Holocaust als Fiktion
Von Andrzej Wajda bis Quentin Tarantino
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Abstract
Eine Darstellung des Holocaust mit den Mitteln der Kunst ist immer wieder für unmöglich erklärt und gleichwohl immer wieder versucht worden. Andrzej Wajdas Film über den polnischen Arzt Janusz Korczak, der im Warschauer Ghetto ein Waisenhaus führte und mit seinen Schützlingen in den Tod ging, verschweigt die Dilemmata seines Helden nicht. Sein versöhnliches Ende und sein ungebrochenes Bekenntnis zu Bildung und Aufklärung führen aber in die Irre. Ein provokanter, historisch inkorrekter Film wie Quentin Tarantinos Inglourious Basterds wird der moralischen Komplexität des Themas eher gerecht als ein konventionelles „Holocaust Cinema“.
(Osteuropa 11-12/2014, S. 103114)
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Wer den Holocaust betrachtet, ist zwangsläufig mit dem Undenkbaren konfrontiert. Kann man das Undenkbare denken? Ja, man muss es. Der Titel dieses Aufsatzes ist nicht als Behauptung zu verstehen (an den historischen Ereignissen ist selbstverständlich nichts fiktiv oder fiktional), sondern als bewusst provokativ formulierte Frage: Lässt sich der Holocaust mit den Mitteln der Kunst darstellen? Kann man ihn romantisieren, wie der große polnische Regisseur Andrzej Wajda es in seinem Film Korczak tut? Kann man ihn fiktionalisieren, wie der unkonventionelle amerikanische Filmemacher Quentin Tarantino in seiner düster-brutalen Komödie Inglourious Basterds?
Wo Wittgensteins vielzitierter Satz – „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“[1] – nicht weiterhilft, erzählt man Geschichten: unter anderem auch Filmgeschichten. Umgekehrt bieten Geschichten im weiteren Sinn – literarische, dramatische, filmische Werke – oft einen Schlüssel zu fundamentalen Problemen der Politik, Geschichte und Moral.[2]
Der bereits 1990 entstandene Film Korczak ist ein Porträt eines der großen Helden des Warschauer Ghettos: Dr. Janusz Korczak war ein polnisch-jüdischer Arzt und Erzieher, der etwa 200 jüdische Waisenkinder vor der Verfolgung durch die Nazis zu schützen versuchte. Wajda ist mit diesem Film ein tiefgründiges Werk gelungen, das verschiedene Interpretationen zulässt. Besonders interessant, aber auch besonders umstritten und beunruhigend ist seine Darstellung der moralischen Dilemmata, vor denen Korczak stand – mit allem, was sich für die Möglichkeit einer Erlösung angesichts des radikal Bösen daraus ergibt.
Um diese Aspekte deutlich zu machen, bietet es sich an, Wajdas Korczak mit zwei anderen, etwas neueren filmischen Annäherungen an das Thema zu vergleichen: zum einen mit Quentin Tarantinos 2009 gedrehtem Inglourious Basterds, zum anderen mit Stephen Daldrys ein Jahr zuvor entstandenem Der Vorleser, der auf dem gleichnamigen Roman von Bernhard Schlink basiert.
Holocaust als Stoff
Das Problem der künstlerischen Darstellung des Holocaust ist nicht neu. Als Theodor Adorno Anfang der 1950er Jahre jeden Versuch, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben“ als „barbarisch“ qualifizierte,[3] konnte er sich wohl kaum vorstellen, dass eines Tages tatsächlich ästhetisch ansprechende Filme über dieses Thema gedreht würden – und zugleich war es vielleicht genau das, was er fürchtete. Adornos Auffassung nach konnte keine Form der künstlerischen Darstellung je dem Grauen des Holocaust gerecht werden:
Durchs ästhetische Stilisationsprinzip [. . .] erscheint das unausdenkliche Schicksal doch, als hätte es irgendeinen Sinn gehabt; es wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen; damit allein schon widerfährt den Opfern Unrecht [. . .][4]
Adorno ging es in diesem Zusammenhang offensichtlich nicht nur um Fragen des ästhetischen Geschmacks. Er war überzeugt, dass die westliche Zivilisation und die Aufklärung mit zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen hatten.
