Titelbild Osteuropa 2-3/2011

Aus Osteuropa 2-3/2011

Grammatik der Arktis

Editorial

(Osteuropa 2-3/2011, S. 7–8)

Volltext

Superlativ und Konjunktiv dominieren die Grammatik der Arktisdebatte. Politik, Wirtschaft und Medien setzen im Wettbewerb um die Ressource Aufmerksamkeit auf die höchste Steigerung. Nördlich des Polarkreises seien – weltweit – die Folgen des Klimawandels am dramatischsten, das Rohstoffpotential am größten, der Handlungsbedarf am dringendsten. Politiker kämpfen so um Legitimität, Konzernmanager um politische Rückendeckung und Journalisten um Auflagen oder Einschaltquoten. Die Kassandrarufe wie die Sirenenklänge erschallen stets im Konjunktiv: Wenn der Klimawandel sich fortsetzt, würde, könnte, sollte, müsste…

Osteuropa wählt den Indikativ. Die Fakten dämpfen sowohl die Euphorie als auch den Alarmismus. Das zeigt sich bereits beim Klima. Annahmen zu dessen Entwicklung liegen allen Arktis-Szenarien zugrunde. Doch Klimaprognosen sind schwierig. Zwar steht fest, dass die Temperaturen in der Arktis in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen sind und die eisfreie Fläche im Arktischen Ozean in den letzten Sommern weitaus größer war als seit Beginn der systematischen Erfassung je beobachtet. Gleichwohl kann die Klimaforschung bis heute nicht bestimmen, ob und in welchem Ausmaß menschengemachter Klimawandel die Ursache ist. Sind vor allem natürliche Schwankungen für den Rückgang des Meereises verantwortlich, so könnte sich der Trend wieder umkehren. Rückkoppelungseffekte könnten ihn allerdings auch verstärken.

Den in der Möglichkeitsform gehaltenen Eskalationsszenarien ist entgegenzuhalten: Das Konfliktpotential in der Arktis ist gering. Von dem vielbeschworenen Kampf um die Rohstoffe ist nichts zu erkennen. Viele Annahmen, auf denen Prophezeiungen vom Typ „Heißer Krieg im Packeis“ beruhen, sind falsch. Die Öl- und Gasvorkommen werden überschätzt, die Kosten der Förderung unterschätzt. Vor allem aber: Die relevanten Vorkommen liegen in küstennahen Gebieten, die nicht umstritten sind. Doch auch die angebliche Konkurrenz zwischen den Arktisstaaten um exklusive Förderrechte in den Tiefseegebieten des Nordpolarmeers ist ein Mythos. Russland, Norwegen, Dänemark, Kanada und die USA haben vielmehr ein gemeinsames Interesse daran, dass die Regeln des Seerechtsübereinkommens so ausgelegt werden, dass jeder von ihnen einen möglichst großen Teil des Meeresboden in der zentralen Arktis dem eigenen Festlandsockel zurechnen kann. Salopp formuliert: Es geht nicht um die Aufteilung des Kuchens, sondern um die Größe des Kuchens.

Wie wenig für eine Konflikteskalation in der Arktis spricht, zeigen die Beziehungen zwischen Russland und Norwegen. Wenn Spannungen auftauchen, dann sollten sie es hier tun: Die 200 Kilometer lange Grenze zwischen den beiden Staaten war die Sollbruchstelle des Ost-West-Konflikts, Norwegen der einzige NATO-Staat, der eine gemeinsame Landgrenze mit der Sowjetunion hatte. Wegen der kurzen See- und Luftverbindungen zwischen den Supermächten war die Arktis Aufmarschgebiet und potentieller Kriegsschauplatz. Doch Konfliktgegenstand war sie nicht. Daher ist die Grenzregion an der Barentssee heute ein Modell, wie die Spaltung Europas überwunden werden kann: Dank Visa-Erleichterungen boomt der kleine Grenzverkehr, Bürger aus grenznahen Orten der Provinz Finmark und des Gebiets Murmansk sollen schon bald gar kein Visum mehr benötigen. Fischereikonflikte lösten Moskau und Oslo schon zu sowjetischen Zeiten durch institutionalisierte Kooperation. Dank der Verhandlungsroutine kamen die beiden Staaten im Jahr 2010 sogar zu einem Abkommen über die lange umstrittene Seegrenze.

Nicht zwischenstaatliche Konflikte, sondern die soziale und ökologische Lage in den Arktisstaaten, insbesondere in Russlands Hohem Norden, sind daher entscheidend für die Zukunft der Arktis. Zahlreiche Gegensätze und widersprüchliche Entwicklungen prägen die nördlichen Regionen Russlands. Manche Gebiete in Russlands Arktis sind nahezu unberührt, auf der Kola-Halbinsel und insbesondere in der Umgebung von Noril’sk auf der Tajmyr-Halbinsel haben der Bergbau und die Hüttenindustrie hingegen die empfindlichen Ökosysteme weiträumig zerstört. Einige Regionen wie das fernöstliche Gebiet Magadan haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen ökonomischen Absturz und einen Exodus erlebt. In den Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen, wo die Erdöl- und Erdgasindustrie immer weiter nach Norden vorrückt, strömen Arbeitskräfte. Mit der fortschreitenden Erschöpfung der südlicher gelegenen Felder entwickelt sich Öl und Gas aus der Arktis zu Russlands Devisen-Einnahmequelle Nr. 1. Doch die eingesessenen Bewohner der Förderregionen – insbesondere die indigenen Völker – erleben statt eines ökonomischen Aufschwungs nur die Zerstörung ihres Lebensraums und ihrer Lebensgrundlagen durch den Einsatz schweren Geräts auf empfindlichem Permafrostboden, durch Pipelinetrassen und aus Lecks ausfließendes Öl.

Der Imperativ einer nachhaltigen Arktispolitik lautet daher: Der Hohe Norden muss als Lebensraum seiner Bewohner, nichts als bloßer Ressourcenraum der rohstofffördernden und energiehungrigen Gesellschaften südlich des Polarkreises verstanden werden. Sollte dies gelingen, könnte die Arktis tatsächlich zu jener Modellregion werden, zu der sie in der Rede vom „Zeitalter der Arktis“ deklariert wird.

Christoph Humrich, Manfred Sapper, Volker Weichsel