Titelbild Osteuropa 6-8/2012

Aus Osteuropa 6-8/2012

Doppelte Polarisierung
Russlands gespaltene Gesellschaft

Marija Lipman

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Abstract in English

Abstract

Die Proteste, die nach den manipulierten Dumawahlen im Dezember 2011 ausbrachen, markieren einen Bruch zwischen dem Regime und einem relevanten Teil der Bevölkerung. In Russlands Metropolen hat sich eine Schicht unabhängig denkender Bürger entwickelt, die politische Mitsprache fordert. Damit stößt sie auf den Widerstand der herrschenden Elite. Gleichzeitig entfremdet sich diese moderne Bürgerschaft zunehmend von den konservativen Schichten aus den sowjetisch geprägten Kleinstädten und dem ländlichen Raum. Diese sind die Machtbasis des autoritären Putin-Systems. Russlands Entwicklung und die Aussichten auf eine Modernisierung werden von den Beziehungen zwischen den beiden Bevölkerungsteilen geprägt bleiben.

(Osteuropa 6-8/2012, S. 9–22)

Volltext

Die Protestaktionen gegen die Regierung, die im Dezember 2011 in Moskau begannen, rissen auch im Frühjahr nicht ab. Der Protestmarsch im Juni 2012, zu dem mindestens 50 000 Menschen zusammenfanden, setzte ein eindeutiges Zeichen: Die Kraft der Moskauerinnen und Moskauer zum Widerstand ist nicht geschwunden. Die Proteste, die zunächst als Modeerscheinung galten, erfassten ganz unterschiedliche Gesellschaftsschichten von der radikalen, antikapitalistischen Linken bis zur radikalen Rechten, den Nationalisten, deren Übergang zu den Neofaschisten fließend ist. Die Aktionen nahmen ganz unterschiedliche Formen an: Versammlungen, Demonstrationen, Autokorsos, Zeltlager im Stil der Occupy-Bewegung oder Spaziergänge in der Masse. Gemeinsam ist den protestierenden Gruppierungen nur ihre Gegnerschaft zu Putin und seiner Regierung, die sich auf Manipulationen und Lügen, Gesetzeswidrigkeiten und einen unerhörten Missbrauch der Regierungsmacht gründet. Darüber hinaus haben die Gruppen wenig gemeinsam, sie teilen weder Werte noch Überzeugungen noch irgendwelche Vorstellungen über den Weg, den Russland in Zukunft einschlagen soll. Insofern erstaunt es nicht, dass die Protestbewegung nicht zu einer wirklichen politischen Kraft geworden sind: Einige Köpfe haben eine gewisse Prominenz erreicht, aber es bleibt unklar, ob einer von ihnen zu einem Akteur auf der politischen Bühne werden wird, der über Moskau hinaus Bedeutung erlangt. Dennoch wäre es falsch, den Moskauer Protestaktionen keine Bedeutung beizumessen. Selbst wenn sie keinen direkten Effekt auf das Regime und dessen Machtmonopol haben, sind die gesellschaftlichen Folgen dieser Aktivitäten nicht zu unterschätzen. Wie die fortgesetzten Straßenaktionen signalisieren, hat sich die Einstellung der modernen städtischen Bevölkerungsschichten verändert – aus Fatalismus oder Zynismus wurde der Wunsch nach Veränderung, aus bloßer Ablehnung Trotz und Aufbegehren. Weitere Folgen sind der Riss, der sich immer weiter auftut zwischen den dynamischen Teilen der Öffentlichkeit und dem Regime, sowie eine immer stärkere Spaltung der Gesellschaft, in eine traditionalistische und eine moderne Schicht. Selbst wenn die Protestbewegung für das Putin-Regime noch nicht direkt bedrohlich ist, ist sie bedeutsam, da sie dessen Legitimität zum Schwinden bringt und Putin selbst in der Wahrnehmung seiner Macht-und-Eigentum-Eliten schwächt. Die Proteste sind nur ein Faktor, der Putins Macht schwinden lässt. Zu den anderen zählen die Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Lage sowie die sinkende Effektivität von Russlands Wirtschaft. Zurecht konstatieren selbst externe Beobachter: „Die Forderungen von Angehörigen des inneren Machtzirkels werden größer, weil sie sich inzwischen eine Situation vorstellen können, in der es keinen Putin mehr gibt, der sie weiterhin schützt und fördert. Ihre Angst vor der Zukunft […] bedeutet, dass sie nun etwas mehr von Putin verlangen als dessen fortgesetzte Unterstützung; dieser wiederum erkennt nun, dass er sich die ersten Abtrünnigen schafft, wenn er in der Unterstützung seines Machtzirkels nachlässt.“ Putin hatte sich ein System geschaffen, in dem seine Macht unangefochten und unhinterfragt war, nun aber hat sich seine Stellung angesichts von Zehntausenden, die mit dem Ruf „Russland ohne Putin“ auf die Straße gehen, unweigerlich verschlechtert. Offensichtlich nehmen Putin und sein Umfeld die erodierende Wirkung der Massenproteste in Russlands Hauptstadt inzwischen sehr ernst. Hatten sie sich in der Anfangsphase der Anti-Putin-Proteste eher tolerant gezeigt, so verfolgen sie seit Mai 2012 einen repressiven Kurs. Die Versammlungsfreiheit wurde durch neue rechtliche Regelungen eingeschränkt; Demonstranten und Anhänger der Protestbewegung wurden mit Razzien, Verhaftungen und Verhören überzogen. Die Stimmung unter den Moskauer Aktivisten und ihren Sympathisanten ist gedrückt: Viele befürchten, dass das Regime plant, mit Hilfe der kremlhörigen Justiz die Proteste zu ersticken. STAAT UND GESELLSCHAFT IN RUSSLAND Den Ausbruch politischer Proteste hatte in dieser