Sein Urteil ist von einer ganzen Reihe von Holocaust-Überlebenden aufgegriffen worden. Elie Wiesel etwa erklärte kategorisch, ein „Roman über Treblinka ist entweder kein Roman, oder er handelt nicht von Treblinka“.[5] Ähnlich äußerte sich auch der Dokumentarfilmer Claude Lanzmann:
Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, dass er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Gräuel nicht übertragbar ist. Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig.[6]
Doch wenn keine Darstellung des Holocaust zulässig ist, wie sollen wir uns dann daran erinnern? Wie sollen wir die Erinnerung daran weitergeben? Denn erinnern und die Erinnerung weitergeben müssen wir.
Dieses Dilemma war Adorno durchaus bewusst. In einem späteren Kommentar hat er sein berühmtes Diktum denn auch zum Teil revidiert:
Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen, darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben.[7]
Primo Levi versus Jean Améry
Falls es eines Beweises bedurfte, um Adornos rhetorischen Bannfluch zu entkräften, so hat Primo Levi ihn mit seinem Buch Ist das ein Mensch? vorgelegt. Er war durch die Hölle von Auschwitz gegangen und hatte dennoch die Kraft gefunden, seine Erinnerungen in einem Buch von bestechender Klarheit festzuhalten. Sein Werk ist im höchsten Maß ermutigend. Levi hat mit seinen Schriften unseren Glauben an das Gute im Menschen wiederhergestellt und die Grundannahmen der Aufklärung rehabilitiert.
Der australische Politikwissenschaftler Robert Manne unterscheidet zwei kontrapunktische Themenstränge in Ist das ein Mensch?:
Auf einer Ebene zeigt Levis Buch, wie unter den unerträglichen Bedingungen der Nazi-Todeslager in Polen Menschen zu Tieren gemacht wurden. Es legt dar, dass wer immer sich an diese grausame Welt nicht anpassen konnte, zu einem baldigen geistigen und physischen Tod verurteilt war; wer sich dagegen anpassen konnte, musste nicht nur unvorstellbare Leiden ertragen, sondern auch einen furchtbaren moralischen Preis zahlen; letztendlich hätten die Deutschen ihr teuflisches Ziel also erreicht: „die Zerstörung des Menschen“. Gleichzeitig aber zieht sich durch das ganze Buch ein Kontrapunkt, eine gegenläufige Unterströmung, die uns zeigt, dass all dies zwar allgemein wahr ist, aber nichts davon ist ohne Einschränkung wahr.[8]
Eines der bewegendsten Zeugnisse für Levis Verlangen, am Guten im Menschen festzuhalten, ist seine Unterhaltung mit einem Mitgefangenen namens Jean, genannt Pikkolo, mit dem er die Schönheit von Dantes Versen zu teilen versucht. Der Zweck dieser Unterhaltung ist so prosaisch wie merkwürdig: mit Hilfe von Dante bringt Levi seinem Freund Italienisch bei. Doch indem er die Verse rezitiert, wird klar, dass die Dichtung Levi eine Gnadenfrist gewährt:
Jetzt merk auf, Pikkolo, öffne die Ohren und den Verstand, es kommt mir so darauf an, dass du begreifst:
Bedenket, welchem Samen ihr entsprossen:Man schuf euch nicht, zu leben wie die Tiere,
Nach Tugend und nach Wissen sollt ihr trachten.
[. . .]
Als hörte ich das selbst zum ersten Mal: wie ein Posaunenstoß, wie Gottes Stimme. Einen Augenblick lang vergesse ich, wer ich bin und wo ich mich befinde.[9]
Im Anschluss versucht Levi, sich weitere wichtige Stellen ins Gedächtnis zu rufen, er würde seine „Suppe von heute“ darum geben, sich vollständig erinnern zu können.[10] Einen überzeugenderen Beweis für den Wert der Dichtung, ja den Wert der Künste und Geisteswissenschaften im Allgemeinen hat es wohl nie gegeben – zumal Auschwitz, so der australische Moralphilosoph Raimond Gaita, beileibe „kein Elfenbeinturm [war] und Levi kein verwöhnter Intellektueller“.[11]
Andrzej Wajdas Korczak-Film stützt Primo Levis Überzeugung: Trotz des Abgrunds, den der Aufstieg des deutschen Nationalsozialismus darstellt, sollen und dürfen wir das Vertrauen in die verwandelnde Kraft der Bildung nicht verlieren.
