Titelbild Osteuropa 5-6/2013

Aus Osteuropa 5-6/2013

Editorial

Volker Weichsel, Manfred Sapper

(Osteuropa 5-6/2013, S. 5–8)

Volltext

Kontrafaktisches Denken ist unter Historikern verpönt. Was wäre gewesen, wenn alles anders gekommen wäre, als es kam? Was, wenn sich dieser oder jener Mensch in einer entscheidenden Situation anders verhalten hätte? Das führt schnell in das Reich der Spekulation und gilt deshalb als unseriös. Aber fragwürdig ist es auch, die Geschichte nur von ihrem Ende her zu denken. Denn das verstellt den Blick auf die Vielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten, auf die Offenheit und Kontingenz des historischen Prozesses. Mit dem Kommunismus in seiner Epoche verhält es sich auch so. Die Sowjetunion als kommunistische Hauptmacht des 20. Jahrhunderts musste nicht kollabieren. Mit dem Gas und dem Öl sowie der üblichen Dosis an Repressionen hätte sie bis heute existieren können. Vielleicht wäre schon alles anders gekommen, wenn statt eines gewissen Michail S. Gorbačev der ideologische Hardliner Egor Ligačev zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden wäre. Dass der Putsch der konservativen Kräfte vom August 1991 zum Erhalt der Sowjetunion an der Unnachgiebigkeit von Boris El’cin und den Demokraten gescheitert sei, ist ein Mythos. Keineswegs war es selbstverständlich, dass die Volksrepubliken in Ostmitteleuropa 1989 im Dominoeffekt fielen. Es genügt daran zu erinnern, dass am selben Tag, dem 4. Juni 1989, als in Polen halbfreie Wahlen stattfanden, die KP Chinas auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor den Augen der Weltöffentlichkeit Panzer auf Tausende friedliche Demonstranten schießen ließ und ein Blutbad anrichtete. Lange waren auch in Europa den klassenkampfgestählten Kommunisten moralische Skrupel fremd. Warum sie diese nun zeigten und ihren Machtanspruch aufgaben, ist eines der großen Rätsel in der Geschichte des Kommunismus. Denn leider trifft Carl Schmitts vielleicht berühmtester Satz „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ hier zu: Was wäre gewesen, wenn die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig von den kampfbereiten Truppen niedergemetzelt worden wäre? Hätte die Bundeswehr mit der NATO im Rücken eingegriffen? Eines ist sicher: Die historische Pressekonferenz, auf der Günter Schabowski später die Öffnung der Grenze erklären sollte, hätte nicht stattgefunden … Doch es kam, wie es kam. Die Jahre zwischen der Oktoberrevolution 1917 und der Auflösung der Sowjetunion 1991 gerieten zu dem „kurzen 20. Jahrhundert“. Der Kommunismus in Europa ist ein abgeschlossenes Kapitel. Je stärker wir heute, fast ein Vierteljahrhundert nach dieser säkularen Wende, den Kommunismus historisieren – und dabei aufgrund der verbreiteten eurozentrischen Weltsicht nur zu leicht vergessen, dass es noch kommunistische Regimes auf der Welt gibt und in China eine Kommunistische Partei herrscht, die fast so viele Mitglieder hat wie die Bundesrepublik Deutschland Einwohner –, desto rätselhafter erscheinen die Geschichte der kommunistischen Bewegung, die Dynamik ihres Aufstiegs und die weltpolitische Ausstrahlung bis in die 1970er Jahre hinein. Vergessen wir nicht, dass die kommunistischen Herrschaftssysteme einen universalen Anspruch auf Umgestaltung der Weltgesellschaft, der Wirtschaftsordnung und der Staatenwelt hatten. Auf dem Zenit der Ausdehnung des Kommunismus Anfang der 1980er Jahre lebte ein Drittel der Menschheit in politischen Ordnungen kommunistischen Typs. In Europa standen gar zwei Drittel des Territoriums und die Hälfte der Bevölkerung unter kommunistischer Herrschaft. Die Geburt des Kommunismus als politische Ordnung ist vom Krieg nicht zu trennen. Das gilt für die Oktoberrevolution und den Ersten Weltkrieg, das gilt für China am Ausgang des Zweiten Weltkriegs wie auch für die kommunistischen Volksrepubliken in Europa, die auf den Bajonetten der siegreichen Sowjetarmee aufgebaut wurden, und das gilt schließlich auch für die kommunistischen Regimes in Afrika, die aus den Entkolonialisierungskriegen hervorgingen. Natürlich ist die Geschichte des Kommunismus nicht nur eine Geschichte des Kriegs, der Besatzung, des Zwangs und der Gewalt. Sie ist auch eine der säkularisierten Heilserwartung, der Überwindung von Armut und Ausbeutung, Elend und Unterdrückung. Die Verheißung von Gerechtigkeit und Freiheit ließ Millionen Menschen zu glühenden Verfechtern der kommunistischen Idee werden. In der Retrospektive wird es immer schwieriger zu verstehen, woraus die kommunistische Idee in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ihre Attraktivität schöpfte. Sie war so groß, dass die studentische Jugend von Berlin bis Berkeley noch in den späten 1960er Jahren Heldengesänge auf die Schlächter in China oder Kambodscha anstimmte. Woher diese Blindheit für die apokalyptischen Formen der Gewalt und des Terrors stammt, die Geburtsmale der kommunistischen Herrschaft seit der Machtübernahme der Bolschewiki aus dem Geist des Ersten Weltkriegs und des Bürgerkriegs waren, bleibt ein Rätsel. Für Gerd Koenen bleibt das größte Rätsel des Kommunismus etwas anderes: Es ist sein „totalitärer“ Charakter. Kommunistische Herrschaft zielte auf die Gesamtheit aller sozialen Beziehungen. Dazu bediente sie sich der Praktiken des Terrors, der immer auch „autoterroristische“ Züge hatte. Säuberungen, Schauprozesse, Hinrichtungen, Millionen Opfer in den eigenen Reihen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der kommunistischen Regimes. Zum Verständnis dieser Spezifika hat die Totalitarismustheorie wenig beigetragen. Die Antriebskräfte und Formen dieser Besonderheiten zu entschlüsseln, ist eine Aufgabe der historischen Kommunismusforschung. Wir haben gesagt: Der Kommunismus in Europa ist ein abgeschlossenes Kapitel. Doch er wirft lange Schatten. Der Fall Russlands zeigt, dass es zwischen der kommunistischen Sowjetunion und dem autoritären Staat unter Präsident Putin fatale Kontinuitäten gibt. Grundpfeiler der totalitären sowjetischen Herrschaft wie die Geheimdienste, die Armee, die Staatsanwaltschaft und das Gerichtswesen bestehen nahezu unreformiert fort. Die Schulen, die zentralen Medien und die Wehrpflichtarmee reproduzieren Werte und Praktiken der Sowjetunion. Auf Rechtsnihilismus und Gewalt reagieren die Menschen wie in der Vergangenheit: mit Anpassung. Bürokratische Willkür und Repression gelten als unvermeidlich, ja als „normal“. Dies ist die typische Mentalität des Homo Sovieticus, die auch nach dem Untergang der Sowjetunion fortlebt. Die Frage „Was war der Kommunismus?“ gewinnt zur Analyse der autoritären Ordnungen im postsowjetischen Raum eine ungeahnte Aktualität.