Massivität niemand erwartet. Im Rückblick allerdings lassen sich die gesellschaftlichen Verschiebungen erkennen, die im postkommunistischen Russland stattgefunden haben, insbesondere in den letzten Jahren. Lange bevor die Menschen in Moskau auf die Straße gingen, war die Ablehnung der Regierung weit verbreitet. Bereits 2008, als Putins Zustimmungsraten mit über 80 Prozent ihren Höhepunkt erreichten, war Umfragen zufolge eine große Mehrheit der Russen (mindestens zwei Drittel) der Meinung, dass die Staatsangestellten tun und lassen könnten, was sie wollen, und sich nicht an die Gesetze hielten, die einfachen Leute dagegen der Willkür von Polizei, Steuerfahndern, Gerichten und „anderen Regierungsstrukturen“ schutzlos ausgeliefert seien. Trotz derart negativer Urteile erfreute sich die Führung selbst – Putin und Dmitrij Medvedev – einer breiten öffentlichen Zustimmung; etwa 70 Prozent der Wähler gaben Medvedev in der Präsidentschaftswahl von 2008 ihre Stimme, nur weil Putin, der nach zweimaliger Amtsperiode formell abtreten musste, ihn zu seinem Nachfolger ausgerufen hatte. Die überwiegende Mehrheit der Wählerinnen und Wähler wollte am Status quo festhalten; jeden politischen Wandel brachten sie mit den Unruhen, der Destabilisierung und Unsicherheit der 1990er Jahre in Verbindung und lehnten ihn deshalb ab. Wandel würde die Dinge nicht besser, sondern schlechter machen. Die Regierung – so damals die verbreitete Wahrnehmung – mag ineffizient, eigennützig und korrupt sein, doch wir, das Volk, können daran kaum etwas ändern, weshalb es das Beste ist, sich anzupassen. Diese Haltung ist in der russischen Geschichte tief verwurzelt. Über Jahrhunderte war die Gesellschaft der jeweiligen herrschenden Macht völlig ausgeliefert. Bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts war Russland eine absolute Monarchie, dann erst zeigten sich erste Anzeichen eines demokratischeren Systems, das aber 1917 bereits von der Revolution der Bolschewiki und dem anschließenden Bürgerkrieg hinweggefegt wurde, in dem die Bolschewiki siegten. Sie errichteten eine dauerhafte Tyrannei; herrschten einige Jahrzehnte durch Terror und vernichteten Millionen Angehörige des eigenen Volks. In den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion wurde das Regime sanfter, doch es hatte das Volk weiterhin total unter Kontrolle. Diese kontinuierliche Zwangsherrschaft erzeugte ein Gefühl der Unüberwindbarkeit der Regierung. Die Menschen fühlten sich dem omnipotenten Staat gegenüber hilflos nach dem Motto: „Das ist so, das ist immer so gewesen! Die Willkür und die Launen der Obrigkeit müssen wir als Teil des Lebens betrachten und sie einfach hinnehmen.“ Gerade mal fünf Prozent der Befragten erklärten in einer Umfrage vom Juni 2012, dass vlast’ (die „Macht“, die Bürokraten) und das Volk die gleichen Ziele hätten; 2008, zur Zeit von Putins größter Beliebtheit, glaubten das immerhin noch elf Prozent der Befragten. In der gleichen Umfrage gingen damals 44 Prozent davon aus, dass es eine Einheit von vlast’ und Volk geben sollte. Das Sowjetregime schuf Privateigentum und Unternehmertum ab. Nach dem Ende des stalinistischen Terrors entwickelte die Sowjetunion sich zu so etwas wie einem Sozialstaat. Mit der Wahrnehmung, dass die „Macht“ unüberwindlich sei, war das Gefühl verbunden, vom Staat abhängig zu sein, der über die Verteilung von Arbeitsplätzen, Gütern und Dienstleistungen entscheidet. Diese paternalistische Orientierung ist bis heute weit verbreitet, ebenso die spezifische Wahrnehmung, wodurch Herrschaft Legitimität gewinnt. Selbst wenn die politische Ordnung heute nominell demokratisch ist, glaubt die sowjetisch geprägte Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Russlands bis heute nicht daran, dass die Macht einzig durch eine Wahl verlässlich übertragen werden kann. Legitimität der Regierung reduziert sich statt dessen auf die Anerkennung der Regierungsautorität als solcher: „Wir wählen ihn, denn er ist der Chef“; „Er ist der Chef, darum ist er legitimiert“. 2011 erklärte ein Staatsanwalt in einem Interview: „Vlast’ sollte etwas Heiliges sein, es sollte die Vorstellung geben, dass die, die an der Macht sind, sauberer und besser sind als ein Durchschnittsmensch im Land. […] Anders kommen wir in Russland nicht zurecht. Denn sobald die Bürger Russlands sehen, dass die da oben schlechter sind als wir selbst, löst sich das Land schlicht auf, alles bricht zusammen. […] Ein Herrscher kann kein Dreckskerl sein – sobald die Menschen das Vertrauen in die Effektivität, die Legitimität der Regierung verlieren, sobald sie nicht mehr glauben, dass sie diese brauchen, wird das zu einem neuen 1917 führen.