Titelbild Osteuropa 10/2011

Aus Osteuropa 10/2011

Russlands Entwicklungspfad
Vom Imperium zum Nationalstaat

Dmitrij Furman

Volltext als Datei (PDF, 171 kB)


Abstract in English

Abstract

Die Russländische Föderation ist weder eine echte Demokratie noch ein russischer Nationalstaat. Sie ist ein Überbleibsel des russländischen und sowjetischen Imperiums, das mit autoritärer Macht zusammengehalten wird. Auch das Selbstverständnis der Russen ist noch nicht vollständig dem imperialen und sowjetischen Kokon entschlüpft. Es schwankt zwischen imperialem revanchistischem Chauvinismus, russophober Selbsterniedrigung und Angst vor einem Zerfall von Staat und Nation. Das „Ende der russländischen Geschichte“ wird erst dann erreicht sein, wenn ein echter demokratischer russischer Nationalstaat, der auf imperiale Ambitionen im postsowjetischen Raum verzichtet, Teil der supranationalen europäischen Gemeinschaft geworden ist.

(Osteuropa 10/2011, S. 3–20)

Volltext

Der Nationalstaat ist – zumindest in Europa – zu einem Standardmodell geworden. Dieses Modell stand bei der Gründung des Deutschen Reichs und des Königreichs Italien Pate. An ihm orientierten sich auch die Unabhängigkeitsbewegungen vieler Völker Mittel- und Südosteuropas, die zum Zerfall des Osmanischen Reiches und Österreich-Ungarns führten. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ist eine der wichtigsten politischen Ideen der Neuzeit. Sie übt eine so große Anziehungskraft aus, weil nicht bestritten werden kann, dass die Forderung gerecht ist, und weil so offensichtlich ist, dass es einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und anderen demokratischen Prinzipien gibt.

Wie alle großen Ideen zog auch die des Nationalstaats ein immenses Blutvergießen nach sich, denn ihre Umsetzung setzte den Zusammenbruch von Imperien, das Verschwinden von Staaten und die Entstehung neuer Staaten sowie die Verschiebung von Grenzen voraus. Die Frage, ob eine ethnische Gruppe eine Nation ist und wenn ja, welches Gebiet ihr „nationales Territorium“ umfasst, wird keineswegs in wissenschaftlichen Debatten entschieden. Viele Völker haben mit großem Enthusiasmus und Pathos ihr Selbstbestimmungsrecht proklamiert, eben jenes Recht aber sofort vergessen, wenn es um die Ansprüche anderer Völker oder Volksgruppen ging, die auf dem von ihnen reklamierten Territorium lebten.

Das schrecklichste Beispiel lieferte Hitler-Deutschland, das nahtlos vom Anspruch auf das Selbstbestimmungsrecht für die außerhalb des Deutschen Reichs lebenden deutschen Minderheiten zur Versklavung und Vernichtung anderer Völker überging. Als Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit mag Serbien erwähnt werden, das ein Selbstbestimmungsrecht für die Serben in Kroatien und Bosnien forderte, aber eben jenes Recht für die in Serbien lebenden Kosovaren bestritt. Ähnlich Russland: Den tschetschenischen Separatismus unterdrückte Moskau gewaltsam, gleichzeitig jedoch verteidigte es – ebenfalls mit Gewalt – das Selbstbestimmungsrecht der in Georgien lebenden Osseten und Abchasen.

Seit dem Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion ist das Prinzip der Nationalstaatlichkeit praktisch überall in Europa verwirklicht. Es gibt kein großes europäisches Volk mehr, das keine eigene Staatlichkeit besitzen würde. Daher verfügt das Nationalstaatsprinzip in Europa nicht mehr über seine einstige Sprengkraft. Auch die traumatische Erinnerung an die Kriege, die zur Umsetzung dieses Prinzips geführt haben, macht es heute weniger virulent. Schließlich erscheint der Nationalstaat nicht mehr als einzige Lösung, weil die Demokratisierung der europäischen Staaten dazu geführt hat, dass Volksgruppen auch in Nationalstaaten sehr viele Rechte besitzen, die nicht ihre eigenen sind, und die europäische Integration die absolute Souveränität der Nationalstaaten ausgehöhlt hat. Für einen schottischen oder katalanischen Nationalstaat können sich heute weit weniger Schotten und Katalanen begeistern als im 19. Jahrhundert Italiener für die Einigung Italiens oder Bulgaren für die Unabhängigkeit Bulgariens. In den demokratischen Staaten Großbritannien und Spanien verfügen die Schotten und Katalanen über eine reale Autonomie; ein unabhängiges Schottland oder Katalonien würde selbstverständlich in die Europäische Union eintreten und die in Brüssel und Straßburg getroffenen Entscheidungen übernehmen. Der Nationalstaat ist somit in Europa zwar noch Standardmodell. Das Modell, auf das die historische Entwicklung zuläuft, ist jedoch nunmehr die Überwindung des Nationalstaats durch eine supranationale europäische Vereinigung.

Russland hingegen steckt mitten in einer „nachholenden Entwicklung“. Hier geschieht heute das, was in anderen Ländern im 19. oder frühen 20. Jahrhundert stattfand. Russland muss heute das aufbauen, was die meisten europäischen Staaten bereits errichtet haben oder sogar schon wieder umbauen. Der demokratische Nationalstaat ist für Russland immer noch das Ziel der historischen Entwicklung. Die Russländische Föderation ist weder eine echte Demokratie noch ein russischer Nationalstaat. Sie ist ein Überbleibsel des russländischen und sowjetischen Imperiums, das mit autoritärer Macht – Demokratie wird nur simuliert – zusammengehalten wird. Auch das Selbstverständnis der Russen ist noch nicht vollständig dem imperialen und sowjetischen Kokon entschlüpft. In Geburtswehen wälzt es sich hin und her, schwankt zwischen imperialem revanchistischem Chauvinismus, russophober Selbsterniedrigung und Angst vor einem Zerfall von Staat und Nation.

Innere Widersprüche des russischen Nationalismus

Das Russländische Imperium entstand auf der Basis eines ethnisch russischen Kernlands. Durch die Eroberung zahlreicher Länder und Völker wurde es zu einem polyethnischen Staat.[1] Dieser wurde von einer Elite regiert, die sich aus verschiedenen Völkern rekrutierte. Sie wurde nicht durch ethnische Bindung, sondern durch Standes- und Klassenbewusstsein zusammengehalten. Wenn diese Elite dem Staat loyal diente, so weil sie der Dynastie ergeben war und nicht aufgrund eines Gefühls von ethnischer Nähe zu den Russen. Dies spiegelte sich in dem Begriff „Russland“ (Rossija) wider, der zur Zeit Peters des Großen als Bezeichnung für einen Staat entstand, der sich als Imperium begriff. Dieser Begriff, bei dem es sich um eine Latinisierung des Ethnonyms „Rus’“ (vgl. auch russkij „Russe“) handelt, verweist auf die Entstehung des Staates auf ethnischer Grundlage, zugleich aber auch darauf, dass das Imperium eben nicht identisch mit dem ethnisch russischen Kernland ist, sondern viel größer.[2]

Die Ausdehnung des Imperiums und der Rückgang des Anteils der ethnischen Russen führten dazu, dass das Imperium „brüchig“ wurde. Der Verfall beschleunigte sich aufgrund der Modernisierungsprozesse im 19. Jahrhundert, im Zuge derer das nationale Bewusstsein vieler Völker des Imperiums erwachte. In dem Maße, in dem die Menschen in den entstehenden Nationalsprachen alphabetisiert wurden und aus den engen Grenzen ihrer traditionalen kleinen Welt ausbrachen, begannen sie, sich nicht nur als Bewohner einer Region, als Mitglieder eines bestimmten Standes, als Untertanen des Zaren und als Angehörige einer bestimmten Konfession zu verstehen, sondern auch als Mitglieder einer bestimmten Nation. Die politische Idee des Nationalismus verbreitete sich, nach der die ethnische Gemeinschaft, die jetzt als Nation verstanden wurde, in einem eigenen Nationalstaat leben soll.

