Editorial
Homophobie und autoritärer Staat
Volker Weichsel, Manfred Sapper
Abstract in English
(Osteuropa 10/2013, S. 34)
Volltext
Für den Soziologen und Sexualwissenschaftler Igor’ Kon war die Haltung einer Gesellschaft zu ihren sexuellen Minderheiten der Lackmustest schlechthin. Wie die Mehrheitsgesellschaft mit den sexuellen Minderheiten umgeht, zeigt an, wie frei und tolerant eine Gesellschaft ist und wie es um ihr Rechtsbewusstsein bestellt ist. Gilt der fundamentale Gleichheitsgrundsatz, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind und niemand aufgrund irgendeines Unterschiedes diskriminiert werden darf? Schließlich verrät die Haltung zu den sexuellen Minderheiten auch viel darüber, wie stark demokratisches Denken in Gesellschaft und Politik verankert ist. Weltweit gehören zwischen fünf und zehn Prozent aller Menschen sexuellen Minderheiten an. Menschen mit homophoben Einstellungen gibt es ebenfalls in jeder Gesellschaft. Doch unter welchen Bedingungen wird aus der Angst vor dem sexuell Anderen offene Feindschaft gegen Lesben und Schwule, Bisexuelle oder Transgender? Es muss etwas mit den historischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen sowie der Form der politischen Herrschaft zu tun haben, wenn aus dem homophoben Ressentiment einzelner Menschen kollektives Handeln in Form von Drohungen, Übergriffen und physischer Gewalt gegen sexuelle Minderheiten wird. Eine andere Qualität gewinnt Homophobie dann, wenn sie zu einer politischen Haltung oder gar zu einem Bestandteil staatlicher Politik wird. Um diese Hypothese auf den Prüfstand zu stellen, unterziehen wir in diesem Band idealtypisch drei Länder einer Spektralanalyse eigener Art: erstens das ostslawische Russland, das religiös und kulturell in orthodoxer Tradition steht, zweitens das westslawische, römisch-katholisch geprägte Polen und drittens das westslawische Tschechien. Bereits die tschechische Nationalbewegung hatte ihre nationale Identität in bewusster Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche definiert. Heute ist Tschechien das Land in Europa, in dem die Säkularisierung am weitesten fortgeschritten ist. Der Entscheidung, ein orthodoxes, ein katholisches und ein säkularisiertes Land auszuwählen, liegt die Annahme zugrunde, dass sich im persönlichen und gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität – und folglich auch mit Homosexualität oder anderen Formen sexueller Orientierung – auch moralische und sexualethische Vorstellungen der Kirche niederschlagen. Im Vordergrund steht Russland. Dort wurde 1993 der einschlägige Paragraph aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, der seit 1934 gleichgeschlechtliche Sexualbeziehungen verboten hatte und die rechtliche Grundlage für die Diskriminierung homosexueller Menschen gewesen war. 1996 trat Russland dem Europarat bei. 1999 übernahm Russland von der Weltgesundheitsorganisation die „Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“. Damit wurde Homosexualität aus dem Katalog der Krankheiten gestrichen. Russland schien auf dem Weg, ein ganz normales Land in Europa zu werden. Doch seit einigen Jahren geht Russland wieder in eine andere Richtung. Lesben und Schwule, die für ihre rechtliche Gleichstellung demonstrieren, werden Opfer von Gewalt. Das Gebietsparlament von Rjazan’ verbot im Jahr 2006, öffentlich für Homosexualität Stellung zu beziehen. Die Moskauer Behörden lehnten Anträge auf die Durchführung von Gay Pride-Demos immer wieder ab – unter Verletzung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts. 2011 und 2012 verabschiedeten zwölf Gebietsparlamente Gesetze, die „Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Beziehungen