“ Es ist schon bemerkenswert, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Staatsanwalt von der Heiligkeit der Staatsgewalt spricht und dies als erstrebenswerten Zustand betrachtet. Aus der Wahrnehmung der Regierung als heilig und als eine Institution, die bedingungslose Verehrung verdient, hat sich ein Doppeldenken entwickelt: eine Verbindung aus grundsätzlicher Loyalität und von nicht geringerem Zynismus. Schon in der Brežnevschen Sowjetunion war die politische Führung Gegenstand allgegenwärtiger politischer Witze. Über die gesamte Zeit von Putins Präsidentschaft (2000–2008) prägte Fatalismus die Haltung zur vlast’, nicht Bewunderung oder gar Verehrung. Der Fatalismus war sowohl unter den Bewohnern der großen Städte als auch in der eher konservativen Bevölkerung der Provinz verbreitet. Ansonsten driftete die russländische Gesellschaft auseinander, was die Wahrnehmung des herrschenden Regimes anging. Städter, vor allem jene, die in der postindustriellen Wirtschaft arbeiteten, entwickelten moderne berufliche Kompetenzen und ein Gefühl für persönliche Errungenschaften. Diese Leute fühlten sich in der offenen, sich rapide verändernden globalisierten Welt zuhause. Weder sahen sie sich als Abhängige, noch teilten sie die Vorstellung, dass die Legitimität der Staatsmacht eben ihrer Unüberwindbarkeit entspringe. Dem Machtkartell entging dieses Auseinanderdriften nicht. Um die Kontrolle über die zentrifugalen gesellschaftlichen Kräfte zu behalten, bot es zwei höchst erfolgreiche Gesellschaftsverträge an. Mit der konservativen Mehrheit lautete der Deal – salopp formuliert: „Wir liefern, dafür bleibt ihr loyal und stimmt für uns!“ Zwar konnte das Regime keine Dienstleistungen wie eine unabhängige Justiz oder eine vertrauenswürdige Polizei anbieten, doch der hohe Ölpreis gestattete es zumindest, dass die Bezüge der Staatsdiener und die Pensionen stetig wuchsen. Putins Großzügigkeit war greifbar: Während seiner Amtszeit ging die Zahl jener, die in Umfragen angaben, dass sie nicht genug Geld haben, um Grundnahrungsmittel zu kaufen, von 25 Prozent (2002) auf neun Prozent (2010) zurück. Dieser Gesellschaftsvertrag war auch bei Putins erneuter Wahl im März 2012 noch weitgehend in Kraft. Während in Moskau Anti-Putin-Demonstrationen tobten, stimmte über die Hälfte der Wählerinnen und Wähler für Putin. Der Gesellschaftsvertrag mit der unabhängig denkenden Minderheit zielte auf Nicht-Einmischung. Der lautete: „Ihr haltet Euch aus der Politik raus, und wir mischen uns nicht in eure Angelegenheiten ein. Ihr müsst uns nicht mögen und auch nicht wählen, ihr könnt unsere Politik kritisieren; und wenn ihr uns tatsächlich hasst, da ist die Tür! Ihr könnt Russland verlassen.“ Das hat der modernen Minderheit praktisch unbegrenzte individuelle Freiheiten und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung eröffnet, ob in der Kunst, der Wissenschaft, im Show-Business oder beim Geldverdienen, Reisen und im Lebensstil – solange sich diese Minderheit nur nicht in die Politik einmischte. Aus dieser Perspektive lässt sich das, was in Russland Ende 2011 geschah, als ein Bruch des zweiten Vertrags betrachten: Die das moderne Russland verkörpernde Gesellschaftsschicht wollte sich nicht länger aus der Politik heraushalten. Sie wollte, dass sich etwas ändert. DAS TANDEM UND SEINE ERODIERENDE WIRKUNG Der Nichteinmischungspakt erlaubte eine weitgehend freie Meinungsäußerung. Jenseits der staatlichen Fernsehsender, die schon lange politische Ressourcen des Kreml sind, zeigten Moskauer Medien – Zeitungen, Radio, das Internet und kleine TV-Sender – eine beträchtliche redaktionelle Unabhängigkeit. Sie zeichneten ein anderes Bild von Russland; einige betrieben investigativen Journalismus und deckten Fälle von Amtsmissbrauch auf. Zusammen mit den kritischen Milieus bildeten sie eine Art kleiner „Inseln“ oder „Ghettos“, abgekoppelt vom Regime, abgekoppelt aber auch von der breiten Öffentlichkeit. Diese ist von den staatlich kontrollierten Fernsehsendern abhängig, die ihnen als Hauptquelle für Nachrichten aus Politik und Gesellschaft genügen. Die Abgekoppeltheit von der Regierung hatte zur Folge, dass die Angehörigen dieser Intellektuellenbiotope, in denen freie Meinungsäußerung, moderne Werte und ein selbstbestimmtes Leben möglich sind, politisch nicht repräsentiert waren. Sie blieben politisch oder öffentlich ohne Einfluss. Das Regime sorgte dafür, dass die Tätigkeit der unabhängigen Medien politisch irrelevant blieb und den politischen Entscheidungsprozess nicht beeinflusste. Die Konzentration der Kontrolle an der Spitze der Exekutive, die Aushöhlung der Gewaltenteilung und die fast vollständige Eliminierung des politischen Wettbewerbs leisteten dem effektiv Vorschub. Die Herrschaft des Tandems, das 2008 installiert wurde – Putins Schachzug zur Sicherung seiner unangefochtenen Machtstellung –, hatte einen gesellschaftlichen „Nebeneffekt“. Trotz der formal gigantischen Machtbefugnisse als Präsident blieb Medvedev Putin unterlegen, der auf den Posten des Premierministers rochiert war. Medvedev nahm man so gut wie gar nicht als unabhängige Figur wahr, zynische Beobachter sahen in ihm das „sanfte Antlitz“ von Putins autoritärem Regime. Doch seine liberale Rhetorik – „Freiheit ist besser als Unfreiheit“ war sein am meisten zitierter Satz aus der Anfangszeit –, seine Begeisterung für elektronisches Gerät und die digitale Welt sowie der einfache Umstand, dass es nun statt eines Führers zwei