Auch ein russischer Nationalismus entstand. Das Problem des Nationalstaats stellte sich jedoch aus Sicht der Russen anders dar als aus jener der anderen Völker des Zarenreichs. Daher unterschied sich auch der russische Nationalismus grundlegend von jenem der anderen Völker des Zarenreichs. Das Reich trug den Namen Russländisches – also fast Russisches – Imperium, es war aus dem altrussischen Staat hervorgegangen, die Orthodoxie war Staatsreligion. Die Zaren bekannten sich zur Orthodoxie und identifizierten sich, selbst wenn sie nicht gebürtige Russen waren, mit den Russen. Andererseits waren die Russen in diesem Imperium weniger frei und wohlhabend als andere Völker.[3] Im autokratischen zaristischen Staat hatten sie als ethnische Gemeinschaft keine politische Macht. Den Mangel an Rechten und die relative Armut kompensierten die Russen mit der symbolischen Zugehörigkeit zur Pracht und Macht des Imperiums. Dies beeinträchtigte die Entstehung eines russischen nationalen Selbstverständnisses und führte zu einer spezifischen reaktionären Ausprägung des russischen Nationalismus.

Die russischen Nationalisten empörten sich über den nichtrussischen Charakter der imperialen Elite und darüber, dass die nationalen Minderheiten – etwa die Baltendeutschen oder die Finnen – über mehr Rechte als die Russen verfügten. Sie forderten einen russischen Nationalstaat, der allerdings nicht auf ethnisch russischem Gebiet entstehen sollte, denn ein solches Gebiet wäre viel kleiner gewesen als das bestehende Reich mit seinen zahlreichen nichtrussischen Gebieten. Damals wie heute konnten bzw. können sich die russischen Nationalisten nicht vorstellen, auf Territorien zu verzichten – selbst wenn es sich um Gebiete handelt, die eindeutig eine zu schwere Last für den Staat bedeuten – etwa Polen für das Russländische Imperium oder Tschetschenien für die Russländische Föderation. Daher ist die Idee eines russischen Nationalstaats zumeist mit dem Ruf nach einer Politik verknüpft, die die Russen privilegiert und die Minderheiten unterdrückt, sowie oft auch mit der Forderung, alle „mit russischen Waffen erkämpften“ Territorien zu russifizieren. Aus der Parole „Russland den Russen“ zogen russische Nationalisten mitnichten die Konsequenz „Polen den Polen“ oder gar „Die Ukraine den Ukrainern“. Polen und insbesondere die Ukraine galten ihnen als Teil Russlands und mussten daher ebenfalls den Russen gehören. Der russische Nationalismus setzte sich somit Ziele, die sich gegenseitig ausschließen: einen russischen Nationalstaat zu gründen und das Imperium aufrechtzuerhalten. Das, was der russische Nationalismus verlangte, war eine Utopie, deren Umsetzung Pogrome, die Deportation ganzer Völker und eine Zwangsrussifizierung voraussetzte. So wurde auch der Antisemitismus zu einem konstitutiven Merkmal des russischen Nationalismus.

Alle anderen Nationalismen, die im Russländischen Imperium entstanden, konnten demokratische Werte anstreben. In einem kontinentalen Imperium mit unklaren Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie ist es jedoch nicht möglich, das Zentrum zu demokratisieren, ohne eine Separation der Randgebiete zuzulassen. Die europäischen Imperien konnten sich demokratisieren, in ihren Überseekolonien jedoch weiter autoritär regieren. Auf dem „russischen“ Kontinent führten Liberalisierung und Demokratisierung hingegen zu Desintegration. Aleksandr II. formulierte es äußerst treffend: „Gibt man Russland eine Verfassung, so zerfällt es, dies ist der Grund, dass ich es nicht tue, und nicht, weil ich es bedauern würde, meine Rechte zu verlieren.“[4]

Die Autokratie hielt das Imperium zusammen und der russische Nationalismus klammerte sich bei seinem Versuch, das Imperium aufrechtzuerhalten und zu russifizieren, an die Autokratie und schrieb dieser – in Reaktion auf die antirussischen Befreiungsbewegungen – sogar ein russisches Wesen zu.

Gleichwohl stand die Elite des Zarenreichs dem russischen Nationalismus skeptisch gegenüber. Es handelte sich schließlich trotz allem um eine Ideologie der neuen demokratischen Zeit, die die unhinterfragte traditionale Legitimität der bestehenden Macht untergrub, indem sie dieser eigenständige Forderungen präsentierte und den Vorrang ethnischer Beziehungen vor der Standes- und Klassenzugehörigkeit propagierte. Zudem bewirkte der russische Nationalismus die Reaktion anderer Nationalismen und trug somit zur Desintegration des Imperiums bei, das er eigentlich bewahren wollte.[5] Gleichzeitig versuchte die Autokratie, die immer mehr an Legitimität verlor und von revolutionären Kräften immer heftiger herausgefordert wurde, in den nationalistischen „Schwarzen Hundertschaften“ eine neue Grundlage zu finden.[6]

Die antiliberale und imperiale Ideologie des russischen Nationalismus isolierte ihn sowohl von den anderen nationalen Bewegungen des Zarenreichs als auch von liberalen und demokratischen Strömungen in der russischen Gesellschaft. Für die russischen Revolutionäre, die gegen die Autokratie kämpften, waren alle Nationalbewegungen des Zarenreichs potentielle oder sogar reale Verbündete – außer der russischen. Der russische Nationalismus war als einzige Bewegung, die für das Zarenreich mobil machte, sogar ihr Erzfeind. Mit dem nationalistischen Sojuz russkogo naroda (Bund des russischen Volkes) wurden vor allem Pogrome verbunden. Keine der revolutionären Parteien nannte sich „russisch“, weil dieser Begriff von der Reaktion „okkupiert“ war. Alle revolutionären Parteien nannten sich „russländisch“, ihre nationale Zusammensetzung war genau so bunt wie die der Elite des Zarenreichs. Doch während in der Elite des Staates die Deutschen überrepräsentiert waren, waren es in der revolutionären „Gegenelite“ die Juden.[7] Daher hatte die revolutionäre Bewegung einen äußerst internationalistischen, wenn nicht sogar „russophoben“ Charakter. Im Gegensatz dazu waren die „Schwarzen Hundertschaften“ überzeugte Antisemiten und betrachteten die revolutionäre Bewegung als jüdische Verschwörung.

Während des Bürgerkriegs, der ausbrach, nachdem das von revolutionären und nationalistischen Bewegungen ausgehöhlte und vom Ersten Weltkrieg geschwächte Zarenreich zusammengebrochen war, kämpften die Weißen für das Imperium, für das „einige und unteilbare Russland“. Die Roten hingegen kämpften für die Weltrevolution. Fast alle Völker des Imperiums – außer den Russen – forderten das Selbstbestimmungsrecht der Völker und versuchten eigene demokratische Nationalstaaten zu gründen. Für ein demokratisches, russisches Russland, für ein „Russland der Russen“, das eine „Ukraine der Ukrainer“ und ein „Georgien der Georgier“ akzeptierte, kämpfte praktisch niemand.

Die RSFSR als Rumpfimperium und die russische Sonderrolle in der UdSSR

Den Bürgerkrieg gewannen die Bolschewiki, indem sie den Nationalisten der nichtrussischen Völker des untergegangenen Zarenreichs den Boden entzogen – mit ihrem leidenschaftlichen Internationalismus, ihrem Hass gegen den russischen Chauvinismus und ihrer Bereitschaft, allen Forderungen entgegenzukommen, wenn nur eine Bedingung erfüllt war, die damals als nicht besonders relevant betrachtet werden konnte: die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei. Man könnte formulieren, dass es den Bolschewiki eben deshalb gelang, das Imperium wiedererstehen zu lassen – „verloren“ gingen nur die am weitesten entwickelten westlichen Randgebiete –, weil sie genau dies nicht beabsichtigten. Die Antwort der nichtrussischen Völker und ihrer Nationalisten, die sich vor die Wahl zwischen den Bolschewiki und den Weißen gestellt sahen, war klar: Die Bolschewiki waren wenn nicht das Gute, so auf jeden Fall das kleinere Übel.

Der neue Staat wurde zunächst nicht als Nachfolger des untergegangenen Imperiums verstanden, sondern als das Fundament einer zukünftigen weltweiten sozialistischen Völkergemeinschaft, als ein „Übergangsstaat“, der nur notwendig war, weil die Weltrevolution auf sich warten ließ. Der Name dieses Staates enthielt keinen Hinweis auf eine Kontinuität zum Zarenreich oder auf die Nationalitätenfrage. Er hieß nicht Russländische Union, sondern Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, war also potentiell eine Union aller denkbaren Republiken, sofern sie nur sowjetisch und sozialistisch waren. Eines Tages sollte diese Union weltumspannend sein. Die erste Hymne des neuen Staates war dementsprechend die „Internationale“.

