Titelbild Osteuropa 9/2010

Aus Osteuropa 9/2010

Editorial
Russland in Flammen

Volker Weichsel, Manfred Sapper


Abstract in English

(Osteuropa 9/2010, S. 3–4)

Volltext

Die Bilanz ist verheerend. Im Sommer 2010 brannten in Russland mehrere Millionen Hektar Wald. Betroffen waren über 60 Nationalparks und Biosphärenreservate. Fast 150 Dörfer und Siedlungen fielen den Feuern zum Opfer, 60 Menschen kamen in den Flammen um. Moskau litt unter dichtem Smog, weil rund um die Millionenstadt der Torf trockengelegter Moore brannte. Die Auswirkungen des giftigen Rauchs auf die Gesundheit der Moskauer sind ebenso unklar wie die Frage, ob die Aufwirbelung von Radionukliden, die nach dem Reaktorunglück von 1986 in Tschernobyl über große Waldflächen im Westen Russlands niedergegangen waren, eine Gefahr für die Menschen in den Gebieten Brjansk und Orel bedeutet.
Klarer sind die Ursachen. Ungewöhnliche Trockenheit und Hitze hatten in weiten Teilen Russlands die Waldbrandgefahr bereits im Frühsommer stark erhöht. Ausgelöst wurden die Brände meist durch Fahrlässigkeit. Katastrophale Ausmaße konnten die Brände jedoch nur annehmen, weil die Brandbekämpfung versagte. Wären sie ein einmaliges Ereignis gewesen, könnten die Behörden auf die extremen klimatischen Bedingungen hinweisen, um ihre Verantwortung zu schmälern. Dass es jedoch um ein strukturelles Problem geht, macht der Beitrag von Ivan Blokov auf den folgenden Seiten deutlich. Es handelt sich um einen Vortrag, den der Programmleiter von Greenpeace Russland bereits im Mai 2010 hielt. Blokov nimmt alles vorweg, was im Sommer der großen Brände geschah.
Wie schon in den vergangenen Jahren waren die Behörden 2010 nicht einmal in der Lage, die Brände adäquat zu erfassen. Nach Angaben des Katastrophenschutzministeriums (Ministerstvo črezvyčajnych situacij, MČS) brannten 1,25 Millionen Hektar Wald, nach Angaben der Forstbehörde Rosleschoz 1,5 Millionen Hektar – die doppelte Fläche Berlins. Die Auswertung von Satellitenbildern ergab hingegen, dass fast sechs Millionen Hektar betroffen waren. Auch auf den lamentablen Zustand der Brandbekämpfung wies Blokov bereits vor dem Sommer 2010 hin: Personeller Aderlass nach der Eingliederung von Rosleschoz sowie der Umweltbehörde Goskomėkologija in das Ministerium für natürliche Ressourcen im Jahr 2000, organisatorisches Chaos nach der Dezentralisierung von Rosleschoz im Jahr 2007 und strukturelle Unterfinanzierung lähmen die Brandschutzbehörden. Betroffen ist vor allem die Luftüberwachung Avialesochrana.
Ob sich nach dem Sommer 2010 viel ändern wird, darf bezweifelt werden. Zwar hat Präsident Dmitrij Medvedev die Forstbehörde Rosleschoz wieder aus dem Rohstoffministerium ausgegliedert und direkt der Regierung unterstellt. Doch Regierungschef Vladimir Putin betrieb vor allem Imagepflege und ließ sich als oberster Feuerwehrmann der Nation auf die Fernsehbildschirme bringen. Mit Erfolg: Die Katastrophe hat seinen Umfragewerten nicht geschadet. Seit der Herbstregen die Brände gelöscht hat, ist das Thema aus den Medien verschwunden.