gab, bewirkten, dass das System ein wenig lockerer wurde und einige der bislang am Rand stehenden Regimegegner Mut schöpften. Im Politslang der frühen Tandem-Ära tauchte das Wort „Tauwetter“ wieder auf. „Die neuen Verhältnisse, die zum Teil durch Medvedev legalisiert worden waren, entwickelten ein Eigenleben“, schrieb ein Kommentator damals. Das Gefühl größerer Toleranz ermutigte die Medien, sich neue Freiheiten herauszunehmen. Sogar Fernsehleute wurden im Klima des Tauwetters mutiger. Die landesweit zu empfangenden Fernsehsender blieben fest unter staatlicher Kontrolle, doch wollten auch einige in den Sendeanstalten nicht länger als williger Arm des Regimes betrachtet werden. So zeugten zwar die Nachrichten weiterhin von der Loyalität zur politischen Führung, doch jenseits des Kerngeschäfts wagten sich einige Fernsehleute vorsichtig hervor. Die jährlichen Fernsehpreise gingen wiederholt an Journalisten, die in Ungnade gefallen waren und keine Sendezeit mehr erhielten; auch Fernsehsender mit einer geringen Reichweite, die sich eine unabhängige Stimme bewahrt hatten, wurden ausgezeichnet. 2010 erhielt der ehemalige TV-Star Leonid Parfenov, der 2004 aus dem nationalen Fernsehen geflogen war, einen Sonderpreis und nutzte die Gelegenheit, die Leiter des Staatsfernsehens vor dem Publikum der Preisverleihung in einer bitteren Rede frontal anzugreifen: „Für einen Korrespondenten des staatlichen Fernsehens sind die Leute an der Spitze der Regierung nicht diejenigen, welche die Nachrichten produzieren, sondern die Chefs seiner Chefs. […] Ein Korrespondent ist kein Journalist, er ist ein Bürokrat, der sich leiten lässt durch die Logik von Gefolgschaft und Unterordnung. […] Nichts Kritisches, Zweifelndes oder Ironisches über Präsident oder Premierminister geht in den Staatssendern über den Äther.“ Ebenso kennzeichnend für die Ära des Tandems war, dass neue Nachrichtenmedien aufkamen und sich zuvor unpolitische Medien politisierten. Kommersant”, eine etablierte Print-Media-Holding, startete 2010 den Radiosender Kommersant” FM. Indem der Sender auf die mannigfaltigen journalistischen Ressourcen des Mutterkonzerns zurückgriff, machte er sich rasch einen Namen als gut unterrichtete Quelle von Nachrichten aus Politik und Wirtschaft. Dožd’ TV, ein kleiner Sender, der 2010 im Internet begonnen hatte, wurde rasch in Kabelnetze eingespeist und erweiterte so seine Reichweite. Bewusst lud dieser Sender Personen aus Politik und Öffentlichkeit in seine Shows, die im Staatsfernsehen auf den „schwarzen Listen“ standen. Bei diversen Gelegenheiten widmeten sich auch dicke Hochglanzmagazine wie Esquire, GQ und zuletzt auch Citizen K politischen Themen und reagierten damit offensichtlich auf die Veränderung in ihrer Leserschaft – die wohlhabenden, gut ausgebildeten, weit gereisten und westlich orientierten Russen mit modernen Berufsqualifikationen und einem Sinn für Unterhaltung und Vergnügen auf hohem qualitativem Niveau zeigten zunehmend Interesse an politischen Diskussionen. Bol’šoj Gorod (Große Stadt), eine alle zwei Wochen erscheinende Illustrierte über das Moskauer Stadtleben, bot nach einem Relaunch hochpolitische und keineswegs zahme Berichte. Auch Afiša (Anschlagtafel), ein Hochglanzmagazin, das alle zwei Wochen mit Berichten aus Kunst und Kultur mit aktuellen Kritiken und Programmen erscheint, hat eine aufmüpfig pfiffige politische Stimme bekommen. VERBREITUNG DES INTERNETS – WACHSENDE BÜRGERBETEILIGUNG In der gleichen Zeit beschleunigte sich auch die Verbreitung des Internets. Die meisten Medien entwickelten nun auch Web-Plattformen. Internet, Print, Audio und Video verbanden sich rasch zu einem Kommunikationsraum, in dem Ende der 2000er Jahre eine Flut von Berichten über offen rechtswidrige, ungerechte und missbräuchliche Praktiken des Regimes oder der Polizei erschien. Derartige Nachrichten führten online zu Ausbrüchen öffentlicher Empörung. Um nur ein Beispiel von vielen zu zitieren: Anfang 2010 starben zwei Frauen durch einen Autounfall: Ihr kleiner Citroën war mit dem Mercedes des Vizepräsidenten der großen Ölgesellschaft Lukojl zusammengestoßen. Prompt erklärte die Polizei, der Unfall sei von der Fahrerin des Citroën verursacht worden und nicht vom Chauffeur des Mercedes. Über den Vorfall wurde breit berichtet, und die Internetgemeinde explodierte vor Wut: Weil „große Tiere“ bekanntermaßen zu schnell fahren und auch sonst die Verkehrsregeln missachten, ging man davon aus, dass die Version der Polizei falsch war, wahrscheinlich ein Versuch, einen Wirtschaftsführer straffrei davonkommen zu lassen. Die Zahl der Blogger stieg, für einige zehntausend Internetnutzer wurden einige Blogs zu „Pflichtlektüre“ und gewannen an Autorität. Aleksej Naval’nyj, Rechtsanwalt, produktiver Blogger und Kämpfer gegen Korruption, machte sich einen Namen und wurde zu etwas, was man in Russland bis dahin kaum kannte: zu einem effektiven Organisator ziviler Aktivität. Die Ausdehnung des Internets und der rapide Erfolg sozialer Netzwerke – die Zahl der Nutzer steigt in Russland schneller als in allen