Die Bolschewiki verwirklichten tatsächlich viele Forderungen der Nationalbewegungen diverser Völker des einstigen Imperiums. Sie gründeten nationale Sowjetrepubliken und leisteten Erstaunliches beim Aufbau „sozialistischer Nationen“. Sie schufen Literatursprachen, zeichneten Volksüberlieferungen auf und errichteten nationale Pantheons. Auch eine Art russischer Republik entstand: die Russländische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR). Doch als Resultat der spezifischen Stellung, die die Russen innerhalb des Zarenreichs eingenommen hatten, wies die RSFSR eine Reihe prinzipieller Unterschiede zu den anderen Sowjetrepubliken auf. Sie war nicht die Realisierung eines „nationalen Projekts“, entstand nicht als „nationales Haus“ des russischen Volks. Vielmehr wurde sie nach dem „Restprinzip“ gebildet. Sie umfasste die Territorien, die man den anderen Republiken nicht zuschlagen konnte und aus denen man auch schlecht neue Unionsrepubliken hätte bilden können – sei es, weil die Völker zu klein waren, sei es, weil ihre Gebiete infolge der russischen Kolonisation zu Enklaven in russischem Territorium geworden waren. So wurden für die dort ansässigen Völker „autonome“ Republiken und Gebiete innerhalb der RSFSR errichtet. Die RSFSR war gleichsam ein „Rumpf“ des ehemaligen Imperiums. Einerseits integrierte sie die unterschiedlichsten Völker, deren Kulturen von der russischen Kultur teilweise weit entfernt waren, andererseits war eine ganze Reihe von Regionen mit deutlicher russischer Bevölkerungsmehrheit ausgeschlossen, weil die Sowjetmacht sie aus verschiedenen Gründen anderen Republiken angegliedert hatte. Der Name der Republik, auf russisch Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika, verwies mit dem Adjektiv rossijskij „russländisch“ auf eine Kontinuität mit dem zaristischen Imperium, enthielt hingegen keinen Hinweis auf ihre ethnische Basis. Die „Föderation“ durfte auf keinen Fall als „russisch“ deklariert werden. So besaßen die Russen in der UdSSR die „am wenigsten nationale“ Republik. Zudem entbehrte die RSFSR einer Reihe von nationalstaatlichen Attributen, über die die anderen Republiken verfügten. So hatten die anderen Unionsrepubliken ihre eigenen Kommunistischen Parteien mit ihren jeweiligen Zentralkomitees, während es keine russländische KP gab; alle Republiken hatten eine eigene Akademie der Wissenschaften und eigene Künstlerverbände – mit Ausnahme der RSFSR.

In den 1920er und selbst in den 1930er Jahren wurde jede Form von russischem Nationalismus als „imperialistischem Chauvinismus“ gegeißelt und schärfer verfolgt als die Nationalismen anderer Völker. Die energisch betriebene Modernisierung der ehemaligen Randgebiete des Imperiums setzte einen Ressourcentransfer aus dem russischen Zentrum voraus; die Vorzugsbehandlung, die Vertreter der ehemaligen „unterjochten Nationen“ bei der Aufnahme an Hochschulen erfuhren, implizierte eine Diskriminierung der Russen. Nimmt man all dies zusammen, so ergibt sich jenes Bild einer „Ausbeutung der Russen“ in der UdSSR, das der russische Nationalismus in der Spätphase der Sowjetunion zeichnete. Dieses Bild ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite sind die „Kompensationen“, die die Russen im sowjetischen Staat erhielten und deren psychische Bedeutung so groß war, dass die Mehrzahl der Russen bis heute der Sowjetunion nostalgisch verbunden sind.[8] Bei einer Internetumfrage über die größten Personen der russischen Geschichte wäre Stalin auf dem ersten Platz gelandet, hätte der Kreml nicht noch rasch den Abstimmungsmodus geändert.[9] Kurzum: Was aus dem einen Blickwinkel wie ein Beweis für die Diskriminierung und Ausbeutung der Russen aussieht, erscheint aus einem anderen Blickwinkel als besondere, „imperiale“ Rolle des russischen Volkes.

Die Sowjetunion als Neuauflage des Russländischen Imperiums

Ihren neuen Staat konzipierten die Bolschewiki als Föderation gleichberechtigter Republiken. Doch eine Föderation, in der ein riesiges Russland und winziges Armenien sich auf gleicher Augenhöhe begegnen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und so gab es sie faktisch nie. Sie bestand allein in der Verfassung und als ideologisches Dogma. In der Wirklichkeit war der totalitäre sowjetische Staat noch unitaristischer als das Russländische Imperium.

Ein zentralisierter Staat auf dem Territorium des ehemaligen Russländischen Imperiums, in welchem als offizielle Sprache und als Sprache der „interethnischen Kommunikation“ nur das Russische in Frage kam und die Russen das zahlenmäßig größte Volk waren, konnte nur eine Neuauflage des Imperiums werden. In dem Maße, in dem die Hoffnung auf die Weltrevolution schwand und die marxistisch-leninistische Eschatologie in den Hintergrund rückte, wurde der Staat tatsächlich auch nicht mehr als Keim einer weltweiten Völkerunion begriffen, sondern als Nachfolger des Russländischen Imperiums, als neue Materialisierung jenes Staates, der aus den Siegen jener ruhmreichen russischen Heerführer hervorgegangen war, deren Namen die neuen Militärorden schmückten.

War der Gründer des sowjetischen Staates, Lenin, ein überzeugter Feind des russischen Nationalismus und „Russophober“ gewesen, so sah sich sein Nachfolger Stalin nicht nur als Erbe Lenins, sondern auch in einer Reihe mit den großen Despoten, die das Imperium errichtet hatten: Ivan Groznyj und Peter der Große. In der Hymne der Sowjetunion, die am 1. Januar 1944 die „Internationale“ ablöste, heißt es: „Die unverbrüchliche Union der freien Republiken vereinte auf ewig die Große Rus’“ – wobei sich seinerzeit niemand an dem Widerspruch störte, dass die Republiken gleichzeitig frei und für die Ewigkeit verbunden sein sollen. Im sowjetischen Staat erhielten die Russen offiziell den Rang des älteren Bruders der sowjetischen Völker zugesprochen. Obwohl die Existenz nationaler Republiken und die Entwicklung „sozialistischer Nationen“ ebenso unverzichtbare ideologische Dogmen waren wie der Marxismus-Leninismus, wurde in den 1930er Jahren die Politik der Russifizierung wiederbelebt, und die russische Sprache verdrängte die nationalen Sprachen der Republiken. Die „Annäherung“ (sbliženie), ja „Verschmelzung“ (slijanie) der Nationen, die Entstehung eines vereinten sowjetischen Volkes konnte nur auf der Basis der russischen Sprache und Kultur erfolgen.

Nach dem Krieg, als um die UdSSR ein Kreis kommunistischer Vasallenstaaten entstand, kontrollierte Moskau ein so großes Territorium, wie es nie zuvor von einem Zentrum aus verwaltet worden war. Außerhalb der galt dieses grandiose Imperium als „Imperium der Russen“. Dies war eine ernsthafte Entschädigung für die unbefriedigende Stellung Russlands innerhalb der UdSSR und für die allgemeine Rechtlosigkeit im totalitären Staat. Eine russische Republik konnte es nicht geben, denn die UdSSR war ja an sich schon ein russischer Staat. Die anderen Völker hatten ihre eigenen nationalen „Häuser“ und ihren Republikspatriotismus. Für die Russen hingegen war ihr Haus die ganze UdSSR, ihr Patriotismus war sowjetisch und nicht russländisch. Russland hatte deswegen kein eigenes ZK und keine Akademie der Wissenschaften, weil das ZK und die Akademie der Union ohnehin „im Grunde“ russisch, russländisch waren. Flossen Gelder aus Russland in die nationalen Republiken ab und wurden Vertreter der nichtrussischen Völker bei der Aufnahme an Moskauer Hochschulen bevorzugt, so geschah dies aus dem Grunde, dass die Russen ein „großes“ Volk waren, ein älterer Bruder, dem die übrigen Völker unablässig ritualisierte Dankes- und Lobeshymnen sangen. Nicht von ungefähr formulierte Stalin in seinem bekannten Trinkspruch auf dem Empfang anlässlich des Sieges über Hitler-Deutschland:

Ich [. . .] erhebe mein Glas auf die Gesundheit unseres sowjetischen Volkes und vor allem des russischen Volkes. Ich stoße vor allem auf die Gesundheit des russischen Volkes an, weil es die hervorragendste Nation von allen Nationen der Sowjetunion ist [. . .], weil es [. . .] den Titel der führenden Kraft unserer Sowjetunion unter allen Völkern unseres Landes verdient hat.[10]

Das russische nationale Bewusstsein hatte sich im Russländischen Imperium nicht aus dem imperialen Bann gelöst. Die Idee des russischen Nationalstaates entstand in der verzerrten Form einer Forderung nach einer Russifizierung des Imperiums. In der UdSSR geriet das russische Eigenbewusstsein erneut in einen imperialen – nun sowjetischen – Bann. Die Russen blieben ein Volk mit unbestimmtem nationalen Bewusstsein und konnten sich kaum vorstellen, in einem eigenen nationalen „Haus“ zu leben anstatt in einem gewaltigen Vielvölkerstaat, in dem sie das führende Volk sind.

