Macht statt Recht
Deformation des Verfassungssystems in Ungarn
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Abstract
Seit seinem Wahlsieg im Jahr 2010 baut der Fidesz unter Ministerpräsident Viktor Orbán nicht nur Ungarns politisches System, sondern auch das Verfassungssystem um. Anders als in Verfassungsstaaten üblich, integriert das neue Grundgesetz nicht die ungarischen Bürger über alle politischen, religiösen oder sozialen Differenzen hinweg. Vielmehr polarisiert es und schließt Teile der Bevölkerung aus. Das Grundgesetz verkörpert ein politisches Denken nach der Freund-Feind-Logik. Die mit dem Grundgesetz gebildete Institutionsstruktur ist auf einen Einparteienstaat zugeschnitten. Auch die jüngsten Verfassungsänderungen zeigen: An die Stelle der Herrschaft des Rechts über die Politik ist die Herrschaft der Politik über das Recht getreten. Der Aufbau eines autoritären Regimes ist im Gange. Die Opposition in Ungarn und die europäischen Institutionen sind gefordert.
(Osteuropa 4/2013, S. 2128)
Volltext
Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Systemwechsel steht Ungarn erneut im Mittelpunkt des europäischen Interesses. 1989 nahm das Land mit seinen demokratischen Reformen in Ostmitteleuropa eine Führungsrolle ein: Den anderen Staaten Osteuropas war Ungarn ein Beispiel. Auch die westlichen Länder verfolgten den Ausbau der Verfassungsinstitutionen mit Anerkennung. Heute hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Während die wirtschaftliche und politische Krise die Aufmerksamkeit der Europäischen Union bindet, ist Ungarn Vorreiter bei der Zerstörung des Systems demokratischer Institutionen und dem Aufbau eines populistisch-autoritären Regimes.
Der Zusammenbruch des Konstitutionalismus von 1989
Nach Jürgen Habermas‘ Konzept des Verfassungspatriotismus vermitteln nicht die ethnische und sprachliche Identität oder ein geteiltes historisches Schicksal die Verbundenheit einer politischen Gemeinschaft, sondern die in der Verfassung verankerten Prinzipien und Verfahren. In solchen Gemeinschaften kann jeder erwarten, dass ihn die anderen als freien und gleichberechtigten Menschen respektieren. Verfassungspatriotismus heißt,
dass sich Bürger die Prinzipien der Verfassung nicht allein in ihrem abstrakten Gehalt, sondern aus dem geschichtlichen Kontext ihrer jeweils eigenen nationalen Geschichte in ihrer konkreten Bedeutung zu eigen machen.[1]
Die ungarische Verfassung von 1989 war geeignet, die von Habermas beschriebenen integrativen Funktionen zu erfüllen. In dieser Verfassung waren solche abstrakten Prinzipien enthalten, die von jedermann akzeptiert werden konnten. Ungarn war ein demokratischer Rechtsstaat, die Macht ging vom Volke aus und die Grundrechte wurden vom Staat anerkannt und geschützt. Im Sinne dieser Verfassung waren die Menschen frei und gleichberechtigt. Es war ein sehr modernes institutionelles System vorhanden: parlamentarische Vertretung und Gewaltenteilung, das Verfassungsgericht, Ombudsmänner sowie unabhängige Gerichte. Außerdem spiegelte die Verfassung auch die ungarische Geschichte wider. Sie bezog sich auf die parlamentarischen Traditionen von 1848 und den Systemwechsel. In der Verfassung von 1989 waren also jene Prinzipien und Regelungen enthalten, durch welche die Staatsbürger miteinander verbunden sein konnten. Sie war nicht durch spaltendes weltanschauliches, politisches und historisches Gedankengut belastet.
