Auschwitz, um die Lagerszenen zu drehen. Leider konnte er den Film nicht beenden, denn ein Autounfall riss ihn aus dem Leben. Die Arbeit am Film wurde unterbrochen, niemand bemühte sich darum, ihn fertig zu drehen. Deshalb brachte ich die Erzählung in einen Verlag. Der nahm sie sofort an, und Die Passagierin erschien 1962.
Osteuropa: Es fällt auf, dass Ihre Erzählung nicht den Prinzipien des Sozialistischen Realismus entspricht. Es fehlt der marxistische Einschlag, der für Literatur aus den sozialistischen Staaten damals so charakteristisch war, vor allem wenn es um Sujets wie den Kampf gegen den Faschismus oder um NS-Konzentrationslager geht: Es fehlt die absolute Freund-Feind-Konturierung, der Kampf zwischen Gut und Böse, in dem das Gute siegt. Auch den kommunistischen Helden gibt es nicht. Aber Sie schrieben Ihre Erzählung in der Volksrepublik Polen. Das war ein sozialistischer Staat, der Literatur und Kultur ideologischen Vorgaben unterwarf. Wurde Ihr Manuskript nicht zensiert?
Posmysz: Nein. Vergessen Sie nicht, es war die Tauwetterperiode, auch bei uns in Polen! Vorher wäre es unmöglich gewesen, ein solches Manuskript zu drucken.
Osteuropa: Aber selbst während des Tauwetters gab es Zensur. Nur die Kriterien waren liberaler. Mussten Sie Ihr Manuskript nicht an Vorgaben anpassen? Posmysz: Widerspruch gab es gegen das Drehbuch. Munk und mir wurde vorgeworfen, die SS-Aufseherin sei zu positiv dargestellt. Ich verteidigte mich: „Sie erzählt von sich selbst. Das bin ich nicht, die von ihr erzählt. Sie entschuldigt sich vor ihrem Mann. Sie hat das Recht, so zu sprechen.“ Und Munk übernahm die Verantwortung. Das war das entscheidende Argument. Osteuropa: Gab es auch keine ideologischen Probleme in der DDR, wo 1969 die deutsche Übersetzung erschien?
Posmysz: Da wurde das Buch um ein Nachwort ergänzt. Dessen Verfasserin erhob viele Vorwürfe: dass meine Erzählhaltung falsch sei, die Aufseherin zu positiv gezeichnet werde, dass in meiner Erzählung nicht klar gesagt werde, dass „der deutsche Imperialismus“ und „Klasseninteressen“ für Auschwitz und den Krieg verantwortlich seien, dass ich eine Aufseherin darstellen würde, die „so etwas wie ein Gewissen“ hat. Die Autorin ließ keinen Zweifel: Sie hatte „den richtigen Klassenstandpunkt“, der mir und meinem Buch fehlte.
Osteuropa: Aber das war nicht die erste Übersetzung.
Posmysz: Nein, die erste Übersetzung erschien in der Sowjetunion. In der Spätphase der Tauwetterperiode erschien die russische Fassung Passažirka in der Zeitschrift Inostrannaja Literatura. Dmitrij Šostakovič las die Erzählung und empfahl Weinberg, aus dem Stoff eine Oper zu machen. Das Libretto verfasste der Musikwissenschaftler Aleksandr Medvedev.
Osteuropa: Wirkten Sie an dem Libretto mit?
Posmysz: Nein. Medvedev kam damals nach Warschau, wollte mehr über mein Schicksal wissen. Wir reisten zusammen nach Auschwitz.
Osteuropa: Hatten Sie denn wenigstens ein Mitspracherecht, was die Veränderungen angeht, die wohl aus dramaturgischen Gründen im Libretto erfolgt sind? Der Häftling Tadeusz ist plötzlich ein Musiker.
Posmysz: Ich hatte nichts zu sagen.
Osteuropa: Sie hatten nichts zu sagen? Posmysz: Als Medvedev mir das Libretto zeigte, gab es im zweiten Akt eine Szene, die ich in Frage stellte. Ein Kreis von Häftlingen – eine Französin, eine Polin, eine Jüdin, eine Russin, eine Jugoslawin – bekam ideologische Aussagen in den Mund gelegt. Das war fast Agit-Prop. So etwas gab es in meinem Buch nicht. Aber mirwurde gesagt, das müsse so sein, damit die Oper aufgeführt werden könne. Trotzdem wurde sie nie aufgeführt.
Osteuropa: Haben Sie eine These, weshalb sie nicht aufgeführt wurde?
Posmysz: Aus heutiger Sicht ist es klarer. Während des Tauwetters unter Chruščev war es in der Sowjetunion noch denkbar, Die Passagierin zu übersetzen und zu drucken. Als Weinberg die Oper fertig hatte, hatte sich das politische Klima verändert. An die Stelle von Chruščev war Brežnev getreten, in Kultur und Politik zog strenger Frost ein: Die Zensur wurde verschärft. Die Oper entsprach nicht mehr dem Geist der Zeit. Vergessen Sie nicht, es war 1968 – das Jahr der Niederschlagung des Prager Frühlings. Damit wurden alle Hoffnungen auf Liberalisierung zerstört, der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wurde unter Panzern begraben.
Osteuropa: Haben Sie Weinberg kennengelernt?