anderen Ländern Europas – verstärkte den Trend, sich via Internet zu informieren, und erweiterte den Raum der öffentlichen Diskussion. Zunehmend suchten fortgeschrittene Internetnutzer über Facebook nach Hinweisen auf Publikationen. Facebook entwickelte sich zu einem Medien- und Nutzernetzwerk. In Nutzerkreisen war es verbreitet, ja sogar schick geworden, sich für wohltätige Zwecke zu engagieren, insbesondere zur Unterstützung von Schwachen und Hilflosen, allen voran von Kindern, die teure Behandlungen und Operationen brauchten. Ein amerikanischer Journalist schrieb: „Websites wie LiveJournal und später auch Facebook sowie dessen lokaler Klon VKontakte fungierten weniger als soziale Netzwerke im westlichen Sinn, sondern zunehmend als alternative Massenmedien.“ Diese deutliche Zunahme der Online-Kommunikation erleichterte die soziale Vernetzung und ermöglichte die zivilgesellschaftliche Mobilisierung. In den späten 2000er Jahren errangen zahlreiche Initiativen und Gesichter dieser Bewegungen Popularität; immer wieder bewiesen diese modernen Schichten der Gesellschaft ihre wachsende Fähigkeit, schnell und effektiv Unterstützung zu mobilisieren. Zu den bekanntesten zivilgesellschaftlichen Aktionen gehörten die „Blauen Eimer“ und die Bewegung zur Rettung des Waldes von Chimki. Die erste Kampagne richtete sich gegen das Privileg höherer Funktionäre, ihre Wagen mit Blaulicht auszurüsten und so normale Autofahrer auf den gewöhnlich verstopften Straßen Moskaus beiseite zu drängen. Die Protestierenden reagierten, indem sie blaue Eimer aufs Dach ihrer Wagen montierten. Nach einer Umfrage unter jungen Moskauern vom Sommer 2010 erzielte diese Aktion die größte Aufmerksamkeit und Unterstützung unter allen Bürgerinitiativen Russlands. Die Bewegung zum Schutz des Waldes von Chimki besteht aus engagierten Umweltschützern, die einen zähen Kampf gegen ein Straßenbauprojekt führen. Eine Autobahn soll das beliebte Waldgebiet in der Umgebung Moskaus durchschneiden. Die Aktivisten deckten auf, dass die Baugenehmigung auf ungesetzliche Weise erlangt worden war und unter Verletzung einschlägiger Vorschriften durchgesetzt wird; sie sammelten Unterschriften und versuchten, die Rodungsarbeiten auf verschiedene Weise zu behindern. Ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung von Chimki 2009/2010; ihrer Sprecherin Evgenija Čirikova gelang es, breite öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen; mit Aleksej Naval’nyj gehört sie heute zu Russlands bekanntesten Gesichtern zivilgesellschaftlicher Organisationen. Bezeichnend für die wachsende Reife der russländischen Zivilgesellschaft war der Einsatz von Freiwilligen im Sommer 2010, als Zentralrussland von einer außergewöhnlichen Hitzewelle betroffen war, die zu todbringenden Waldbränden führte. Sehr rasch wurde klar, dass die staatlichen Feuerwehren für ihre Aufgabe unzureichend gerüstet und ausgebildet waren. Im Unterschied zu den verpfuschten Einsätzen der Regierungsstellen war die Selbsthilfe der Bürger schnell, wirkungsvoll und gut organisiert. Freiwillige sammelten Spenden und unterstützten die Opfer der Brände; im Handumdrehen stellten sie ein nutzerfreundliches Online-Bulletin auf die Beine und sorgten so für eine effektive Zusammenarbeit. Diese Plattform informierte darüber, was zu tun war, und darüber, wo welche Hilfe gebraucht wurde; sie zeigte, wo die zur Brandbekämpfung notwendige Ausrüstung zu besorgen ist und welche Sicherheitsvorkehrungen zu treffen sind, solange man im Brandgebiet arbeitet. Aktionen wie diese zeigen, wozu jene Russen in der Lage sind, die das traditionelle Denken überwunden haben, die Entscheidungen selbst treffen und Verantwortung übernehmen. Der neu unter Spannung gesetzte Medienbereich lieferte der sich rasch entwickelnden Zivilgesellschaft Nachrichten, kritische Analysen staatlichen Handelns durch Fachleute, dazu zornige Meinungen und satirische Spitzen. Im Frühjahr 2011 wurde das Radio/Video/Internet-Projekt Graždanin Poėt (Stadtschreiber) aus der Taufe gehoben. Es bot beißende Satiren auf aktuelle politische Ereignisse. Jeden Montag erreichten die von dem Schauspieler Michail Efremov hervorragend gesprochenen satirischen Verse aus Dmitrij Bykovs blendender Feder ein riesiges, begeistertes Publikum. Autor und Sprecher behandeln ihre politischen Akteure, Putin und Medvedev eingeschlossen, ohne jeden Respekt. So wuchsen die isolierten Inselchen zu so etwas wie einem Archipel zusammen, zu einem öffentlichen Bereich, der zum Teil durch Facebook und andere soziale Netzwerke zusammengehalten wird. In diesem Bereich ist „das Abrufen von Nachrichten eng verknüpft mit Aktion und Partizipation. Diese Partizipation macht Nachrichten zu öffentlichen und politischen Ereignissen. So entwickelt sich ein Medientyp, der jenem diametral entgegengesetzt ist, den der Kreml produziert, dessen Ziel seit Putins Amtsantritt darin besteht, das Fernsehen zur Stimulation von Nichtteilhabe zu nutzen.