Der einzige gravierende Fehler der Verfassung von 1989 bestand darin, dass die Überschrift auf ihre kommunistische Vergangenheit verwies. Vergeblich wurden im Jahre 1989 – am 33. Jahrestag der 1956er Revolution und zwei Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer – die wichtigsten Änderungen verabschiedet. Während das Jahr 1949 in der Bundesrepublik Deutschland die Gründung des demokratischen Rechtsstaates verkörpert, bedeutet es in Ungarn das erste Jahr der kommunistischen Diktatur. Aus diesem Grunde wäre es wichtig gewesen, wenn 1989 unter den Parteien eine Einigung darüber zu erzielen, wie man den Systemwechsel hätte anerkennen und symbolisch abschließen können.
Fehlte damals der Verfassungspatriotismus? Die Ursache für die ausgebliebene Einigung ist nicht im juristischen Bereich zu suchen, sondern sie ist gesellschaftlicher und politischer Art. In den vergangenen zwei Jahrzehnten betrachteten sehr viele ungarische Bürger die Verfassung von 1989 nicht als die ihre. Die Vertreter des linken Spektrums erinnerte die Verfassung der Systemwende an die Niederlage des sozialistischen Systems. Ihre Nostalgie für das Kádár-System ließ sich nicht damit vereinbaren, dem demokratischen Rechtsstaat Respekt zu bezeugen. Ein Teil der Rechten dagegen hielt an der Idee des längst nicht mehr bestehenden Großungarn fest. Sie forderten eine nationale Verfassung mit historischen Bezügen auf ethnischer und religiöser Grundlage. Sie konnten nicht akzeptieren, dass sie auf der Grundlage der Verfassung gemeinsam mit jenen eine politische Gemeinschaft bilden sollten, die sie als politische Gegner betrachteten. Nur wenige hatten den Sinn der Grundrechte und der eingeschränkten Macht durch Gewaltenteilung verstanden.
So kam es dazu, dass breite Teile des politischen Spektrums die Verfassung von 1989 ablehnten. Die Gegner von Freiheit und Gleichheit betrachteten sie nicht als ihre, weil die Verfassung Rechte garantierte und Macht beschränkte. Zahlreiche Anhänger von Freiheit und Gleichheit kritisierten die Verfassung, weil in der täglichen Praxis Rechte verletzt wurden und die Machthaber willkürlich handelten. Die Ursache für alle Mängel des demokratischen Ungarn wie etwa schlecht funktionierende Institutionen, Korruption, inkompetente Politiker oder Rechtsextremisten auf der Straße projizierten viele Bürger Ungarns auf die Verfassung. Die öffentliche Meinung betrachtete die Fehler und das Versagen der Politiker als Mängel des Verfassungssystems, obwohl die Fehler gar nicht im System begründet waren.[2]
Freunde und Feinde: der Aufbau eines autoritären Regimes
Im Jahr 2010 stand die Verfassung von 1989 im Mittelpunkt der politischen und rechtlichen Umgestaltungen. Bei den Parlamentswahlen im Frühjahr hatte der Fidesz – Ungarischer Bürgerbund 53 Prozent der Wählerstimmen erlangt. Nach dem Wahlgesetz bescherte dieses Resultat dem Fidesz eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Nach der Verfassung von 1989 war es mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit möglich, die Verfassung zu ändern oder gar eine neue zu verabschieden. Entsprechend begann die Regierungsmehrheit im Parlament sofort mit der Umgestaltung des Verfassungssystems. In den ersten sechs Monaten wurde die Verfassung von 1989 zehn Mal verändert: So wurden etwa die verfassungsrechtliche Bedeutung des Parlaments geschmälert, der Kompetenzbereich des Verfassungsgerichts eingeengt sowie die Garantien der Meinungsfreiheit eingeschränkt.[3]
In der Wahrnehmung des Regierungslagers basieren alle Veränderungen auf einer Revolution. Im Juni 2010 verabschiedete das Parlament eine politische Erklärung, wonach von der ungarischen Nation im Frühjahr „an den Wahlurnen eine nationale Revolution vollbracht worden sei“.[4] Im Juli 2010 erließ dann die Regierung eine Verordnung, nach der alle Organe der Staatsverwaltung diese „revolutionäre Erklärung“ in ihren Amtsgebäuden aushängen müssen.[5]
2011 bekam Ungarn eine neue Verfassung. Das „Grundgesetz Ungarns“ wurde am 25. April – dem Jahrestag der Parlamentswahlen von 2010 – vom Parlament verabschiedet. Das machte den Wahlsieg zu einem Symbol ersten Ranges. Das neue Grundgesetz trat zum 1.1.2012 in Kraft und hat den Charakter des ungarischen Konstitutionalismus stark verändert.