Tarantinos Inglourious Basterds sagt genau das Gegenteil: Wir sollen, wir müssen aufhören, an die Aufklärung zu glauben. Man kann darin einen Widerhall der Gedanken eines anderen Auschwitz-Überlebenden sehen: Jean Améry, dessen Buch Jenseits von Schuld und Sühne den Holocaust mit unaussprechlicher Wut beschreibt. Für den österreichisch-jüdischen Widerstandskämpfer Améry entzieht sich dieses Ereignis jeder Erklärung (oder „Abklärung“), denn eine solche wäre „Erledigung, Abmachung von Tatbeständen, die man zu den geschichtlichen Akten legen kann“.[12] Eben dagegen schrieb Améry an. „Nichts ist ja aufgelöst, kein Konflikt ist beigelegt, kein Erinnern zur bloßen Erinnerung geworden“, notierte er gut dreißig Jahre nach Kriegsende.[13]
Korczak und das moralische Dilemma
Janusz Korczak war vom Wert des Lernens überzeugt. Wajdas Film zeigt den großen Pädagogen als praktisch denkenden Mann, der alles unternahm, um „seine“ Kinder vor der Barbarei der Nazis zu schützen. Gleichwohl konnte er trotz seiner heroischen Anstrengungen nicht genug tun. Dass es ihm gelang, unter den unmenschlichen Bedingungen des Warschauer Ghettos ein wohlgeordnetes Waisenhaus zu führen, mutet wie ein Wunder an, doch am Ende war er machtlos gegen die Tötungsmaschine der Nazis. Sein Waisenhaus wurde aufgelöst und dessen Bewohner an einen Ort ohne Wiederkehr gebracht: Sie wurden in Treblinka ermordet.
Wajda zeigt seinen Protagonisten als prominente Figur mit zahlreichen Bewunderern, die ihm Hilfe bei der Flucht anboten. Korczak aber lehnte ab und zog stattdessen den sicheren Tod an der Seite „seiner“ Kinder vor. Dieser Mut und diese Hingabe machten ihn zu einer Art Heiligen in den Augen sowohl der Juden als auch der Polen.
Robert Manne hat die Botschaft von Wajdas Film so zusammengefasst: „Das Böse lässt sich nur vor dem Hintergrund einer Darstellung des Guten im Menschen verstehen.“[14] Das mag an sich richtig sein, ob es aber den Kern von Korczaks verfilmter Geschichte betrifft, ist fraglich.
Zweifellos war Korczaks Verhalten eines Heiligen würdig. Gleichgültigkeit und Niedertracht machten ihn wütend, doch er schien unfähig zu hassen und begegnete selbst seinen Feinden mit Empathie. Korczaks persönliche Gedanken sind uns dank seines Ghetto-Tagebuchs bekannt, das auch Agnieszka Hollands sorgfältig recherchiertem Drehbuch zugrundeliegt. Besonders deutlich wird Korczaks humanistisches Ethos anhand seines letzten Eintrags vom 4. August 1942, der auch im Film zu einer eindrucksvollen Szene wurde: Während er die Blumen vor einem der Fenster des Waisenhauses gießt, beobachtet er einen deutschen Soldaten und stellt Überlegungen über dessen Schicksal an, deren ruhige Abgeklärtheit nichts von seiner eigenen heiklen Lage verrät:
Ich gieße die Blumen. Meine Glatze im Fenster – ein gutes Ziel?
Er hat einen Karabiner. Warum steht er da und sieht ruhig her?
Er hat keinen Befehl.
Und vielleicht war er als Zivilist Dorfschullehrer, vielleicht Notar, Straßenfeger in Leipzig, Kellner in Köln?
Was würde er tun, wenn ich ihm zunickte? Freundschaftlich mit der Hand grüßen?
Vielleicht weiß er gar nicht, dass es so ist, wie es ist?
Er kann erst gestern von weither gekommen sein . . .[15]
In diesen Zeilen wird jene geistige Großmut sichtbar, die auch Levis Berichte über Auschwitz kennzeichnet und von der Amérys Essays so weit entfernt sind. Die zentrale Lehre aus Korczaks Geschichte scheint jedoch eine andere, weniger erbauliche zu sein. Wajdas Film schließt mit einer Art Happy End. Wir erfahren zwar, dass faktisch alle Kinder aus dem Waisenhaus umgekommen sind, aber wir dürfen uns wohlfühlen bei dem Gedanken an Korczak, der sich entschloss, sein Leben für sie zu opfern. Unser moralisches Universum ist wiederhergestellt. Doch ist das die wahre Geschichte des Holocaust? Moralisches Universum intakt?