Der russische Nationalismus als sowjetisch-imperiale Ideologie

Die Gründung der UdSSR verzögerte den Zerfall des Imperiums. Der imperiale Staat erstand in neuer Form und auf neuer ideeller Grundlage wieder. Doch die Kräfte, die das Vorgängerreich zerstört hatten, wirkten fort. Das Russländische Imperium hatte von der traditionalen Treue zur Monarchie gelebt, die durch die gesellschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert in ihren Grundfesten erschüttert wurde; die UdSSR klammerte sich an die Ideologie des Marxismus-Leninismus, doch diese verwandelte sich in eine Ansammlung sinnloser Formeln, die nach und nach von westlichem demokratischen Gedankengut sowie nationalistischen Ideologien verdrängt wurden. Das zaristische Imperium wurde Opfer einer natürlichen Nationsbildung; die UdSSR ging aufgrund sehr ähnlicher Prozesse unter, die – was für die Bolschewiki noch nicht absehbar gewesen war – durch die „sozialistische Nationsbildung“ beschleunigt worden waren. Als das Russländische Imperium unterging, hatten die meisten seiner Völker weder ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein noch klar abgegrenzte nationale Territorien, noch eine Elite, die sich als Führungsriege neuer Nationalstaaten geeignet hätten. Dies erklärt zu großen Teilen die Leichtigkeit, mit der diese Völker und ihre Nationalisten sich in die Hände der Bolschewiki begaben. Im Gegensatz dazu reiften in der UdSSR mehr oder weniger lebensfähige Nationen heran, die alle nationalen Attribute besaßen, nicht zuletzt eine eigene intellektuelle und bürokratische Elite sowie eine Vorform nationaler Staatlichkeit, die sich zu gegebener Zeit recht problemlos mit politischem Inhalt füllen ließ. Auch deshalb fiel die Sowjetunion später relativ leicht, ohne Blutvergießen und unumkehrbar auseinander.

In der Sowjetunion spielte der russische Nationalismus wie schon im Russländischen Imperium eine prinzipiell andere Rolle als andere Nationalismen. Im Angesicht des Niedergangs der kommunistischen Ideologie nutzte die sowjetische Staatsmacht den russischen Nationalismus – der durchgehend mit Antisemitismus einherging – anfangs als Element einer in ihrer Widersprüchlichkeit abenteuerlichen ideell-symbolischen Synthese der stalinistischen Ära, bevor er sich nach und nach zu einer autonomen ideellen Kraft entwickelte.[11] Wie zu zaristischer Zeit war er jedoch weder zu echter Eigenständigkeit noch zu einem Bündnis mit anderen antiimperialen Kräften in der Lage. Die Gründe waren dieselben: Der russische Nationalismus war nicht imstande, sich vom Imperium bzw. der UdSSR loszusagen und wurde dadurch in eine schizophrene politische Position gezwungen. Die Ideologie des russischen Nationalismus war antimarxistisch, aber da die Partei mit ihrer offiziellen marxistisch-leninistischen Ideologie die Kraft war, die den Zusammenhalt des Imperiums garantierte, blieb dem russischen Nationalismus nichts anderes übrig, als der Partei und ihrer Ideologie treu zu bleiben. Erneut strebte er nach etwas Unmöglichem: der Verwandlung der multinationalen UdSSR, die durch die kommunistische Idee zusammengehalten wurde, in einen nationalen Staat des russischen Volkes. Es gab zwar Versuche, einen russischen Nationalismus zu formulieren, der nicht sowjetisch-imperiale ist – zu nennen ist vor allem Aleksandr Solženicyn. Sie fanden jedoch kein Gehör.

Auf einer neuen Windung der Spirale – ob einer höheren oder niedrigeren, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab – wiederholte sich somit die Geschichte. Das sowjetische Regime begegnete dem russischen Nationalismus mit derselben Vorsicht wie das zaristische – und versuchte angesichts der Auflösung der staatstragenden Ideologie ebenso, sich seiner zu bedienen. Erneut sah sich der russische Nationalismus isoliert. Für alle demokratisch gesinnten Bürger war er ein Schreckgespenst, ein reaktionärer Kettenhund. Der Antiliberalismus und die antidemokratische Ausrichtung des russischen Nationalismus machten den russischen Liberalismus und das demokratische Denken aufs Neue „antinational“. Russophiles antidemokratisches Denken erzeugte erneut russophobes demokratisches Denken.

Als Gorbačevs Perestrojka in den Zerfall der Sowjetunion und eine antikommunistische Revolution mündete, nahmen die nationalen Befreiungsbewegungen aller sowjetischen Völker einen demokratischen Charakter an. Antikommunismus, demokratisches Denken und Nationalismus fielen für sie zusammen. Bei den Russen war es anders: Die Demokraten konnten sich im Kampf mit dem Unionszentrum demagogisch die Argumentation der Nationalisten zunutze machen, die Russen würden ausgebeutet. So sagte Boris El’cin bei einem öffentlichen Auftritt in Ufa im August 1990:

Russland ernährt alle, Russland hat stets Opfer gebracht. Russland hat immer abgegeben. [. . .] Wir können es nicht zulassen, dass wir für die Kosten anderer Staaten aufkommen und die Hilfe dorthin und an die anderen Republiken leiten. [12]

Die Nationalisten hatten der Forderung nach einem souveränen Russland nichts entgegenzusetzen und folgten orientierungslos den Demokraten, die sich an die Zerstörung des Imperiums machten, das die Nationalisten eigentlich bewahren wollten. Die neuen demokratischen Revolutionäre hingegen machten sich die nationalistischen Instinkte lediglich zunutze, fürchteten sie aber eigentlich selbst. Eine Synthese, eine organische Einheit von demokratischer und nationaler Idee hatte in der russischen antikommunistischen Bewegung keinen Platz.

Die Auflösung der UdSSR und die Verwandlung Russlands in einen selbstständigen Staat war für die Demokraten mit Boris El’cin an der Spitze der einzige Weg zu realer Macht. Für die anderen Völker und ihre Führer war die Unabhängigkeit bewusstes und ideales Ziel, „die Verwirklichung jahrhundertelangen Sehnens“. Die Russen hatten dieses Ziel nicht, und ihre Führer betrachteten das Abkommen von Belovež vom 8. Dezember 1991 über die Auflösung der Sowjetunion lediglich als finalen Schachzug im Kampf um die Macht. Das russische Volk kämpfte nicht für die „Unabhängigkeit“ und wollte sie nicht. In dem wenige Monate zuvor, im März 1991, von Gorbačev abgehaltenen Referendum hatte das russische Volk mit überwältigender Mehrheit dafür gestimmt, die Sowjetunion zu erhalten. So wagte es El’cin später nicht, das Belovežer Abkommen in einem neuen Volksentscheid bestätigen zu lassen. Der Versuch, den Tag, an dem Russland seine Souveränität erlangt hatte, zum Feiertag der „Unabhängigkeit“ zu machen, rief nur Spott und Verwunderung hervor. Das Volk begriff zunächst sogar nicht einmal richtig, dass der (imperiale) Unionsstaat tatsächlich nicht mehr existierte.