Die Präambel des Grundgesetzes, das den Titel „Nationales Bekenntnis“ trägt, erkennt „die Rolle des Christentums zur Erhaltung der Nation“ an und unterstreicht, dass die Heilige Ungarische Krone „die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns und die Einheit der Nation“ verkörpert.[6] Der Text des Grundgesetzes stellt die katholisch-christliche Staatlichkeit als normatives Programm dar. Säkulare Werte und weltlicher Humanismus werden – anders als in Polen – im Verfassungstext nicht erwähnt. Deshalb steht das neue ungarische Grundgesetz der islamischen Scharia oder der ägyptischen Verfassung – in welcher der staatliche Rechtsquellencharakter der sunnitischen Doktrinen anerkannt wird – näher als der polnischen Verfassung, welche die religiöse und weltanschauliche Gleichberechtigung festlegt.
Die Verfassung von 1989 integrierte alle Mitbürger, weil sie keine polarisierenden Symbole enthielt. Für das neue Grundgesetz gilt das nicht mehr. Von der Betonung historischer und religiöser Symbole und der Hervorhebung des Wahlsieges ist es kein weiter Weg mehr zum Denken in der Schmittschen Freund-Feind-Logik.[7] Anhänger republikanischer Traditionen, Bürger anderer Religionszugehörigkeit sowie die Wähler der Oppositionsparteien sind nicht inkludiert. Feinde sind jetzt nicht mehr die Tataren, Türken oder Russen, sondern jene Ungarn, welche die Aufhebung der Verfassung von 1989 nicht unterstützt haben.
Mit diesem Grundgesetz soll das Land auf der Basis ethnischer und historischer Zugehörigkeit geeint werden, anstatt dies auf verfassungspatriotischem Wege zu tun. Bemerkenswert ist der Wortgebrauch. Das Grundgesetz spricht in Bezug auf die außerhalb der Landesgrenzen lebenden Menschen ungarischer Nationalität von „wir“, von den in Ungarn lebenden Minderheiten jedoch von „sie“!
Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes hat das eine politische Lager den Sieg über das andere politische Lager fixiert. In Ungarn betrachten sich diese politischen Lager nicht als Partner in demokratischen Verfahren. Das neue Grundgesetz ist eine symbolische Verkörperung dieses Denkens. Nun ist das Land endgültig gespalten.[8]
Einen ähnlichen Charakter weisen auch die Veränderungen der Normen im Staatswesen auf. Normalerweise verhindert der demokratische Verfassungsstaat durch Gewaltenteilung und politische Regelungen eine übermäßige Machtkonzentration. Die Verfassung schafft den neutralen juristischen Rahmen für die politische Tätigkeit und gewährleistet den freien und fairen politischen Wettbewerb konkurrierender Parteien. Das neue ungarische Grundgesetz dient dagegen der momentan herrschenden Regierung und schränkt die Arbeit jeder künftigen anderen Regierung und ihrer parlamentarischen Mehrheit ein. Infolge der institutionellen Reformen und personellen Neubesetzungen werden auch nach der nächsten Wahl im Jahre 2014 an der Spitze sämtlicher Verfassungsinstitutionen solche Führungskräfte stehen, die ihre Wahl oder Ernennung der derzeitigen Regierungsmehrheit verdanken, ausschließlich deren Vertrauen genießen und noch lange ihre Positionen innehaben haben. So hob zum Beispiel das Parlament das Mandat des Vorsitzenden des Obersten Gerichts und seines Stellvertreters vorzeitig auf und wählte einen neuen Obersten Richter sowie einen Vorsteher der Gerichtsverwaltung. Das Amt des unabhängigen Ombudsmanns für Datenschutz wurde abgeschafft. Stattdessen beauftragte Ministerpräsident Orbán mit dieser Aufgabe einen Behördenleiter, der sich mit Informationsrechten beschäftigt. In den vergangenen drei Jahren wählte die Parlamentsmehrheit neun neue Verfassungsrichter, ohne bei der Nominierung der Kandidaten und der Wahl mit der Opposition zu kooperieren. Bei der letzten Wahl am 25.3.2013 wurde der Kandidat Imre Juhász mit Unterstützung der Fraktion der rechtsradikalen Partei Jobbik zum Verfassungsrichter gewählt.