“ Die staatlichen Medien sollen dafür sorgen, dass unliebsame Nachrichten, wie sie von NGO-Medien verbreitet werden, nicht zu politischen Ereignissen werden. Doch so groß dieser Archipel auch sein mochte, noch zeigten auch die modernen Russen kein Interesse daran, sich politisch zu engagieren. Ende 2009 etwa ließ die offensichtlich manipulierte Wahl zur Moskauer Stadtduma die Moskauer Bürgerinnen und Bürger, ob modern oder konservativ, völlig unberührt. Wie Umfragen ergaben, gingen die Menschen davon aus, dass die Wahlen ohnehin manipuliert werden würden. Als sich das bewahrheitete, war es kein Ereignis mehr. Erst gegen Ende von Medvedevs vierjähriger Amtszeit änderte sich die Einstellung unter den aufgeklärten Russen spürbar. Eine gereizt-empörte Stimmung kam auf. Mit der intensiven Kommunikation via Internet und gewachsener zivilbürgerlicher Reife bildete sich ein modernes gesellschaftliches Umfeld, als Putin und Medvedev ihre Rochade zu spielen begannen. PUTINS RÜCKKEHR – ENDE DES NICHTEINMISCHUNGSPAKTS Ende September 2011 kündigte Medvedev an, er werde nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren, und Putin werde ins Präsidentenamt zurückkehren. In einem wenig überzeugenden Versuch, seinen „Rücktritt“ zu erklären, sprach Medvedev davon, dass diese Entscheidung zwischen Putin und ihm schon vor langer Zeit abgesprochen worden sei. Das führte zu öffentlicher Empörung; allgemein herrschte das Empfinden, dass die Herrschenden das Volk im Grunde für dumm hielten. Gerade unter den jungen städtischen Russen, die in Medvedev den moderneren Politiker sahen, gab es viele, die alles andere als begeistert waren von der Aussicht auf weitere zwölf Jahre Putin. Viele dieser jungen Leute rechneten sich – voller Schrecken – aus, wie alt sie am Ende von Putins neuer Amtszeit sein würden. Der Ankündigung des Ämtertauschs folgten die Parlamentswahlen, die begleitet waren von Wahlbetrug und Missbrauch der administrativen Macht zugunsten der Kremlpartei Einiges Russland. Beweise für die Manipulationen wurden von unabhängigen Wahlbeobachtern wie der NGO Golos sowie von Bürgerinnen und Bürgern aus dem ganzen Land ins Netz gestellt. Die wachsende Zahl solcher Beweise ermutigte noch mehr Menschen, Regelverletzungen mitzuteilen, die sie in ihren Heimatorten beobachtet hatten. Das verstärkte die Empörung über den betrügerischen Wahlkampf von Einiges Russland. Je tiefer die Ablehnung der Partei wurde, desto nachdrücklicher versuchte das Regime, der Kremlpartei doch das gewünschte Wahlergebnis zu verschaffen. Ein Teufelskreis, der immer mehr Bürgerinnen und Bürger dazu trieb, sich an Wahlbeobachtungsaktionen zu beteiligen – nur um in den Wahllokalen Zeugen unverhüllter Betrugsmanöver und Opfer rüder Behandlung zu werden. Freiwillige Wahlbeobachter wurden, wenn sie besonders nachdrücklich auf Betrug hinwiesen, regelmäßig aus den Wahllokalen rausgeschmissen. Als mit den Wahlergebnissen veröffentlicht wurde, dass Einiges Russland fast 50 Prozent der Stimmen errungen habe, kochte die Empörung über. Einen Tag nach der Wahl machte sich der Ärger Luft: Rund siebentausend Menschen gingen in Moskau auf die Straße, um gegen den offensichtlichen Wahlbetrug zu demonstrieren. Ein paar Tage später, am 10. Dezember, versammelten sich Moskowiter in einer im postkommunistischen Russland beispiellosen Zahl zur politischen Demonstration: Über 30 000 Menschen füllten den Bolotnaja-Platz in Moskaus Innenstadt. Viele der hier Protestierenden hatten bis dahin vom „Nichteinmischungspakt“ profitiert und sich nicht im Geringsten um Wahlen oder andere politische Spielchen des Regimes gekümmert. Doch dieser Pakt war offenbar geplatzt. Was zuvor fatalistisch hingenommen worden war, erschien plötzlich unerträglich. Sobald eine politische Frage dies wert schien, erwiesen sich nun die zuvor entwickelten Fähigkeiten des Nachrichtenaustauschs, der Vernetzung und der zivilen Mobilisierung als nützlich. Die ersten Massenproteste wurden als Facebook-Ereignisse organisiert, Zehntausende beteiligten sich; zur zweiten großen Demonstration am 24. Dezember verdoppelte sich die Teilnehmerzahl gegenüber dem 10. Dezember; weitere Aktionen folgten im Winter und im Frühjahr, die allerdings nicht mehr so viel Unterstützung fanden. POLARISIERUNG DER GESELLSCHAFT Das überraschende Ausmaß der öffentlichen Proteste ließ die immer tiefere Spaltung der Gesellschaft erkennen. Soziologen verweisen darauf, dass die Scheidelinie das Ausmaß ist, in dem die Menschen an der Moderne beteiligt sind. Die Regierung stützt sich seit längerem auf die konservative Mehrheit als Wählerbasis, die kritisch eingestellte Minderheit sollte sich dagegen „um ihre eigenen Angelegenheiten“ kümmern. Politischer Protest wurden im Keim erstickt. Wer sich nicht an den „Nichteinmischungspakt“ halten wollte und kurze politische Proteste organisierte, wurde festgenommen und nicht selten geschlagen. Das Staatsfernsehen ignorierte solche Ereignisse. Bis Dezember 2011 brachten politische Kundgebungen selten mehr als einige hundert Menschen auf die Beine; zu den bereits erwähnten Demonstrationen am Tag nach der Dumawahl kamen plötzlich 7000 Teilnehmer. Sie wurden wie