Nicht einmal die russländische Staatsführung mit El’cin an der Spitze war sich im Klaren, was sie getan hatte. Die Idee des älteren Bruders, einer natürlichen Führerschaft der Russen im Raum des Imperiums war so fest etabliert, dass die Dominanz Russlands als etwas Selbstverständliches empfunden wurde, das unabhängig von einer Veränderung der Staatsform war. Das Verhältnis der russländischen Macht zu den anderen sowjetischen Nachfolgestaaten ließ sich auf die Formel bringen: „Die werden uns schon nicht davonlaufen.“

Russlands Legitimitätsproblem

Den Bürgern Russlands fällt es schwer, die Unabhängigkeit des Landes als etwas Legitimes und Natürliches wahrzunehmen. Das Legitimitätsproblem stellt sich in stärkerem Maße als in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die Russen können ihren neuen Staat nicht als ein „nationales Haus“ und seine Grenzen nicht als historisch und naturgegeben wahrnehmen, da Gebiete, in den überwiegend Russen siedeln, seit 1991 fremdes Staatsgebiet sind. Darunter sind Orte wie Sevastopol’, die für das russische Nationalbewusstsein eine immense historische Bedeutung haben.[13] Gleichzeitig umfasst die Russländische Föderation Gebiete von Völkern mit einer völlig anderen Kultur, die zu Zeiten der UdSSR autonome Republiken innerhalb der RSFSR bildeten. Für diese Bevölkerung ist es noch schwieriger, die Legitimität des neuen russländischen Staates und ihre eigene Zugehörigkeit zu diesem Staat zu akzeptieren. Völker wie die Tschetschenen, deren gesamte Geschichte vom Widerstand gegen die russischen Eroberer geprägt ist, haben große Probleme, sich damit abzufinden, dass sie nur deshalb kein Recht auf Unabhängigkeit haben sollen, weil das verfluchte sowjetische Regime und der verhasste Stalin ihnen seinerzeit nicht den Status einer Unionsrepublik, sondern lediglich den einer autonomen Republik zugeteilt hatten.

Unter den Bedingungen einer schwachen Zentralmacht und einer allgemeinen Transformationskrise drohte der russländische Staat, der weder in den Augen des dominanten Volks noch in denen der nationalen Minderheiten über eine starke Legitimität verfügte, bald nach seiner Entstehung zu zerfallen. Autonome Föderationssubjekte erklärten sich für unabhängig. Sogar in den russischen Regionen regte sich Separatismus. Ihm fehlte jegliche nationale Idee, er war lediglich Ausdruck der Legitimitätskrise des neuen Staates Russländische Föderation. Die Idee unabhängiger Staaten – etwa eine Republik Fernost, eine sibirische Republik, eine Ural-Republik – geisterten durch die Debatte. Diese hätten als nicht weniger natürlich und legitim angesehen werden können als Russland selbst mit seinen eigenartigen Grenzen.

Für El’cin und seine Gefolgschaft waren diese Zerfallserscheinungen eine Bedrohung. Zugleich waren sie aber auch ein Mittel zur Erhaltung der eigenen Herrschaft, da diese als alternativlos ausgegeben werden konnte. Die Verwandlung der Sieger von 1991 in autoritäre Herrscher geht sicherlich nicht nur darauf zurück, dass das Mini-Imperium auseinanderzubrechen drohte. Hinzu kam, dass die Gesellschaft kulturell und psychisch nicht auf die Demokratie vorbereitet war. Doch das Schreckgespenst des Zerfalls spielte eine kolossale Rolle bei der Rechtfertigung der autoritären Entwicklung. Der sich abzeichnende Zerfall demonstrierte dem Volk quasi ein weiteres Mal, dass die Gesellschaft ohne eine starke und personifizierte Zentralmacht, ohne einen „Herrn“, im Chaos versinken würde und die Russen ihren eigenen Staat verlieren oder sich gar als Volk spalten könnten. Der Garant für den Zusammenhalt des Russländischen Imperiums war die Autokratie. Den Zusammenhalt der UdSSR hatte die totalitäre Macht gewährleistet. Der Zusammenhalt der Russländischen Föderation, des „Rumpfimperiums“, schien gleichfalls nur durch die starke Macht eines alternativlosen Präsidenten sichergestellt werden zu können. Unschwer lässt sich hier eine Fortsetzung der russländischen Tradition einer personalen Herrschaft von Zaren bzw. Generalsekretären erkennen. Ganz so wie in den großen Vorgängerimperien war auch im russländischen Mini-Imperium der Erhalt der staatlichen Einheit untrennbar mit dem Aufbau einer Machtvertikale verbunden.

Das Selbstbild der Russen im supranationalen Mini-Imperium

In der Phase des Kampfes um die Macht gaben die russländischen Demokraten die Losung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker aus, und Boris El’cin rief die nichtrussischen Nationen auf, sich so viel Souveränität zu nehmen, wie sie vertragen können. Sobald aber die Macht in Russland gewonnen war, geriet das Selbstbestimmungsrecht der Völker sofort wieder in Vergessenheit – nur wenn es um den Separatismus bei Russlands Nachbarn ging, war es nützlich –, und El’cin wuchs schnell in die Rolle des Kämpfers für die Einheit und Unteilbarkeit seines neuen Staates hinein.

Noch schneller, als die Bolschewiki seinerzeit zu der Wahrnehmung gekommen waren, dass der von ihnen errichtete Staat eine Neuverkörperung des alten Imperiums ist, schuf sich das postsowjetische Russland ein solches Selbstbild – ungeachtet aller Proklamationen, dass der neue Staat auf der Basis demokratischer Werte aufgebaut werde. El’cins Staatsmacht schlug den sichersten und bequemsten Weg ein, den Weg, der dem russischen kollektiven Bewusstsein psychologisch am leichtesten zu vermitteln war: den Weg der Beibehaltung oder sogar Erweiterung des ihr zuteil gewordenen Mini-Imperiums. Dies jedoch erforderte eine Restauration jener ethnischen „Ambiguität“, die sowohl dem Zarenreich als auch der Sowjetunion eigen gewesen war.

Das neue Russland ist bedeutend „russischer“, als es die UdSSR war. Anders als in der Sowjetunion stellen die Russen im heutigen Russland die absolute Mehrheit. Im Jahr 2002 waren es 79,8 Prozent, der Anteil geht jedoch kontinuierlich zurück. Gleichzeitig vermeidet die neue Staatsmacht sorgfältig den Gebrauch der Begriffe „Russen“ oder „russischer Staat“. Stattdessen wird der Ausdruck „Russländer“ (rossijane) propagiert, der nicht mit ethnischer Semantik belastet ist. Das russische Bewusstsein nimmt wieder die gewohnte imperiale Form an, in deren Rahmen der autoritäre und supranationale Staatscharakter dadurch kompensiert wird, dass die Russen das „Hauptvolk“ des Imperiums sind.

1994 begann El’cin einen Krieg gegen das Volk, das sich tatsächlich seine Souveränität zu nehmen und zu behaupten entschlossen hatte: die Tschetschenen. Der erste Tschetschenienkrieg führte jedoch nicht zur „Befriedung“ Tschetscheniens und seiner Eingliederung in die russländische Machtvertikale. Obwohl der Krieg überaus unpopulär war und Russlands öffentliche Meinung im Prinzip bereit war, sich mit dem Verlust von Tschetschenien abzufinden, wurde die faktische Niederlage der russländischen Armee, die ihr von den Truppen eines so kleinen Volkes – auf 100 Russen kommt ein Tschetschene – beigebracht wurde, als nationale Erniedrigung empfunden. El’cins Nachfolger Vladimir Putin begann den Krieg erneut, weil dieser es erlaubte, die Gesellschaft zu konsolidieren. Putin gelang es, den tschetschenischen Widerstand zu brechen und Tschetschenien Russland formal wieder einzugliedern. Faktisch jedoch entstand dort ein autoritärer Vasallenstaat.

Putin erklärte es zu seiner wichtigsten Aufgabe, die Einheit und Integrität Russlands zu bewahren. In einem Interview erklärte er:

Der Kaukasus wäre ja komplett weggefallen, das ist klar. [. . .] Dann die Volga aufwärts – Baschkortostan, Tatarstan. Als ich mir die realen Folgen vorstellte, graute es mir. Ich dachte [. . .], wie viele Flüchtlinge können Europa, Amerika aufnehmen? [. . .] Oder aber man wäre gezwungen gewesen, in eine Aufteilung des Landes einzuwilligen.[14]

Diese Vorstellungen hat sich Putin nicht ausgedacht. Es sind Bilder, die in der russländischen Gesellschaft weit verbreitet sind. Doch für den zweiten Präsidenten Russlands wurden sie zum wichtigsten ideologischen Instrument, um sein demokratisch verbrämtes autoritäres Regime zu legitimieren. Indem er seine persönliche Macht stärkte, rettete er angeblich das Land vor dem Zusammenbruch und Europa und die USA vor einem Flüchtlingsstrom.

In dem von El’cin angelegten und von Putin zur „klassischen“ Form ausgebauten politischen System einer imitierten Demokratie kann der Föderalismus nur Fassade sein, ähnlich wie in der UdSSR. Die nationalen Republiken, die ihre Souveränität erklärt hatten, wurden von Putin in ihren Rechten – bzw. ihrer Rechtlosigkeit – mit administrativen Kreisen und Gebieten gleichgestellt und in größere Föderationskreise eingegliedert, die von bevollmächtigten Vertretern des Präsidenten verwaltet werden. Putin liquidierte praktisch den Föderalismus. Er ging dazu über, die Gouverneure zu ernennen, und machte aus dem Föderationsrat eine Versammlung von Vertretern, die von den Gouverneuren und regionalen Versammlungen ernannt werden.