In der Verfassung von 1989 war lediglich für die Einschränkung einzelner Grundrechte die parlamentarische Zweidrittelmehrheit erforderlich. Heute dagegen ist nach dem neuen Grundgesetz nicht für die Grundrechte, sondern für Reformen in der Steuer-, Familien- und Bodenpolitik sowie in jenen Gebieten, die Bestandteil des Regierungsprogramms sind, eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Das bedeutet zum Beispiel, dass eine künftige Regierung, wenn sie versuchen wollte, das Steuerrecht zu modifizieren und statt der jetzigen Flat Tax eine progressive Besteuerung zu beschließen, auf ernsthafte verfassungsrechtliche Hindernisse stoßen wird. Die Fidesz-Regierung hat die Struktur des Staates verändert. Das Ziel des Grundgesetzes besteht darin, die Macht der aktuell herrschenden Regierung zu stabilisieren.
Nach den Vorstellungen des Fidesz sollte nach der „Revolution an den Wahlurnen“ das neue Grundgesetz so „hart wie Granit“ sein.[9] Sehr schnell hat sich jedoch erwiesen, dass dies eine falsche Vorstellung war. Bereits Ende 2011 war das Parlament gezwungen, in sogenannte Übergangsbestimmungen des Grundgesetzes zahlreiche Regelungen aufzunehmen, die in Wirklichkeit eine Ergänzung zum Grundgesetz bildeten. Danach wurden vier weitere Verfassungsänderungen verabschiedet. Damit waren innerhalb eines Jahres gegenüber dem ursprünglichen Text des Grundgesetzes nahezu 20 Prozent schon wieder verändert worden.[10] Diese Zahlen lassen erkennen, dass es nicht gelungen ist, das Verfassungssystem zu konsolidieren.
