Editorial
Aufrechter Gang
Manfred Sapper, Volker Weichsel
Abstract
Lev Kopelev war ein faszinierter Bolschewik. Er machte sich an den Verbrechen der Kollektivierung der Landwirtschaft mitschuldig und verteidigte aus voller Überzeugung die stalinistische Sowjetunion gegen den Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Als er sich 1945 als Major und Propagandaoffizier gegen Verbrechen seiner Armee an der deutschen Zivilbevölkerung in Ostpreußen wandte, bezahlte er diese anständige Haltung mit Gefängnis und Lager. Nach hartem Ringen brach er mit Stalin und dem Kommunismus. Er bekannte sich zu seinen Irrtümern, bekundete Reue und zog daraus Lehren. Die eigene Biographie wurde zur Grundlage der Ethik, die das Handeln bestimmt und von der Idee geleitet war, nur in der Wahrheit leben zu können. Kopelevs Leben und sein Werk verdichteten sich zu einer Botschaft der Humanität.
In all dem berührt er sich mit Heinrich Böll, der die totalitäre Erfahrung im Nationalsozialismus machte, das Trauma des Krieges als Soldat erlebte und in der Bundesrepublik zu einer der wichtigsten Stimmen gegen Krieg, Diktatur und Unfreiheit wurde. Böll und Kopelev begegneten sich im September 1962 zum ersten Mal. Daraus erwuchs eine enge Freundschaft. An sie ist nicht nur aus Anlass von Lev Kopelevs Geburtstag zu erinnern, der sich am 9. April 2012 zum 100. Mal jährte.
Leben und Werk von Lev Kopelev und Heinrich Böll stehen für Mündigkeit, Verantwortung und aufrechten Gang. Nicht nur darin liegt ihre Aktualität.
(Sonderheft 2012, S. 34)