Ich möchte an dieser Stelle eine häretische Frage stellen: Hat Korczak sich richtig verhalten? War seine Entscheidung, mitten im Warschauer Ghetto bis zu dessen Zerstörung ein wohlgeordnetes Waisenhaus zu unterhalten, moralisch gerechtfertigt? So ehrenhaft, ja heroisch es erscheint, dass Korczak bei seinen Kindern blieb und sie so bis zum bitteren Ende trösten konnte, so fraglich bleibt es, ob dies wirklich der richtige Weg war. Wovon Wajdas Film tatsächlich handelt – vielleicht, ohne es zu wollen –, sind die unmöglichen moralischen Entscheidungen, vor denen jeder stand, der sich in irgendeiner Weise in der Tötungsmaschinerie der Nazis verfing. Die so verstörende wie unausweichliche Frage lautet deshalb: Wurde Korczak faktisch zu einem Komplizen der Naziverbrechen?
Für Hannah Arendt war das Naziregime jener Abgrund, dessen Anblick wir in der heutigen Welt nicht ausweichen können, weil dieses Regime in einem hochzivilisierten und technologisch höchst entwickelten Land entstand und all seine Macht und organisatorische Effizienz einsetzte, um das entsetzlichste Verbrechen der europäischen Geschichte zu begehen. Juden machten einen beträchtlichen Teil dieser zivilisierten Nation aus. Doch der Aspekt, der Arendt besonders irritierte, war das Ausmaß, in dem es den Nazis gelang, bereits bestehende jüdische Organisationsstrukturen einzubeziehen. Wo immer Juden lebten, schreibt sie,
gab es anerkannte jüdische Führer, und diese Führerschaft hat fast ohne Ausnahme auf die eine oder andere Weise, aus dem einen oder anderen Grund mit den Nazis zusammengearbeitet. Wäre das jüdische Volk wirklich unorganisiert und führerlos gewesen, so hätte die „Endlösung“ ein furchbares Chaos und ein unerhörtes Elend bedeutet, aber [. . .] die Gesamtzahl der Opfer hätte schwerlich die Zahl von viereinhalb bis sechs Millionen Menschen erreicht.[16]
Arendt schreibt hier über die sogenannten Judenräte, die an vielen Orten Listen der zum Transport bestimmten Juden zusammenstellten. Es ist klar, dass man Korczak nicht mit ihnen vergleichen kann. Dennoch bleibt die Tatsache, dass auch die innere Ordnung, die Korczak in seinem Waisenhaus aufrechterhielt, den Transport in die Gaskammern erleichterte.
Wajdas Film zeigt, dass es unter den Bewohnern des Warschauer Ghettos ein wachsendes Bewusstsein von den mörderischen Absichten des Naziregimes gab. In einer Szene spricht Korczak mit seinen Kollegen über die sich zuspitzende Lage. Das Gespräch streift auch die Möglichkeit, das Waisenhaus aufzulösen, was Korczak aber ablehnt. Damit besiegelt er wider Willen das Schicksal aller „seiner“ Kinder. Hätte er ihnen stattdessen gesagt, sie sollten um ihr Leben rennen, dann hätten womöglich zumindest einige von ihnen überlebt – wie gut sie sich auf der Straße zurechtfanden, zeigen die Szenen, in denen sie Waren über die Ghettogrenzen schmuggeln. Gewiss hätte er sie auf diese Weise nicht alle schützen können, aber das konnte er am Ende ohnehin nicht. Letzten Endes lieferte er sie (und sich selbst) ihren Henkern aus. Dass er dies auf eine würdige Weise tat, ändert an dieser Tatsache nichts. In den Gaskammern von Treblinka gab es keine Würde. Tzvetan Todorov hält Korczak für
bewundernswert, aber nicht frei von Fehlern. Sein Tagebuch (und der Film) zeigt, dass er sich Allmachtsphantasien hingab und dass diese ihn daran hinderten, die Schwere der Lage rechtzeitig zu erkennen. Er verschließt seine Augen vor dem Grauen, damit das Leben weitergehen kann wie bisher. Natürlich konnte niemand die Monstrosität der Ausrottung vorhersehen, doch manche Menschen blieben realistischer in ihrem Urteil und handelten entsprechend. Mütter sind nicht zwangsläufig die luzidesten Menschen. Korczak fand keinen Weg, Widerstand gegen das Böse zu leisten, er ließ sich fügsam in das Schlachthaus namens Treblinka bringen.[17]