Der größte Teil der Ergänzungen zum Grundgesetz sind Reaktionen auf Entscheidungen des Verfassungsgerichts. Der Kompetenzbereich des Verfassungsgerichts wurde vom Grundgesetz beträchtlich eingeschränkt. Auch die Zusammensetzung dieses Gremiums ist seit den Wahlen 2010 kontinuierlich verändert worden. Trotzdem traf das Gericht einige Entscheidungen, die das Regierungshandeln und einzelne Gesetze verwarfen. So erklärte das Verfassungsgericht, dass das Gesetz zur Kriminalisierung von Obdachlosen deren menschliche Würde verletze, und verwarf es als verfassungswidrig.[11] Darauf nahm das Parlament einen Artikel ins Grundgesetz auf, wonach der Staat und die lokalen Selbstverwaltungsorgane das Leben auf der Straße für kriminell erklären dürfen.[12]
Das Verfassungsgericht hatte entschieden, dass auch kinderlose Paare unterschiedlichen Geschlechts in den Kreis des soziologischen und normativen Familienbegriffs gehören. Auch gleichgeschlechtlichen Partnerschaften stehe verfassungsrechtlicher Schutz zu. Nach dieser Entscheidung wurde vom Parlament im Grundgesetz verankert, dass ausschließlich die Ehe zwischen Mann und Frau sowie die Beziehung von Paaren unterschiedlichen Geschlechts mit Kindern als Familie gelten.[13]
Das Verfassungsgericht verwarf auch jenes neue Gesetz, nach dem im Wesentlichen das Parlament nach eigenem Ermessen frei über die Anerkennung von Glaubensgemeinschaften bestimmen darf. Auch diese Verfügung wurde dann später im Grundgesetz verankert.[14]
Auf eine ähnliche Weise verwarf das Verfassungsgericht die Regelungen zur Einschränkung des Wahlkampfs sowie zur Verletzung der Meinungsfreiheit, welche nun als letzte zu Bestandteilen des Grundgesetzes wurden. Die Logik dieses Vorgehens lautet immer, die Gesetze dadurch der Überprüfbarkeit auf ihre Verfassungsgemäßheit durch das Verfassungsgericht zu entziehen.
Die nun im März 2013 erfolgte vierte Verfassungsänderung besagt, dass die in den zwei Jahrzehnten vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedeten Beschlüsse des Verfassungsgerichts ihre Geltung verlieren. Daraus ergibt sich, dass im Jahr 2013 in Ungarn die Gesetzgebung nicht mehr von den Entscheidungen des Verfassungsgerichts relativiert werden kann, sondern das Verfassungsgericht von den Entscheidungen des Gesetzgebers eingeschränkt wird. Das lässt sich auch anders formulieren: Die Politik wird nicht von der Herrschaft des Rechts eingeschränkt, sondern die Politik herrscht über das Recht.
Über den Rechtsstaat hinaus
Das Grundgesetz ist ein Konglomerat aus demokratischen und offen antidemokratischen Prinzipien und Regelungen. In seiner Gesamtheit entspricht es nicht den inhaltlichen Erwartungen an eine moderne Verfassungsmäßigkeit. Die mit dem Grundgesetz gebildete Institutionsstruktur ist auf eine Einparteienmacht zugeschnitten. Die Erfahrungen der vergangenen zweieinhalb Jahre bestätigen derartige Befürchtungen. Sachlich lässt sich trotzdem nicht behaupten, dass das Grundgesetz dem Land eine Diktatur beschert hat. Die Gefängnisse sind nicht voll mit politischen Gefangenen, und die Parteien der demokratischen Opposition dürfen agieren.
Dennoch stellt sich die Frage, was zu tun ist, um diesen Prozess aufzuhalten, damit Ungarn nicht aus der Gemeinschaft freier und demokratischer Länder ausscheidet.
Friedrich Schiller hat in seinem Wilhelm Tell emphatisch postuliert:
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last – greift e
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,
Und holt herunter seine ew‘gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst –
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.
Möglicherweise stelle ich die ewige Gültigkeit dieser Zeilen nicht in Frage, wenn ich behaupte, dass sich der Status der Menschenrechte verändert hat. Es mag ja sein, dass zur Beseitigung massenhafter und mörderischer Verletzung der Menschenrechte die Waffe das letzte Mittel ist – so wie auch Schiller das Schwert zu Hilfe ruft. Eines ist jedoch sicher: In weniger extremen Situationen gibt es auch andere effektive Methoden. Diese Methoden nennt man demokratische Verfahren wie Wahlen, Meinungsäußerungen und politisches Handeln. Da in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union die demokratischen Verfahren nicht einfach beseitigt werden können, müssen die vorübergehenden Besitzer der Macht von Zeit zu Zeit vor den Richterstuhl der Wähler treten.