Wie im Zarenreich und in der Sowjetunion wird der Zusammenhalt des Staates auch im postsowjetischen Russland durch eine Machtvertikale und die Unterdrückung spontaner Nationalbewegungen gewährleistet. Doch ähnlich wie in der UdSSR bleibt diese Integration durch die Machtvertikale weitgehend formal. Vollständig kann der Staat auf die Föderationsidee und auf nationale Republiken nicht verzichten und die Möglichkeiten Moskaus, die Eliten der Republiken zu kontrollieren, sind begrenzt. Faktisch verwandelt sich die bürokratische Vertikale allmählich in eine quasifeudale Vertikale. Die Führer der Republiken sind Moskau gegenüber loyal und zollen ihren Tribut, u.a. in dem sie bei Wahlen Stimmen für die Kremlpartei organisieren. Im Gegenzug mischt sich das nach Stabilität strebende Moskau nicht in ihre „inneren Angelegenheiten“ ein. In den Republiken entstehen ähnliche „alternativlose“ politische Systeme wie im Zentrum der Föderation. Diese Systeme sind jedoch die Grundlage für eine zukünftige Abtrennung der nationalen Republiken von Russland. Die Machtvertikale beseitigt nicht das Chaos, sondern verdrängt es nach innen. Noch verbirgt es sich unter einer ruhigen, monolithischen Oberfläche und harrt der Stunde, in der es sich nach außen Bahn brechen wird.

Das „Sammeln postsowjetischer Erde“

Dass die Legitimität der Grenzen der Russländischen Föderation im russländischen Bewusstsein so schwach ist, hängt damit zusammen, dass die alten sowjetischen Grenzen – die im Großen und Ganzen mit den Grenzen des Russländischen Imperiums identisch sind – als natürliche historische Grenzen des „großen Russland“ angesehen werden. Noch 2009 sprachen sich nur 14 Prozent der Bewohner der Russländischen Föderation für eine vollständige Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken aus, und 54 Prozent beantworteten die Frage, ob die Ukraine Ausland sei, mit Nein.[15] Die Russländische Föderation, die sich als Nachfolgerin des zaristischen Russland und der Sowjetunion sieht, kann daher im Grunde gar nicht anders, als nach einer besonderen, dominierenden Rolle im postsowjetischen Raum zu streben. Das „Sammeln der Erde“ innerhalb Russlands und der Kampf für den Anschluss ehemals autonomer Föderationssubjekte an die Machtvertikale gehen mit dem „Sammeln“ von Teilen des postsowjetischen Raums um Russland sowie mit dem Kampf um die Unterordnung der ehemaligen Sowjetrepubliken einher. Es handelt sich um zwei Aspekte einer Politik, die vom Wesen des russländischen Staates diktiert wird: der Politik eines von der autoritären Macht befestigten Mini-Imperiums.

Die „Auflösung“ der UdSSR kaschierte El’cin – nicht nur für das Volk, sondern in hohem Maße auch für sich selbst – durch die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die als neuer imperialer Raum um Russland gedacht war. Die Dominanz in diesem Raum wurde zum wichtigsten Ziel des russländischen Staates. Kaum hatte man mit Mühe die separatistischen Bewegungen im Innern unter Kontrolle gebracht, da begann Russland auch schon, die Separatisten anderer Republiken zu unterstützen, die die für die Seele so dringend gebrauchten Schmeicheleien über Russland ergossen. Russländische „Friedenstruppen“ wurden in den separatistischen Regionen stationiert, um zu verhindern, dass die neuen Staaten den Separatismus mit Gewalt unterdrücken, wie es Russland selbst in Tschetschenien getan hatte. Solche Aktionen haben Russland das Gefühl zurückgegeben, der „ältere Bruder“ zu sein, der die Geschicke der jüngeren lenkt. Den Regierungen der jungen Staaten, auf deren Territorien von Russland geschützte separatistische Enklaven entstanden sind, wird dagegen das Gefühl vermittelt, wenn sie sich „gut benähmen“, werde Russland Mitleid mit ihnen haben und ihnen ihre territoriale Integrität zurückgeben.

Charakteristisch an dem Vorgehen Moskaus ist, dass Russlands zwar einerseits nationale Separatismen in den postsowjetischen Staaten unterstützt, sich andererseits aber überaus vorsichtig gegenüber einer Selbstorganisation der Russen in diesen Staaten verhält. Eine Unterstützung des russischen Irredentismus würde das Wesen des russländischen Staates als multinationalem Mini-Imperium in Frage stellen und eine russländische Dominanz im postsowjetischen Raum ausschließen.

Die dauerhafte Sicherung des russländischen Mini-Imperiums ist wie gesagt untrennbar mit der Etablierung eines autoritären Systems im Zentrum sowie formgleicher Modelle in den ehemals autonomen Entitäten verbunden. Ebenso geht das Bestreben Russlands, den Kreis seiner Vasallen im zur russländischen Interessensphäre erklärten postsowjetischen Raum zu erweitern, mit dem Versuch einher, in den neuen Staaten politische Regime zu etablieren, die jenem Russlands ähneln. Die autoritären Regime der GUS-Staaten schätzen die eigene Unabhängigkeit und streben nicht etwa danach, sich Russland unterzuordnen. Doch die Perspektive einer Integration in die westlichen Bündnisse ist ihnen – wie auch Russland selbst – verschlossen, da ihre Regimes inkompatibel mit westlichen politischen Systemen sind. Außerdem ist ihnen bewusst, dass ihnen der Westen in „schwerer Stunde“ – einer „farbigen Revolution“ wie in Georgien oder der Ukraine, eines Aufstands wie im usbekischen Andischan, oder einer Krise während eines Machtübergangs wie in Kirgisistan – nicht zur Hilfe kommen wird, während Russland es zumindest versuchen wird. Solange sich die autoritären Ein-Mann-Regimes in den postsowjetischen Staaten halten, so lange wird die Dominanz des größten und stärksten Landes mit einem Regime dieses Typs, und sei sie noch so schwach und unvollkommen, Bestand haben: des „großen Bruders“ Russland.

In kleinerem Maßstab und weniger strenger Form reproduziert sich die ringförmige Nachkriegsstruktur des sowjetischen Imperiums. Der Kern des Imperiums ist das „russische Russland“. Den inneren „Ring“ um diesen Kern herum bilden die nationalen Republiken innerhalb der Russländischen Föderation, deren realer Grad an Unabhängigkeit in keiner Weise ihrem formalen, verfassungsmäßigen Status entspricht. Schließlich existiert ein äußerer Ring von postsowjetischen Republiken, die formal unabhängig sind, de facto aber dem um Russland konzentrierten postimperialen Raum zugehören und ihm treu ergeben sind – quasi eine Analogie zum „sozialistischen Lager“, nur in lockererer Form.

Russischer demokratischer Nationalstaat statt Mini-Imperium

Wie eingangs erläutert, war der demokratische Nationalstaat im 19. und 20. Jahrhundert das europäische Standardmodell. Derselbe Staatstyp bleibt auch für Russland das Modell. Das Jahr 1991 war nur ein Meilenstein in der Entwicklung, und das postsowjetische Russland ist lediglich eine Etappe derselben, ebenso wie es die UdSSR war. Das in Russland etablierte System einer imitierten Demokratie entbehrt einer ideologischen Grundlage und weist innere Widersprüche auf. Es ist daher instabil und befindet sich in einem natürlichen Zerfallsprozess. Russland steht unvermeidlich eine Krise bevor. Diese wird bei dem erneuten Versuch eintreten, es in eine echte Demokratie zu transformieren. Solche Krisen treten stets mehr oder weniger unerwartet auf, und sich bis ins Letzte darauf vorzubereiten, ist daher unmöglich. Dennoch lassen sich einige ihrer Merkmale vorhersehen.