Unabschließbarkeit oder erbauliche Botschaft
Andrzej Wajda weiß all dies natürlich, und vielleicht hat er uns gerade deshalb die finalen Bilder der Zerstörung erspart. Was wir stattdessen sehen, sind jene Bilder, die Korczak berühmt gemacht haben: seinen letzten Weg, zusammen mit den Kindern, zum Umschlagplatz. Doch danach geschieht etwas Unerwartetes. Der Zug fährt ab, nach einer Weile wird einer der Waggons abgekoppelt und bleibt stehen, die Tür geht auf und die Kinder laufen mit Korczak in die wunderschöne Landschaft hinaus. Um den traumartigen Eindruck zu verstärken, ist die Szene in Zeitlupe zu sehen. Die Leinwand wird immer heller, das Bild der glücklichen, rennenden Kinder wird ausgeblendet, und es erscheint ein Schriftzug, der dieses Bild negiert: „Im September 1942 starb Dr. Korczak gemeinsam mit seinen Kindern in den Gaskammern von Treblinka.“
Mit anderen Worten: Wajda drückt sich. In Frankreich hat man ihm das übel genommen, er wurde sogar des Antisemitismus bezichtigt. Claude Lanzmann charakterisierte den Film als „böse“.[18] Woran eine ganze Reihe von französischen Kritikern Anstoß nahm, war Wajdas Versuch, Korczak eher als Polen – sprich, als Christ – zu zeichnen denn als Juden, weil das, was in Missachtung der Realität in der Schlussszene des Films zu sehen ist, sich als Himmel interpretieren lässt. [19]
Doch das ist nicht das einzig Problematische an diesem Bild. Die Antisemitismus-Vorwürfe gegen Wajda gehen an der Sache vorbei. Die Schwierigkeit, vor der er stand, ist eine, die jeder Filmemacher kennt, der versucht, den Holocaust darzustellen. Jeder Film braucht einen Abschluss. Er muss nicht zwangsläufig glücklich enden, aber enden muss er irgendwie. Der Holocaust und unsere Versuche, ihn zu verstehen, entziehen sich diesem Verständnis jedoch. Dasselbe Problem haben auch andere, sehr erfolgreiche Filme, etwa Spielbergs Schindler’s List oder Der Vorleser: Beide enden in gewisser Weise glücklich. Ähnlich wie in Korczak steht am Schluss eine ermutigende Botschaft, die unser moralisches Universum, so tragisch die vorangegangenen Ereignisse auch gewesen sein mögen, wiederherstellt. Der ungarische Autor Imre Kertész, auch er ein Holocaust-Überlebender, war deshalb entsetzt über Schindler’s List: Kitsch, befand er.
Für Kitsch halte ich auch jede Darstellung, die unfähig – oder nicht willens – ist zu verstehen, welcher organische Zusammenhang zwischen unserer in der Zivilisation wie im Privaten deformierten Lebensweise und der Möglichkeit des Holocaust besteht [. . .][20]
Was bedeutet dieses Verdikt für einen romantischen Film wie Der Vorleser? [21] Sowohl das zugrundeliegende Buch, Bernhard Schlinks gleichnamiger Bestseller, als auch der Film sind typische Beispiele für das, was man in Deutschland „Bildungsroman“ nennt: eine Geschichte, deren Hauptfigur gezwungen ist, erwachsen zu werden und sich moralisch zu entwickeln. Der Vorleser handelt von Liebe und Ignoranz, aber auch von moralischer Vorstellungskraft und der rettenden Macht der Literatur (bzw. eigentlich: der Fähigkeit, sie zu lesen). Vor uns entfaltet sich eine fesselnde Liebesgeschichte zwischen einem sehr jungen Mann, Michael Berg, und einer schönen, reifen Frau, Hanna Schmitz. Wir sehen die sechsunddreißigjährige Hanna mit Michaels bewundernden Augen, und mit ihm, dem Fünfzehnjährigen, verlieben wir uns in sie. Bis wir entdecken, dass wir sie eigentlich hassen müssten, weil sie als SS-Wache unmittelbar verantwortlich war für Grausamkeiten gegen Juden. Dennoch möchten wir sie sympathisch finden, zumal im Film, wo sie von Kate Winslet gespielt wird. Und damit nicht genug, wir sind sogar geneigt, ihr zu vergeben, weil sie zutiefst unwissend ist: Sie ist eine Analphabetin.