In erster Linie hängt es also von den Repräsentanten des öffentlichen Lebens in Ungarn und von den ungarischen Wählern ab, ob 2014 der Demokratie verpflichtete Parteien die Mehrheit im Parlament haben werden. Tatsächlich werden die Befürchtungen immer größer, dass keine freien und fairen Wahlen mehr stattfinden werden. Die Regierungspartei hat sich bereits des Nationalen Wahlausschusses bemächtigt. Die Grenzen der Wahlbezirke wurden willkürlich verändert.[15] Die Meinungsfreiheit im Wahlkampf wurde bereits eingeschränkt.[16] In weniger als drei Jahren hat fast eine halbe Million Ungarn, die in den Nachbarstaaten leben, die ungarische Staatsbürgerschaft und damit auch das Wahlrecht erhalten. Bis zum letzten Augenblick könnte es unsicher bleiben, unter welchen Verfahren und praktischen Garantien die Wahlen durchgeführt werden. Eines ist jedoch sicher: Ministerpräsident Viktor Orbán wird sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten versuchen. Sollte es zu Wahlbetrug kommen und ein illegitimes Parlament seine Arbeit aufnehmen, wäre mit politischem Widerstand und zivilem Ungehorsam zu rechnen.
Seit Schiller haben die Menschenrechte eine andere Bedeutung gewonnen. Und der Ausbau der internationalen Rechtsordnung ist fundamental vorangekommen. Man muss sich nicht wie Schiller auf das Naturrecht berufen. Dessen Existenz erkennen die einen an, die anderen weisen sie zurück. An die Stelle des Naturrechts ist die normative internationale Ordnung getreten. Die beiden Pfeiler dieser Rechtsordnung sind das internationale Recht und das Recht der Europäischen Union. Das bedeutet nicht, dass die Europäische Menschenrechtskonvention, die Charta der Grundrechte der EU und andere internationale Rechtsquellen oder Institutionen die Angelegenheiten eines Landes sofort regeln werden. Aber wer sich heute in Ungarn auf die Menschenrechte beruft, der verweist auf bestehende und funktionierende Konventionen. Zwar ist die EU momentan von einer ernsten wirtschaftlichen und politischen Krise absorbiert. Die desintegrativen Tendenzen sind bedenklich. Deshalb ist es offen, ob und wenn ja welche rechtlichen und politischen Mittel die EU einsetzen möchte und einsetzen kann, um die antidemokratischen Prozesse in Ungarn aufzuhalten. Die EU kann jedoch nicht behaupten, dass sie keine Mittel dazu hat.[17]
Abschied vom Kampfplatz
Eine der Kernfunktionen des modernen Verfassungsstaates und seiner Institutionen besteht darin, Konflikte auf friedlichem Weg zu lösen oder zu regulieren. Im völligen Gegensatz dazu steht, dass Ungarns derzeitige Regierung Politik als einen Kampf zwischen Freund und Feind auffasst und die Institutionen als Kampfplatz betrachtet. Es kann sein, dass es ihr gelingt, sich der Verfassung zu bemächtigen und das Land zu unterwerfen. Jedoch wird sie in ihrem zwiespältigen Kampf immer öfter nicht nur mit den innenpolitischen Gegnern in Ungarn, sondern auch mit den europäischen Institutionen konfrontiert, weshalb sie letztendlich zum Verlierer werden wird.
Lässt sich in Ungarn ein Verfassungspatriotismus aus der eigenen Geschichte ableiten, der auf den Menschenrechten basiert? Obwohl die Aussichten – kurzfristig betrachtet – ziemlich schlecht sind, lautet die Antwort auf lange Frist gesehen: Ja, das ist möglich. Es hängt viel von der Einstellung der westlichen Nachbarstaaten ab. Auch die Europäische Union kann viel dafür tun. Ungarns Schicksal hängt jedoch in erster Linie vom Willen und vom Können der in Ungarn lebenden Menschen ab. Es ist keineswegs zwangsläufig, dass sich die Ungarn mit dem Verlust der erst vor kurzem gewonnenen Freiheit und Rechte abfinden und einen Untertanenstatus akzeptieren, der an das Kádár-System erinnert. Wir sind vom Glück gesegnet, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem wir die Grundlagen des Zusammenlebens nicht nur unter Berufung auf Gott und mit dem Schwert in der Hand bewahren können, sondern auch mit Hilfe von internationalen Institutionen und mit demokratischen Mitteln in Ungarn.