Die Erfahrung der beiden bisherigen, erfolglosen Versuche einer Demokratisierung (1917 und 1991) hat gezeigt, dass sobald sich ein neuer Wandel in Richtung Demokratie („dritter Anlauf“) abzeichnet, sogleich der Separatismus der nichtrussischen Völker wieder auf den Plan tritt. Echte demokratische Wahlen in den nationalen Republiken der Russländischen Föderation, bei denen nicht die Forderung nach Unabhängigkeit gestellt würde, sind unvorstellbar. Kommt es in Zukunft zu solchen Wahlen, so werden zugleich mit separatistischen Ideen und Losungen auch die zahlreichen gegenseitigen Ansprüche der einzelnen Nationalitäten wieder auftreten. Aufs Neue werden die extrem komplizierten Probleme zutage treten, die mit der Befreiung der Völker voneinander verbunden sind, welche seinerzeit von der sowjetischen Macht willkürlich in gemeinsamen autonomen Gebieten zusammengeschlossen wurden. Es ist durchaus möglich, dass sich auch in russischen Föderalsubjekten separatistische oder autonomistische Bewegungen bilden werden, die vielleicht schwächer und weniger motiviert wären, aber ebenfalls zur allgemeinen Destabilisierung beitragen würden. Ein solches Chaos, wie es an der Schwelle von den 1980er zu den 1990er Jahren bereits einmal wütete, bevor es von einer autoritären Machtvertikale von der Oberfläche gedrängt wurde, wird erneut ausbrechen. Das Land wird sich erneut mit einer Unmenge schwierigster Probleme konfrontiert sehen, deren Bewältigung theoretisch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde, die in der Praxis jedoch eine schnelle und gleichzeitige Lösung erfordern.

Dies bedeutet, dass wir erneut vor dem bekannten Dilemma stehen werden: Entweder bricht das Mini-Imperium zusammen und Russland wird erneut „herabgemindert“, oder wir verzichten wieder einmal auf Demokratie, der Separatismus wird unterdrückt und eine weitere „Machtvertikale“ errichtet, die ein weiteres Mal das Chaos rein äußerlich eindämmt. Damit in dieser Situation die Gesellschaft dennoch nicht auf die Demokratie verzichtet, damit der „dritte Anlauf“ zu Russlands Demokratisierung erfolgreich ist und nicht zu einem dritten Zyklus von Zusammenbruch, Chaos und Erneuerung des Autoritarismus führt, müssen sich im gesellschaftlichen Bewusstsein grundlegende Änderungen vollziehen. In erster Linie ist es unerlässlich, dass die Gesellschaft begreift, wie riesig und schwierig unsere Probleme sind, aber auch, dass es unumgänglich ist, sie zu lösen. Notwendig ist es auch, die archaische nationalstaatliche Gier, den instinktiven Widerwillen, das „Seine“ wegzugeben, zu überwinden, denn mit der Grundannahme einer „Einheit und Unteilbarkeit“ Russlands werden die zukünftigen Probleme nicht zu lösen sein. Es versteht sich von selbst, dass keiner aus der Föderation ausgestoßen zu werden braucht. Neue, unabhängige Staaten zu bilden, ist keine leichte Aufgabe. Höchstwahrscheinlich würden die nichtrussischen Völker, sollte ihnen tatsächlich Autonomie garantiert werden, die mit der realen Möglichkeit einherginge, aus der Föderation auszutreten, nicht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Doch es ist wichtig, dass die Gesellschaft begreift: Das Festhalten von Tschetschenien und anderen Republiken ist es nicht nur nicht wert, sich erneut die Zwangsjacke der Machtvertikale umhängen zu lassen; wichtiger ist noch, dass die Unabhängigkeit dieser Republiken für das russische Volk kein Verlust, sondern ein Gewinn wäre. Selbstverständlich würde eine neue „Kompression“, eine neue „Verkleinerung“ Russlands als schmerzhaft empfunden. Objektiv gesehen kann eine solche gar nicht anders als sehr schwierig werden, ja unter einer Reihe von Aspekten wäre sie sogar noch schwieriger als der Zerfall der UdSSR. Und dieser Schmerz lässt sich nur durch eines wiedergutmachen: durch die Einsicht, dass der Verlust des Mini-Imperiums das Erlangen eines „normalen“ russischen demokratischen Nationalstaates bedeutet.

Russland muss neu gedacht werden, muss als russischer Nationalstaat begriffen werden. Dieses Umdenken wird mit Sicherheit ein schwieriger Prozess, denn es gilt nicht nur die üblichen imperialen Motive des russischen Nationalismus und des russischen Nationalgefühls an sich zu überwinden, sondern auch die instinktive Russophobie der Liberalen und Demokraten, die Angst vor allem, was an den russischen Nationalismus gemahnt, bis hin zum Ausdruck „russisch“ als solchem. Die Worte „Russland den Russen“ wirken heute wie eine wilde xenophobe Losung. Doch eigentlich konstatieren sie nur eine banale Wahrheit. Russland den Russen – wem denn auch sonst? Russland den Russen, Polen den Polen, die Ukraine den Ukrainern und Tschetschenien den Tschetschenen. Das zu sagen, bedeutet nicht, das Recht der anderen auf ihre eigenen „nationalen Häuser“ zu bestreiten, sondern setzt dieses Recht im Gegenteil voraus.

Ansätze für dieses Umdenken und die Befreiung des russischen Eigenbewusstseins aus dem imperialen Bann sind bereits vorhanden. Man kann sie etwa in den nicht immer klaren Ideen Aleksandr Solženicyns wahrnehmen, der qualvoll nach den nicht­imperialen Grundlagen des russischen Nationalstolzes suchte. Ansätze finden sich auch im wirren und widersprüchlichen Bewusstsein der russischen Nationalisten, die an der Wende zu den 1990er Jahren eine russländische Souveränität unterstützten,[16] sowie in den idealistischen Projekten radikaler Demokraten wie etwa Andrej Sacharovs Entwurf einer neuen sowjetischen „Verfassung“, die das Unabhängigkeitsrecht der autonomen Gebiete, mit anderen Worten die Umwandlung von „Restrussland“ in einen russischen Nationalstaat vorsahen.[17] In der Einmütigkeit der Demokraten und Nationalisten, die sich im Kampf gegen das Unionszentrum zusammenfanden, lag viel Betrug und Selbstbetrug von beiden Seiten, doch nichtsdestoweniger lag darin der Keim einer möglichen künftigen Synthese. Die relative Leichtigkeit, mit der die Russen sich in den Zerfall der UdSSR fügten, zeugt in gewissem Maße auch davon, dass sie des Imperiums müde waren und es sie zu einem eigenen Staat zog. Die Perspektive, Tschetschenien den Tschetschenen zu überlassen, schreckte die Russen damals nicht mehr als heute.[18] Dies alles sind jedoch lediglich die ersten Anzeichen einer Synthese des Russischen und des Demokratischen, die unwahrscheinlich schwer zu erreichen ist, ohne die aber der „dritte Anlauf“, in Russland eine Demokratie zu errichten, ebenso zum Scheitern verurteilt wäre wie die beiden ersten.

„Russland den Russen“ ist die Antithese zu „Die Russen für Russland“, zu einem Staat, in dem die Russen mit ihrer Freiheit, ihrem Wohlstand und ihrem Blut dafür zahlen, dass andere Völker sich Russland unterwerfen – und zwar nicht den Russen als Volk, sondern ihren Führern von russischer Nationalität. „Russland den Russen“, das ist ein demokratisches Russland, ein Staat, welcher ein Instrument ist, das dazu dient, das Gemeinwohl seines Volkes herbeizuführen, also das zu erreichen, was uneingestanden schon immer unser neuzeitliches „Entwicklungsmodell“ war.

Die Russen in Europa, das Ende der russländischen Geschichte

Kommen wir zurück zur Ausgangsthese, dass Russland eine nachholende Entwicklung durchmacht und den europäischen Völkern hinterherhinkt, die sich heute bereits nicht mehr am Modell eines Nationalstaats, sondern an dem einer überstaatlichen, supranationalen Gemeinschaft orientieren. Offenbar ist es nicht möglich, die nationalstaatliche Etappe zu überspringen und sogleich vom Mini-Imperium zu einer supranationalen Vereinigung zu gelangen. Doch ein künftiger russischer Nationalstaat kann nicht von langer Dauer sein. In der jetzigen nachholenden Phase muss Russland die Vektoren seiner historischen Entwicklung neu justieren. Der russische demokratische Nationalstaat kann und muss ein Staat sein, der der supranationalen europäischen Gemeinschaft beitritt. Obwohl die Mehrheit unserer Bevölkerung die Idee eines EU-Beitritts unterstützt,[19] scheint diese Idee gegenwärtig ein reines Phantasieprodukt. Aber auch Ende der 1980er Jahre musste die Prophezeiung, dass die UdSSR in naher Zukunft auseinanderfallen und einige ihrer Republiken wenige Jahre später der EU und der NATO beitreten würden, wie eine realitätsfremde Phantasterei wirken. Der Beitritt zur Europäischen Union wäre eine gewaltige Entschädigung für ein Volk, das zwar nicht imstande ist, europäische Formen politischen Lebens zu entwickeln, sich kulturell aber dennoch an Europa orientiert.[20] Damit würde der russischen Angst vor der Isolation und den russischen Qualen der Identitätsfindung („Sind wir Europäer oder nicht?“) ein Ende gesetzt. Da aber ein EU-Beitritt Russlands unter Ausschluss der Ukraine, von Belarus und Moldova undenkbar ist, würde damit gleichzeitig deren – für die Russen wie für die Völker jener Republiken überaus schmerzvolle – Verwandlung in echtes „Ausland“ umgekehrt.