Indirekt ist auch dieser Film ein vehementes Plädoyer für Bildung. Hanna hat getan, was sie getan hat – sie ist zur SS gegangen und hat entsetzliche Verbrechen begangen –, weil sie nicht lesen und schreiben konnte. Sie war nicht in der Lage, das zu entwickeln, was Hannah Arendt mit Kant als „erweiterte Denkungsart“ bezeichnet:[22] die Fähigkeit, aus verschiedenen Perspektiven über die Belange von Menschen nachzudenken. Das erweiterte Denken versetzt uns in die Lage, das zu denken, was andere denken und fühlen könnten; was erweitert wird, ist unsere moralische Vorstellungskraft – eben jene Vorstellungkraft, die SS-Offizieren wie der fiktiven Hauptfigur des Vorlesers fehlte. In dem Maß, in dem Hanna sich mit der Hilfe ihres hingebungsvollen Geliebten die Welt der Literatur erschließt, entwickelt sie diese Vorstellungskraft und erkennt so das Böse an ihrem Handeln in der Vergangenheit. Im Buch ist dies sogar noch expliziter als im Film. Im Roman, so die australische Historikerin Inga Clendinnen, bahnt das Lesen ihr einen Ausweg
aus ihrer neurotischen, unnatürlichen Isolation, hin zur zielgerichteten Lektüre von Texten über Holocaust und Nationalsozialismus. Sie weiß, welche Taten sie begangen hat. Sie bekennt sich dazu und erkennt an, dass diese Taten Verbrechen waren. Das Lesen hat sie zum Verständnis geführt: zu einem informierten Bewusstsein für die Beschaffenheit und die Ursachen des Systems, in dem sie eine willige Funktionärin war. Schlinks Annahme ist, dass Lesen die Vergangenheit moralisch neu ordnen kann – auch die eigene.[23]
Im Ergebnis befriedigt das glückliche Ende des Vorlesers – sowohl des Buchs als auch des Films – nicht nur unseren Sinn für Gerechtigkeit (Hanna wird zu einer langen Haftstrafe verurteilt), es stärkt auch unser Vertrauen in die Macht der Bildung.
Doch diese Vorstellung führt in die Irre. Beide Filme, der Vorleser wie Korczak, verkörpern den Glauben der Aufklärung, dass Bildung Menschen besser macht und einen Weg zur moralischen Vervollkommnung der Welt darstellt. Die tragische Lehre aus dem Aufstieg des Nationalsozialismus ist jedoch, dass wir an dieser Annahme zweifeln müssen. Den Nazis mangelte es nicht an Bildung. Joseph Goebbels war promovierter Germanist; allgemein waren deutsche Akademiker in den Reihen der NSDAP und unter deren Unterstützern deutlich überrepräsentiert. Einige der herausragendsten deutschen Philosophen (Martin Heidegger), Juristen (Carl Schmitt) und Schriftsteller (Gottfried Benn) wurden leidenschaftliche Anhänger der nationalsozialistischen Revolution in Deutschland und Europa.
Inglourious Basterds: Das Ende des Bildungsoptimismus?
Damit sind wir bei Quentin Tarantino und seinem respektlosen Inglourious Basterds. Die Hauptfigur unter den Nazis in diesem Film, der „Judenjäger“ Oberst Hans Landa, ist ein höchst kultivierter, charismatischer Mann. Er spricht fließend Englisch, Französisch und Italienisch, und seine Ausdruckweise im Deutschen ist auf der Höhe eines Thomas Mann. Dagegen spricht der zentrale positive Held des Films, der charmante Rowdy und Leiter einer „Spezialeinheit“ von acht jüdischen amerikanischen Soldaten Leutnant Arnold Rain – unvergesslich gespielt von Brad Pitt – nicht einmal fehlerfrei Englisch. Doch sein schlichtes Gemüt hindert ihn nicht, moralisch die richtigen Entscheidungen zu treffen. Irritierend ist allenfalls sein Vergnügen an Gewalt.