[1] Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung: Über Vernunft und Religion. Freiburg 2005, S. 25. – Zuerst Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI. Frankfurt/Main 1987, S. 173–175. – Jan-Werner Müller: Constitutional Patriotism. Princeton 2007. – Alex Schwartz: Patriotism or Integrity? Constitutional Community in Divided Societies, in: Oxford Journal of Legal Studies, 3/2011, S. 503–526.
[2] János Kis: From the 1989 Constitution to the 2011 Fundamental Law, in: Gábor Attila Tóth (ed.): Constitution for a Disunited Nation. On Hungary’s 2011 Fundamental Law. Budapest, New York 2011, S. 1–23. – Einen Überblick über die politische Entwicklung seit den Wahlen 2010 bietet: Quo vadis, Hungaria? Kritik der ungarischen Vernunft. Berlin 2011 [= Osteuropa, 12/2011].
[3] Oliver W. Lembcke, Christian Boulanger: Between Revolution and Constitution: The Roles of the Hungarian Constitutional Court, in: Tóth (ed.), Constitution [Fn. 2], S. 279–286.
[4] Proklamation des Parlaments 1/2010. (VI 16).
[5] Regierungsbeschluss 1140/2010. (VII. 2).
[6] Gott segne die Ungarn! Nationales Bekenntnis. Präambel des Grundgesetzes Ungarns, deutsch dokumentiert in: Quo vadis, Hungaria? [Fn. 2], S. 29–30.
[7] Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 1961. – Dazu Krisztina Koenen: Feinde, überall Feinde. Die Welt, wie sie Viktor Orbán sieht, in: Quo vadis, Hungaria? [Fn. 2], S. 105–118.
[8] Ellen Bos: Ungarn unter Spannung. Zur Tektonik des politischen Systems, in: Quo vadis, Hungaria? [Fn. 2], S. 39–63. – András Bozóki: Autoritäre Versuchung. Die Krise der ungarischen Demokratie, in: ebd., S. 65–87.
[9] Als Ministerpräsident Viktor Orbán Anfang 2012 das Inkrafttreten der neuen Verfassung feierte, erklärte er, diese bilde die „granitfeste Grundlage“ für die Erneuerung der ungarischen Nation. Ungarns „granitene“ Verfassung wird zum vierten Mal geändert, in: Der Standard, 11.3.2013.
[10] Siehe die vierte Verfassungsänderung, 25.3.2013.
[11] Urteil 38/2012 (14.11.2013).
[12] Artikel 5, die vierte Verfassungsänderung, 25.3.2013.
[13] Urteil 43/2012 (20.12.2012), Artikel 1, die vierte Verfassungsänderung, 25.03.2013.
[14] Urteil 1/2013 (7.1.2013), Artikel 4, die vierte Verfassungsänderung, 25.03.2013.
[15] Alan Renwick: Im Interesse der Macht. Ungarns neues Wahlsystem, in: Osteuropa, 5/2012, S. 3–17.
[16] Artikel 1, vierte Verfassungsänderung, 25.3.2013.
[17] Armin von Bogdandy u.a.: Reverse Solange: Protecting the essence of fundamental rights against EU Member States, in: Common Market Law Review, 2/2012, S. 489–519. – Jan-Werner Müller: Die EU als wehrhafte Demokratie, oder: Warum Brüssel eine Kopenhagen-Kommission braucht, <www.verfassungsblog.de/de/ungarn-was-tun-jan-werner-muller/>.
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