üblich behandelt, von der Polizei hart angepackt und in großer Zahl verhaftet. Am 6. Dezember erschienen um die 1500 Protestierende und wurden brutal zusammengeschlagen, zwischen vier- und fünfhundert Menschen wurden verhaftet. Daraufhin aber war der kritisch eingestellte Teil der Bevölkerung nicht länger bereit, sich im Putin-Stil regieren zu lassen, sie wollten sich weder länger ausschließen noch wie Schafe behandeln lassen. Und der Kreml konnte sie nicht länger ignorieren. Zu Beginn der Massenproteste zeigte sich die Regierung einigermaßen zurückhaltend: Angesichts einiger zehntausend Demonstranten, die „Russland ohne Putin“ oder „Putin verschwinde“ skandierten, kooperierte die Polizei mit den Organisatoren, um einen friedlichen Ablauf zu gewährleisten; niemand sollte verhaftet oder verprügelt werden. Putins für Anfang März geplante Wahl wirkte dämpfend: Die Regierung wollte die Bevölkerung nicht dadurch gegen sich aufbringen, dass sie hart gegen friedliche Demonstranten durchgreifen ließ. Sogar das Staatsfernsehen ließ von seinen Gewohnheiten ab und berichtete über die Demonstrationen, so dass Menschen in ganz Russland verfolgen konnten, wie die Moskauer Bürgerinnen und Bürger gegen Putins Herrschaft protestierten. Einige der Aktivisten, die zuvor auf schwarzen Listen der großen TV-Sender gestanden hatten, wurden nun ausdrücklich zu politischen Talkshows eingeladen. Nur für Aleksej Naval’nyj galt eine Ausnahme. Er gehörte seit den ersten Massenprotesten am 5. Dezember zur Speerspitze der Bewegung, hatte feurige Reden gehalten und die Bewunderung vieler Demonstranten errungen – er blieb vom nationalen Fernsehen ausgeschlossen. Im April 2012 erklärte er in einem Interview des Senders Dožd’, dass er gern Verantwortung im Staat übernehmen würde, und schloss nicht aus, eines Tages für ein hohes Amt zu kandidieren. Gern, setzte er hinzu, sähe er einige der hochrangigen Staatsvertreter von heute wegen Korruption und Untreue hinter Gittern. Als klar wurde, dass der Pakt mit den aufgeklärten Milieus nicht länger funktionierte, machte das Regime einige Angebote: Es kündigte kleinere Reformschritte zur Öffnung des streng kontrollierten politischen Bereichs an. Doch diese Schritte waren nicht das Ergebnis eines Dialogs mit den Protestierenden, sondern ein Akt „königlicher Gnade“ – gewährt von oben. Die Protestierenden beeindruckte das kaum; manche hatten den liberalisierenden Effekt nicht einmal wahrgenommen, andere glaubten nicht daran, dass das Regime tatsächlich Macht abgeben würde. Sie behielten Recht, denn bevor die Änderungen Rechtskraft gewinnen sollten, waren sie auf bedeutungslose Revisionen reduziert worden. Doch auch indem es sich vernünftigerweise tolerant zeigte, verstärkte das Regime die Polarisierung der Gesellschaft. Ein Weg, den Anti-Putin-Demonstrationen entgegenzuwirken, war die Organisation von Pro-Putin-Aufmärschen. Diese Aktionen wurden mit administrativen und materiellen Ressourcen gefördert, die Teilnehmer, in der Regel Angestellte, die ihre Bezüge aus dem Staatsbudget erhalten, wurden mit mildem Zwang und Kompensationsleistungen rekrutiert. Busse brachten sie an den Ort des Geschehens. Dort erhielten sie vorgefertigte Pro-Putin-Schilder. Die Anti-Putin-Demonstranten, so hieß es in den Reden bei diesen „Loyalisten“-Versammlungen, seien von bösen auswärtigen Kräften gelenkt, bezahlt und unterstützt, vor allem vom berüchtigten Gosdep – so das russische Akronym für das US-Außenministerium. Ein Mitarbeiter einer Rüstungsfabrik aus einer Provinzstadt im Ural trat im Staatsfernsehen auf, forderte Treue zu Putin und bot an, mit seinen Kumpels nach Moskau zu kommen und mit den Protestierern aufzuräumen. Dieses Angebot zur Selbstjustiz nahm Putin nicht an. Doch umgehend wurde der Fabrikmann für seine Loyalität belohnt: mit einer hohen Stelle im Gefolge eines der Präsidialvertreter in einem der acht föderalen Superbezirke. Als Gegengewicht zu den Fernsehberichten über Massenproteste und zu den Talkshows mit Protestierenden strahlten die gleichen Sender „Dokus“ aus, in denen die Aktivisten als amoralisch und antirussisch verunglimpft wurden. Je lauter und stärker die moderne Moskauer Minderheit wurde, desto deutlicher wurde dem Regime, das verbal ja noch immer für Modernisierung eintrat, die Notwendigkeit, sich an die traditionellen, sowjetisch geprägten und konservativen Schichten der Gesellschaft zu wenden – womit es die Polarisierung nochmals verstärkte. Doch auch ohne Druck durch das Regime wuchs in den konservativen Bevölkerungsteilen die Ablehnung gegenüber den neuen Russen in der Stadt, die sie als zu modern, zu unabhängig, zu aufsässig und zu radikal empfanden. Drei Frauen der Punkband Pussy Riot, die in ihrem provokativen Auftritt am 21. Februar 2012 mit dem „Gebet“ vor dem Altar der Christi-Erlöser-Kirche in Moskau: „Mutter Gottes, Jungfrau, werde Feministin, Mutter Gottes, Jungfrau, vertreibe Putin“ Respektlosigkeit gegen Putin und gegen den Patriarchen der Russischen Orthodoxen Kirche verband, wurden Anfang März 2012 verhaftet und angeklagt. Am 