unter Minderjährigen“ unter Strafe stellen. Seit Juni 2013 ist in ganz Russland ein entsprechendes Gesetz in Kraft. Was unter „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ zu verstehen ist, bleibt unklar. Die Herausgabe einer Lesben-Zeitschrift, ein Jugendbuch, das die Liebe eines Jungen zu einem Puppenspieler behandelt, ja das bloße Reden über Homosexualität können ein Gesetzesverstoß sein. In diesem Graubereich sind der Willkür Tür und Tor geöffnet. Das Vorgehen ist perfide. Formal bleibt Homosexualität legal. Real schafft die Staatsmacht unter Lesben und Schwulen ein Klima der Angst. Homophoben Kräften stellt sie einen Freibrief aus. Kein Wunder, dass seit Juni die homophob motivierten Übergriffe auf Angehörige sexueller Minderheiten, die öffentlichen Demütigungen Homosexueller und sogar die Morde an Homosexuellen zugenommen haben. Das föderale Gesetz gegen Homopropaganda gehört zu der Kette repressiver Gesetze, welche die Staatsduma nach Vladimir Putins neuerlichem Amtsantritt als Präsident im Mai 2012 wie am Fließband verabschiedet hat. Das Demonstrationsrecht wurde verschärft, die Pressefreiheit eingeschränkt, der Straftatbestand der Verleumdung wieder eingeführt. Gegen Repräsentanten der Protestbewegung wurden Strafverfahren eröffnet. Es ist kein Zufall, dass das Gesetz gegen Homopropaganda fast zum selben Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die russländischen Behörden auf Putins Wink Hunderte von russischen NGOs ins Visier nahmen und sie als „ausländische Agenten“ zu kriminalisieren versuchten. Orchestriert wurde das von einer breiten Medienkampagne. Bei all dem geht es um die Einschüchterung und Unterwerfung jener Teile der Bevölkerung, die sich gegen Wahlfälschung und den autoritären Staat zur Wehr gesetzt haben und die für die Geltung des Rechts und für eine offene Gesellschaft eintreten. Die Russische Orthodoxe Kirche spielt dabei eine überraschend geringe Rolle. Da sie über keinen substantiellen Einfluss in der Gesellschaft verfügt, ist sie lediglich ein willfähriges Instrument des Regimes. Der Vergleich mit Polen zeigt, dass das Besondere an der Homophobie in Russland darin besteht, dass sie zu einem Teil der staatlichen Politik geworden ist und den antiwestlichen Kurs des Putin-Regimes zum Ausdruck bringt. Denn wie in der Russischen Orthodoxen Kirche, so dominieren auch in der Katholischen Kirche in Polen homophobe Kräfte, die zudem großen Einfluss auf die polnische Gesellschaft haben. Doch der polnische Rechtsstaat ist so stabil, dass er sich Übergriffen nationalistischer und ultrakatholischer Gruppen auf Angehörige der sexuellen Minderheiten entgegenstellt. Für die Einführung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft, über die seit zehn Jahren diskutiert wird, hat sich bislang allerdings keine politische Mehrheit gefunden. Das liberalste der drei verglichenen Länder ist Tschechien. Moralische und sexualethische Vorstellungen der Kirche spielen hier kaum eine Rolle. Es gibt nicht nur wie in Polen eine lebendige Schwulen- und Lesbenszene. Seit 2006 haben gleichgeschlechtliche Paare die Möglichkeit, eine Partnerschaft eintragen zu lassen und so einige Rechte zu erhalten, aber auch Pflichten zu übernehmen, die mit einer heterosexuellen Ehe einhergehen. Während in der russischen Literatur die Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen immer noch zur Skandalisierung eingesetzt wird, ist homoerotische Literatur in Tschechien weitgehend banal geworden. Igor’ Kons Test funktioniert. Für Tschechien zeigt das Lackmuspapier einen neutralen Wert. Im Falle Russlands, wo Homophobie zu einem Mittel der herrschenden Machtelite geworden ist, färbt es sich rot – vor Scham.