Tarantinos Film ist unverhohlen und vollständig fiktiv. Er beginnt wie ein Märchen: „Es war einmal im von Nazis besetzten Frankreich . . .“ Die Story basiert auf der bizarren Idee, dass eine kleine Gruppe jüdisch-amerikanischer Schlägertypen deutsche Soldaten im gesamten von den Nazis besetzten Europa in Angst und Schrecken versetzt und es schließlich schafft, Deutschland zu besiegen, indem sie bei einer Filmpremiere in Paris die gesamte Führungselite tötet. Das ist keine revisionistische, sondern schlicht verrückte Geschichte. Tarantino kehrt die historische Realität von nationalsozialistischer Aggression und jüdischem Opferstatus glatt um. Sein Film ist ein brillantes Beispiel für das, was Matthew Boswell als Holocaust-Pietätlosigkeit bezeichnet hat;[24] er ist streckenweise sogar sehr komisch. Schockierend ist dagegen seine drastische Darstellung von Gewalt. (Man fühlt sich an Hannah Arendts Beobachtung in Eichmann in Jerusalem erinnert, wonach „das Grauenhafte nicht nur lächerlich, sondern ausgesprochen komisch sein kann“.[25])
So befriedigend es zunächst sein mag, die Nazis als Opfer der gerechten Rache zu sehen, die die „inglorious Basterds“ an ihnen üben, so unbehaglicher wird dem aufmerksamen Betrachter, als sich die Gewalt auf der Leinwand immer mehr steigert. Tarantino wird zwar allgemein ein Faible für unmotivierte Gewalt in seinen Filmen nachgesagt, aber hier haben wir es mit etwas anderem zu tun: Indem er unsere Reaktion auf seine Gewaltdarstellung neben den Genuss der Nazis an den Gewaltexzessen in ihrem Propagandafilm stellt, zwingt er uns, unsere eigene Faszination für Gewalt zu reflektieren.
In jedem Fall ist der „Abschluss“, den Tarantino uns vorsetzt, nicht nur frei erfunden, sondern auch zutiefst verstörend. Er lässt uns an unseren moralischen Einsichten und unseren Ideen von Aufklärung und Fortschritt zweifeln. Von einer positiven Kraft der Bildung bleibt in seiner auf den Kopf gestellten Version der Geschichte wenig übrig. Näher ist dieser ungebärdige filmische Ruf zu den Waffen wohl an Jean Amérys Sicht auf den Holocaust, die im Gegensatz zu Primo Levis Botschaft der Hoffnung ausgesprochen düster war: „Dass wir in Auschwitz [. . .] nicht besser, nicht menschlicher, nicht menschenfreundlicher und sittlich reifer wurden, versteht sich, glaube ich, am Rande“,[26] schreibt er, und zeigt sich unversöhnlich:
Ich rebelliere: gegen meine Vergangenheit, gegen die Geschichte, gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren lässt und es damit auf empörende Weise verfälscht.[27]
Janusz Korczak war ohne Zweifel ein bewundernswerter Mensch, und auch Wajdas Darstellung seines außergewöhnlichen Lebens verdient Bewunderung. Vor Korczaks Mut, Großzügigkeit und selbstloser Liebe kann man sich nur verneigen.
Doch gerade aufgrund seiner tiefen Anständigkeit hat er möglicherweise nicht immer im besten Interesse „seiner“ Kinder gehandelt. Die tragische Geschichte des Holocaust ist, dass die Nazis seine positiven Eigenschaften für ihre zerstörerischen Ziele nutzen konnten.
Das ist bedrückend, aber wahr. Ein „Holocaust Cinema“, das die Zuschauer zu trösten vermag, führt in die Irre. Weil Tarantino den gerechten Zorn der Opfer filmisch zum Ausdruck brachte, kommt seine offen als solche erkennbare Fiktion der moralischen Komplexität des Holocaust näher, als dessen scheinbar realistische Darstellung es oft kann. Tarantinos Rebellion „gegen die Geschichte“ wird dem Thema insofern eher gerecht als alle konventionellen Filme, die es behandeln, einschließlich Wajdas Korczak. Doch die Wirkung von Tarantinos filmischer Ironie kann sich nur dann entfalten, wenn man sich der realen historischen Ereignisse bewusst ist. Dieses Bewusstsein kommt nach wie vor nicht ohne die Schriften von Zeitzeugen wie Améry, Korczak und Levi aus.