17. August wurden sie nach einem skandalösen Gerichtsverfahren zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die Anklageschrift, die von „einem bösartigen und vorsätzlichen Akt“ spricht, der sich „gegen die Gefühle und den Glauben der zahlreichen Anhänger des christlich orthodoxen Glaubens“ gerichtet und „die geistlichen Grundlagen des Staates“ verunglimpft habe, scheint eher in den fundamentalistischen Iran als nach Russland zu gehören, das laut Verfassung ein säkularer Staat ist. Auch in der Frage, ob die Punkladies eine so harte Strafe verdienen, ist die Gesellschaft gespalten. In einer Umfrage sprach sich eine Mehrheit von 46 Prozent dafür aus, Verbrechen wie „Blasphemie“ mit jahrelangem Gefängnis zu bestrafen. Die Russische Orthodoxe Kirche erfreut sich entschiedener und einstimmiger Unterstützung durch das Regime. Tatsächlich verbindet Staat und Kirche wechselseitige Loyalität, obwohl die Kirche eine antimoderne Haltung predigt, ganz gleich ob es um Fragen der Gesellschaft, der Politik oder um andere Bereiche geht, während das Regime permanent die Modernisierung der Gesellschaft als Hauptziel verkündet. Kurz nach dem Auftritt von Pussy Riot veranstaltete die Kirche ein „Gebet“ im Freien vor der „entweihten“ Kirche, ein Massenereignis, das in vielem an die vom Staat geförderten Pro-Putin-Aufmärsche erinnerte. Auch hier wurden die Teilnehmer mit Bussen herangefahren. In seiner Ansprache rückte der Patriarch den Auftritt der Punkgruppe in eine Linie mit den Verfolgungen, welche die Kirche unter den Bolschewiki zu erleiden hatte. In einer anderen Ansprache verurteilte er nicht nur die Frauen der Punkband, sondern auch die orthodoxen Christen, die um Nachsicht für die jungen Frauen bitten und dafür plädieren, den Prozess gegen sie einzustellen. Einige Kirchenführer fordern eine strenge Strafe für die Mitglieder der Band. Die Kremlpartei Einiges Russland brachte einen Gesetzentwurf ein, mit dem die Verletzung religiöser Gefühle von Gläubigen unter Strafe gestellt werden soll; ausdrücklich wurde diese Initiative im Juni 2012 von führenden Kirchenleuten begrüßt. Die weit verbreiteten Ressentiments gegen Homosexuelle erhielten Auftrieb, als mehrere Regionen, auch Moskau und St. Petersburg, ein Gesetz in Kraft setzten, das die „Propaganda“ von Homosexualität und Pädophilie unter Strafe stellt. Übrigens wird beides in einem Atemzug genannt und als gleichermaßen abscheulich dargestellt. Wiederholt wurden aus Provinzstädten Verbote oder Schließungen von Veranstaltungen wie Aufführungen, Ausstellungen und Rockkonzerten gemeldet, die als künstlerisch oder politisch zu radikal gelten. So erhielt das Duo Poėt i Graždanin, dessen Tour durch Russland vor einigen Monaten noch begeistert gefeiert wurde, im Juni 2012 in der Stadt Perm’ ein Auftrittsverbot. VOM PAKT ZUR FEINDSELIGKEIT In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft stützt sich das Regime eindeutig auf die öffentliche Stimmung, die geprägt ist von der Furcht vor Veränderung, der Ablehnung der Eigenverantwortung, von Verdacht gegen alles Neue und Ablehnung des Unbekannten, von Aversionen gegen alles „Andere“. Ohne einen neuen „Gesellschaftsvertrag“, der den unwiderruflich zerstörten „Nichteinmischungspakt“ ersetzen könnte, werden das Regime und der moderne, mündige Teil der Gesellschaft immer stärker in Feindseligkeit abdriften. Am 6. Mai endete eine Demonstration in Zusammenstößen mit der Polizei. Das Regime ließ Strafverfahren eröffnen. Noch Anfang Juli befanden sich über ein Dutzend Menschen in Haft, angeklagt wegen Organisation von oder Teilnahme an etwas, das die Polizei nun als „Massenunruhe“ qualifiziert. Rasch wurden neue Gesetze verabschiedet, die Demonstrationen unter strikte Beschränkungen stellen und ganz offenkundig im Widerspruch zur Versammlungsfreiheit stehen, welche die Verfassung garantiert. In den Medien hat es diverse Entlassungen gegeben. Sender und Redaktionen wurden geschlossen. Die Wohnungen prominenter Oppositioneller wie Aleksej Naval’nyj wurden stundenlang durchsucht, die Polizei beschlagnahmte Computer und andere elektronische Geräte, Schriftstücke aller Art sowie Bargeld. Prominente Aktivisten wurden zu Verhören vorgeladen. Sie berichteten danach, dass die Polizei versuche, ein Strafverfahren gegen Naval’nyj vorzubereiten. Wie diese Konfrontation zwischen dem Regime und der Protestbewegung auch ausgehen mag, eines ist sicher: Das Ergebnis wird einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft markieren und die Entwicklung in Russland in der nahen Zukunft prägen. Auf lange Sicht werden Russlands Entwicklungsweg und die Aussichten auf eine Modernisierung von den Beziehungen zwischen den beiden Bevölkerungsteilen geprägt bleiben – den modernen Russen und jenen, die noch immer auf die Dominanz des Staates setzen. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Frankfurt/Main Erschienen in: Osteuropa, 62. Jg., 6–8/2012, S. 9–22 Maria Lipman (1952), Chefredakteurin von Pro & Contra, Carnegie-Zentrum, Moskau

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