Titelbild Osteuropa 7/2013

Aus Osteuropa 7/2013

Editorial

Volker Weichsel, Manfred Sapper

(Osteuropa 7/2013, S. 3–4)

Volltext

Energie ist der Treibstoff der Globalisierung. Dies gilt zunächst in einem ganz banalen Sinn: Ohne Energieträger ist die globale Mobilität von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital nicht möglich. Aber auch umgekehrt gilt: Die ungleiche Verteilung der Energieträger – insbesondere der fossilen – erfordert Kooperation und befördert damit auch Konflikt, kurz: Sie schafft Interdependenz. Konflikt und Kooperation gehören zusammen, sie sind die Pole einer gemeinsamen Achse. Kein Staat entkommt ihnen, Autarkie ist – gerade in Energiefragen – nicht möglich. Das gilt natürlich für Öl und Gas, aber auch für die Atomkraft, die vermeintlich mehr Unabhängigkeit verspricht. Bereits für die Finanzierung und den Bau von AKWs benötigen die meisten Staaten internationale Kreditgeber und Konzerne. Erst recht nicht sind die Risiken auf ein Staatsterritorium zu beschränken. Selbst die erneuerbaren Energien sind kein Ausweg: Die jahreszeitlichen Schwankungen von Sonne und Wind erfordern für eine zuverlässige Energieversorgung grenzüberschreitende Zusammenarbeit. All dies führt dazu, dass – wie Jeronim Perović im vorliegenden Band zeigt – Russland und seine nahen und fernen europäischen Nachbarstaaten nirgends so eng verflochten sind wie im Bereich der Energie. Diese Verflechtung entstand trotz der ideologischen Konkurrenz und ungeachtet der sicherheitspolitischen Bedenken während des Ost-West-Konflikts. Die Kooperation hat das Ende des Systemkonflikts überdauert, und auch die Sorgen wegen einer vermeintlichen oder tatsächlichen Abhängigkeit von Russland konnten ihr wenig anhaben. Doch eine ganz andere Revolution scheint das Potential zu haben, die engen Energiebeziehungen zwischen dem Gas- und Ölexporteur Russland und den west- und ostmitteleuropäischen Abnehmern zu entflechten. Die Rede ist vom Schiefergas-Boom in den USA. Die durch die neue Fördertechnik des Fracking ausgelöste Erdgasschwemme könnte die Energiemärkte global verändern: Werden die USA zum Exporteur von Erdgas – und potentiell auch von Erdöl – und kommt das Fracking auch in anderen Ländern zum Einsatz, so steht in der Energiewelt kein Stein mehr auf dem anderen. Aus kontinentalen Märkten werden globale – nicht zuletzt wegen der Möglichkeit, Erdgas in verflüssigter Form per Schiff zu transportieren. Dies setzt traditionelle Förderländer wie Russland oder die Staaten am Persischen Golf unter Druck: Ihre Abnehmer können sich neuen Anbietern zuwenden. Doch diese Perspektive, die in der Energiedebatte viele elektrisiert, ist alles andere als gewiss. Wie komplex die globalisierte Energiewelt ist, wie viele Faktoren auf den Energiemarkt und die Energiebeziehungen einwirken und wie unsicher jede Prognose ist, demonstriert eindrucksvoll Kirsten Westphal. Wie stark die wechselseitigen Abhängigkeiten sind, zeigen auch die anderen Beiträge dieses Bands. Simon Pirani erklärt, wie die gesunkene Gasnachfrage in der EU Russland dazu brachte, seine Importe aus Zentralasien deutlich zu verringern. Die Folge: Die großen Förderländer Kasachstan und Turkmenistan wenden sich China zu, das aufgrund seiner rasch wachsenden Volkswirtschaft weltweit neue Energielieferanten sucht. Mit welcher Geschwindigkeit der Wandel kommt, wie sehr er die Energiewelt verändern wird und welche geopolitischen Konsequenzen er zeitigt – all dies ist kaum abzusehen. Fest steht: Die Debatte setzt schon heute Europa unter Strom.