· Stefan Auer (1964), Dr. phil., Leiter der European Studies an der University of Hong Kong und Inhaber des Jean Monnet-Lehrstuhls für Interdisziplinäre EU-Studien, La Trobe University, Melbourne. – Der vorliegende Aufsatz erschien in einer älteren Fassung in: Gwenda Tavan (Hg.): State of the Nation: Essays for Robert Manne. Melbourne 2013.
Von Stefan Auer ist zuletzt in Osteuropa erschienen: Das Schicksal des Sisyphos. Václav Havels Vermächtnis, in: OE, 1/2012, S. 17–24. – Die EU und die Geburt des freien Europa, in: OE, 8/2010, S. 3–23. – Wer hat Angst vor Osteuropa? Nationalismus und EU-Integration nach 1989, in: OE, 2–3/2009, S. 311–332.
[1] Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt/Main 1963, S. 111.
[2] Zur Bedeutung dieses Ansatzes für die Wissenschaft siehe Robert Manne: On the University Experience – Then and Now, in: The Monthly. Australian Politics, Society and Culture, Oktober 2012, <www.themonthly.com.au/blog/robertmanne/2012/10/22/1350861734/university-experience-then-and-now>.
[3] Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften, Band 10.1. Frankfurt/Main 1951, S. 11–30, hier S. 30.
[4] Ders.: Engagement, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Frankfurt/Main 1974, S. 423f.
[5] Elie Wiesel: The Holocaust as Literary Inspiration, in: Elie Wiesel, L. Dawidowicz u.a. (Hg.): Dimensions of the Holocaust. Evanston 1990, S. 3–23, hier S. 7.
[6] Claude Lanzmann: Ihr sollt nicht weinen. Einspruch gegen Schindlers Liste, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.3.1994. – Siehe auch Claude Lanzmann: From Holocaust to „Holocaust“, in: Dissent, 2/1981, S. 188–194.
[7] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/Main 1973, S. 355.
[8] Robert Manne: Making Trouble: Essay against the New Australian Complacency. Melbourne 2011, S. 421.
[9] Primo Levi: Ist das ein Mensch? München 1992, S. 109f.
[10] Ebd., S. 111.
[11] Raimond Gaita: Love in Teaching and Nursing, in: Quadrant, 9/1997, S. 31–33, hier S. 31. – Raimond Gaita: Truth and the University. Why Universities Matter: A Conversation about Values, Means and Directions. Crows Nest 2000, S. 26–48.
[12] Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977, S. 14.
[13] Ebd.
[14] Ähnlich argumentiert auch Raimond Gaita: A Common Humanity: Thinking about Love and Truth and Justice. London 2002, S. 152: „Nur im Licht des Guten kann man das Böse wirklich klar verstehen.“
[15] Janusz Korczak: Sämtliche Werke, Bd. 15. Gütersloh 2005, S. 377.
[16] Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 81998, S. 219.
[17] Tzvetan Todorov: The Wajda Problem, in: Salmagundi, 92/1991, S. 29–35, hier S. 31.
[18] Zitiert nach J. Orr, E. Ostrowska: The Cinema of Andrzej Wajda: The Art of Irony and Defiance. London 2003, S. 88.
[19] E. Mazierska: Non-Jewish Jews, Good Poles and Historical Truth in the Films of Andrzej Wajda, in: Historical Journal of Film, Radio and Television, 2/2000, S. 213–226.
[20] Imre Kertész: Wem gehört Auschwitz? In: Die Zeit, 19.11.1998.
[21] Bernhard Schlink: Der Vorleser. Zürich 1997.
[22] Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. München 1982, S. 26.
[23] Inga Clendinnen: Drawing the fangs of history, in: The Australian, 4.3.2009.
[24] Siehe den gleichnamigen Band: Matthew Boswell: Holocaust Impiety in Literature, Popular Music and Film. Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2011.
[25] Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil. London 1977, S. 48. In der deutschen Fassung lautet dieser Satz etwas anders: „In Eichmanns Mund wirkt das Grauenhafte oft nicht einmal mehr makaber, sondern ausgesprochen komisch.“ Arendt, Eichmann in Jerusalem [Fn. 16], S. 124.
[26] Améry, Jenseits von Schuld und Sühne [Fn. 12], S. 48.
[27] Ebd., S. 14.
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