Posmysz: Ja, ich war zwei-, dreimal in Moskau. Er war sehr verschlossen, sehr höflich und zurückhaltend. Leider ergab sich nie die Gelegenheit, mit ihm alleine Polnisch zu sprechen, weil ständig irgendwelche Gäste da waren. Damals wusste ich noch nicht, dass seine ganze Familie im Holocaust umgebracht worden war. Hätte ich es gewusst, hätte ich ihn vielleicht darauf angesprochen. Aber ich weiß nicht, ob ich damals den Mut gehabt hätte. Und ich weiß auch nicht, ob ich damals in der Lage gewesen wäre, zu sagen, was war, was ich an der Rampe sah, die ich von meinem Block aus immer sehen konnte.
Osteuropa: In Deutschland ist Auschwitz zur Metapher für die Vernichtung der europäischen Juden geworden. In Ihrer Erzählung kommen Juden gar nicht vor. Es gibt nur eine kurze Andeutung darauf, als ein jüdisches Baby ins Frauenlager geschmuggelt wird. Dagegen sind Ihre beiden Protagonisten im Lager idealtypische Polen: Tadeusz und Marta.
Posmysz: Die Erzählung speist sich aus meiner höchst individuellen Erfahrung. Natürlich war das Schicksal der Juden in Auschwitz viel, viel schlimmer als unser Schicksal. Sie waren nur verurteilt, weil sie Juden waren. In meinem Kommando war eine Jüdin, Emma. Ich habe über sie geschrieben, aber in einer anderen Erzählung. In der „Passagierin“ gibt es die Personen, die mir im Lager am nächsten standen. Mit Marta und Tadeusz war ich sehr eng verbunden. Das war meine Erfahrung. Als ich das Manuskript verfasste, ging es mir nicht darum, in der Erzählung Allgemeines zur Existenz des Menschen im Lager zu entwickeln. Wenn wir von Auschwitz sprechen, sollten wir darauf verzichten, Leidenserfahrungen gegenüberzustellen. Auschwitz war eine schreckliche Erfahrung der Menschheit. Ich stelle nicht in Abrede, dass die Juden am stärksten betroffen waren. Aber auch Angehö- rige anderer Völker wurden ins Gas geschickt. Denken Sie an die Roma. Ich schreibe nicht aus einer nationalen Erzählperspektive, sondern aus einer sehr persönlichen.
Osteuropa: Ihr Buch war ideologisch nicht kontaminiert. Trotzdem erschien es nie in der Bundesrepublik. Warum?
Posmysz: Ich weiß es nicht. Vielleicht ist meine Erzählung literarisch nicht gut genug. Erinnern Sie sich an die Erzählungen von Tadeusz Borowski: U nas w Auschwitzu (Bei uns in Auschwitz) oder PoŜegnanie z Marią (Abschied von Maria). Borowski schrieb sie kurz nach dem Krieg. Sie stießen weltweit auf Aufmerksamkeit. Borowskis Erzählungen sind ein Meisterwerk. Vielleicht war es das, was Literatur über Auschwitz erzählen soll. Sie zeigte die Zerstörung des Menschen in der Welt des Lagers. Bei Borowski gibt es keine Hoffnung mehr. Das Lager ist hoffnungslos, es erniedrigt und zerstört den Menschen komplett. Aber es gab Hoffnung. Es gab Menschliches im Lager. Es gab Menschen, die anderen halfen, gar sich aufopferten. Man musste Glück haben, um das Gute zu treffen, und man musste es bemerken wollen. Ich wollte zeigen, dass es einen Funken von Menschlichkeit auch auf der Seite des Bösen geben kann.
Osteuropa: Ist Mieczysław Weinberg in Polen bekannt?
Posmysz: Lange war er unbekannt. Nur eine Handvoll Experten kannte seinen Namen. In Kattowitz hat sich der Dirigent Gabriel Chmura um die Verbreitung von Weinbergs Werk verdient gemacht. Er hat die Symphonien aufgeführt und aufgenommen. Aber der Öffentlichkeit ist Weinberg kein Begriff.
Osteuropa: Polen hat also die Entdeckung eines verlorenen Sohnes noch vor sich.
Posmysz: So ist es.
Osteuropa: Und die Polen können sich auf dem Umweg über Weinbergs Oper auch wieder mit Ihrem Buch beschäftigen. Ist Die Passagierin noch lieferbar?
Posmysz: Nein. Das Buch ist vergriffen.1 Aber mich freut das neue Interesse an der Passagierin. Mehr als das. Ich bin höchst zufrieden damit, dass nun endlich Weinbergs Oper aufgeführt wird. Ich verstehe wenig von moderner Musik, aber ich verlasse mich auf Šostakovičs Urteil über diese Oper. Er hat sich für die Musik begeistert. Jetzt können wir von der Passagierin Weinbergs reden. Wenn die Oper die Anerkennung findet, die sie verdient, werde ich sehr glücklich sein. Und dass mein Werk eine Quelle der Inspiration für ihn werden konnte, verdanke ich Gott.
Osteuropa: Sie glauben trotz Auschwitz?
Posmysz: Ich glaube seither stärker als vorher.
Osteuropa: Wie viele Auschwitz-Überlebende aus Ihrem Bekanntenkreis leben noch?
Posmysz: Das hängt davon ab, in welchem Jahr sie nach Auschwitz kamen. Von meinem Transport im Mai 1942 lebt, glaube ich, noch eine Frau. Wir sind also zwei. Von denen, die 1944 nach dem Warschauer Aufstand als Kinder nach Auschwitz kamen, leben noch einige Dutzend. Ein paar von ihnen treffe ich manchmal. Wir sind die Letzten.
Das Gespräch führten Manfred Sapper und Katarzyna Wróbel
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