Dies wäre das Ende der russländischen Geschichte – einer Geschichte der Errichtung, des Zerfalls und des Wiederaufbaus von Imperien, in denen die Russen ihre Rechtlosigkeit damit kompensieren, dass an der Spitze der Macht, die andere Völker unterdrückt, Vertreter ihrer Nation stehen. Es wäre der Beginn einer völlig neuen Geschichte, der Geschichte der Russen, die in einem gesamteuropäischen Haus in ihrer nationalen Wohnung leben, nicht anders als die Franzosen in ihrer französischen, die Schweden in ihrer schwedischen und die Ukrainer in ihrer ukrainischen.

Aus dem Russischen von Antonina Klokova, Berlin


[1]   1718/19 betrug der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung des Imperiums 70,7 Prozent, 1795 48,9 Prozent, 1834 unter 50 Prozent, 1897 44,3 Prozent; Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall. München 21993, hier S. 100f. sowie die Tabellen S. 323f.

[2]   Der Finanzminister Nikolajs I., Egor Kankrin (Georg Graf Cancrin), schlug sogar vor, den Begriff Russland mit seinem Anklang an das Ethnonym ganz zu tilgen und vom Romanov-Reich (Romanovija) oder Peter-Reich (Petrovija) zu sprechen.

[3]   Die durchschnittliche Lebenserwartung der Russen lag mit 28,7 Jahren niedriger als die der Deutschen (45 Jahre), der Letten (45), der Finnen (44,3), der Esten (43,1), der Litauer (41,8), der Polen (41), der Juden (39), der Ukrainer (38,1), der Moldаwier (40,5), der Weißrussen (36,2), der Baschkiren (37,3), der Tataren (34,9) und der Tschuwaschen (31). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren nur 29,3 Prozent der Russen lesekundig, unter den Finnen waren es 98,3 Prozent, unter den Esten 94,1, den Letten 85, den Deutschen 78,5, unter den Juden 50,1, den Litauern 48,4, unter den Polen 41,8 und unter den Griechen 36,7 Prozent; Sergej Sergeev: Nacija v russkoj istorii. Cena imperii, <www.apn.ru/publications/article21603.htm>.

[4]   Boris Mironov: Social’naja istorija Rossii perioda imperii (XVIII – načalo XX v.). Sankt Peterburg 1999. Bd. 2, S. 152.

[5]   Einen der „Väter“ des russischen Nationalismus, Jurij Samarin, der sich gegen die deutsche Übermacht im Baltikum aussprach, ließ Nikolaj I. in Festungshaft nehmen.

[6]   Heinz-Dietrich Löwe: Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel von Gesellschaft und Staat, 1890–1917. Hamburg 1978.

[7]   Von den Revolutionären, die zwischen 1905 und 1917 von der Zarenregierung verhaftet wurden, waren 43,5 Prozent Russen; Mironov, Social’naja istorija [Fn. 4], Bd. 1, S. 43.

[8]   In keiner einzigen Umfrage zwischen 1992 und 2009 lag der Anteil der befragten Russen, die den Zerfall der UdSSR betrauerten, jemals niedriger als 60 Prozent; Obščestvennoe mnenie 2009. Ežegodnik, Levada-centr. Moskva 2009, S. 191.

[9]   In der Abstimmung, veranstaltet vom Fernsehkanal Rossija und zwei Meinungsforschungsinstituten, wurde nach der historischen Figur gefragt, die Russlands Wesen am besten verkörpere. Platz 1 errang Fürst Aleksandr Nevskij, auf Platz 2 landete Petr Stolypin, knapp gefolgt von Iosif Stalin.

[10]  Tekst vystuplenija I.V. Stalina na prieme v Kremle v čest’ komandujuščich rodami vojsk Sovetskoj armii s avtorskoj rukopisnoj pravkoj, 24.5.1945,

    <http://alexanderyakovlev.org/fond/issues-doc/69226>.

[11]  Zu den russischen Nationalisten als Interessenverband vgl. Nikolaj Mitrochin: „Russkaja Partija“. Fragmenty issledovanija, in: Novoe literaturnoe obozrenie, 2/2001, S. 245–297.

[12]  Sojuz možno bylo sochranit’. Belaja kniga. Dokumenty i fakty o politike M.S. Gorbačeva po reformirovaniju i sochraneniju mnogonacional’nogo gosudarstva. Moskva 22007, S. 165.

[13] Zur exemplarischen Bedeutung der Krim siehe Gwendolyn Sasse: The Crimea Question. Identity, Transition, and Conflict. Cambridge, Mass., 2007. – Kerstin Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007. – Charles King: Stadt am Rande. Sevastopol’: Europas nächster Krisenherd, in: Osteuropa, 2–4/2010, S. 319–330.

[14]  Ot pervogo lica. Razgovory s Vladimirom Putinym. Moskva 2000, S. 135–136.

[15]  Obščestvennoe mnenie 2009 [Fn. 8], S. 149, 152.

[16]  Als erster sprach die Idee von Russlands Austritt aus der UdSSR im Mai 1989 auf dem Kongress der Volksdeputierten nicht irgendein Demokrat und Westler aus, sondern ein russischer Nationalist, der Schriftsteller Valentin Rasputin, der die Idee im Rahmen einer Polemik mit baltischen Abgeordneten vortrug; <www.slavic-europe.eu/index.php/comments/17-russia-comments/4255-2009-06-11sssr>. Das war natürlich Demagogie, aber es steckte eben doch mehr dahinter. Zur Rolle des russischen Nationalismus bei der Zerstörung der UdSSR s. Tat’jana Solovej, Valerij Solovej: Nesostojavšejsja revoljucija. Istoričeskie smysly russkogo nacionalizma. Moskva 2009. – Dmitrij Furman: Velikoe russkoe gosudarstvo – ideja-lovuška, in: Svobodnaja mysl’, 1/1992, S. 4–16.

[17] Konstitucija Sojuza Sovetskich Respublik Evropy i Azii, in: A.D. Sacharov: Trevoga i nadežda. Moskva 1991, S. 266. – Leonid Batkin: Konstitucionnye idei Andreja Sacharova. Moskva 1990.

[18]  Auf die Frage „Wie stehen Sie zu der Möglichkeit, dass sich Tschetschenien von Russland loslöst?“ gaben die Befragten 2009 folgende Antworten: Mit „Ich denke, dass die Loslösung Tschetscheniens bereits vollzogen ist“ antworteten zehn Prozent, mit „Ich würde mich über eine solche Entwicklung freuen“ 14 Prozent; „Dies würde mich nicht besonders beeindrucken“, sagten 21 Prozent, „Ich bin gegen eine solche Entwicklung, könnte mich aber damit abfinden“ 19 Prozent, „Das muss man mit allen Mitteln, einschließlich militärischen, zu verhindern suchen“ 22 Prozent. Dabei glaubten 16 Prozent der Befragten, dass sich die Nordkaukasus-Republiken letztendlich von Russland loslösen; 30 Prozent waren der Meinung, dass diese noch über Jahrzehnte eine Quelle für Spannungen in der Region darstellen; Obščestvennoe mnenie 2009 [Fn. 8], S. 115.

[19]  „Für“ und „eher für“ einen EU-Beitritt Russlands sprachen sich 2009 53 Prozent der Befragten aus, „dagegen“ und „eher dagegen“ 21 Prozent; in: Obščestvennoe mnenie 2009 [Fn. 8], S. 179. Die NATO hingegen wird von der russländischen Bevölkerung immer noch als feindliche Macht empfunden.

[20]  Putin, unter dem Russlands politisches Regime vollkommen „nichteuropäische“ Formen angenommen hat, äußerte nichtsdestotrotz einmal in einem Interview (und meinte es, wie es scheint, ehrlich): „Wir sind Teil der westeuropäischen Kultur. Und darin liegt in Wirklichkeit unser Wert. Wo unsere Menschen auch leben – im Fernen Osten oder im Süden, wir alle sind Europäer.“ In: Ot pervogo lica [Fn. 13], S. 156.

Volltext als Datei (PDF, 171 kB)