Titelbild Osteuropa Edition Osteuropa 1/2014

Aus Edition Osteuropa 1

Editorial
Boris Dubin zum Gedenken

Manfred Sapper, Volker Weichsel, Olga Radetzkaja

(Edition Osteuropa 1, S. 3–4)

Volltext

Boris Dubin (1946–2014) war ein Phänomen. Seine Vielseitigkeit, Belesenheit und Produktivität suchten ihresgleichen. Er war in der Literatur und der Philologie ebenso zu Hause wie in der Soziologie, der europäischen Zeitgeschichte und der Kulturwissenschaft, in der politischen Ideengeschichte ebenso wie in der Medientheorie. Die Texte des vorliegenden Bandes entfalten dieses beeindruckende Spektrum.

Insbesondere der einleitende Aufsatz „Das andere und das virtuelle Europa“, ist exemplarisch für Dubins Denken, das sich um disziplinäre Grenzen wenig kümmerte: Er deutet die Werke ostmitteleuropäischer Schriftsteller, insbesondere deren Diskussion über „Mitteleuropa“, mit dem soziologischen Instrumentarium der Modernisierungs- und Globalisierungstheorie. Als profunder Kenner der verschiedenen Nationalliteraturen kann Dubin zeigen, wie diese Intellektuellen Anschluss an die westliche Moderne gewinnen wollten und zugleich durch die Reflexion der spezifischen Erfahrungen ihres historischen Raums selbst die Begriffe für eine globale Moderne prägten. Für Boris Dubin war das Politische ohne dessen kulturelle Voraussetzungen nicht zu verstehen. Dazu passt, dass eine seiner frühesten Leidenschaften der Lyrik galt. Seine ersten Gedichte trug er in einem Underground-Zirkel junger Literaten vor – unter dem Damoklesschwert von Zensur und Repression. Es dauerte nicht lange, bis diese Gruppe von den sowjetischen Behörden aufgelöst wurde. Das schärfte Dubins Bewusstsein für die Bedeutung von Sprache und immunisierte ihn gegen die Zumutungen autoritärer Herrschaft. Als Übersetzer erschloss Dubin Russland den Zugang zu neuen Bereichen
der Weltkultur. Sein Schaffen reicht von französischer Lyrik des Mittelalters und der Renaissance bis zu Essays von Giorgio Agamben, Isaiah Berlin oder
Susan Sonntag. Er übersetzte Gedichte und Prosa von Guillaume Apollinaire, Jorge Luis Borges, Emil Cioran, Octavio Paz oder Fernando Pessoa,
machte die russischen Leser mit Bruno Schulz bekannt und übertrug mehrere polnische Autoren ins Russische, darunter Czesław Miłosz. Das OEuvre
des Übersetzers Dubin ist in Deutschland verständlicherweise unbekannt. Seine theoretischen Überlegungen zur Kunst des Übersetzens aber sind eine
höchst anregende Lektüre, denn Übersetzen ist ein Schlüssel zur Durchdringung der Welt.

Als es dank der Perestrojka möglich wurde, seriöse soziologische Forschung zu betreiben und die Ergebnisse zu publizieren, wurde Dubin zu einem
Pionier der empirischen Sozialforschung in Russland. In dem neu gegründeten Meinungsforschungszentrum VCIOM (ab 2003 „Levada-Zentrum“), war er
einer der tragenden Pfeiler. An nahezu allen grundlegenden Forschungsprojekten des Zentrums wirkte Dubin maßgeblich mit, so auch an den Untersuchungen
der Werte und Normen des Homo Sovieticus. Dieses Projekt, das in seiner theoretischen Fundierung und empirischen Substanz längst aus dem
Schatten von Erich Fromms, Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Studien über den autoritären Charakter herausgetreten ist, wird bis heute
weitergeführt und liefert überzeugende Erklärungen zur autoritären Herrschaft in Russland und ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen.
Die westliche Soziologie nimmt diese Arbeiten nicht in dem Maße zur Kenntnis, wie es für komparative Analysen notwendig wäre. Dieser mangelnden
Rezeption entgegenzuwirken und Dubins Texte einem größeren westlichen Publikum zu erschließen – ähnlich wie er selbst in seinem „Europa“-
Aufsatz die Intellektuellen Ostmitteleuropas in die europäische Moderne eingemeindet –, ist eines der Ziele des vorliegenden Bandes.
Wer die Funktion der Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ für das Putinsche Russland verstehen will, kommt an dem Gesellschaftsanalytiker
Dubin nicht vorbei. Und wer seine herrschaftssoziologischen Analysen über die frühe Putin-Periode liest, wird beeindruckt sein von der analytischen Schärfe
und der Präzision, mit der er die spätere Entwicklung des Regimes vorhersagt. Der Tod dieses bedeutenden Intellektuellen, der im persönlichen Umgang
durch Bescheidenheit, Empathie und menschliche Wärme bestach, hinterlässt eine große Lücke. Als „einer der wenigen, die Kultur global denken
konnten“ (Michail Jampol’skij) und als echter Vermittler zwischen verschiedenen intellektuellen Welten ist er kaum zu ersetzen; als Europäer par
excellence für ein westliches Publikum noch zu entdecken. Boris Dubin war vor allem ein leidenschaftlicher Aufklärer – der intellektuellen
und persönlichen Freiheit verpflichtet, die keine nationalen Grenzen kennt. In einem Moment großer Entfremdung zwischen Russland und der
Europäischen Union, die mit Russlands Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine einsetzte, erinnert sein Werk uns daran, dass es auch ein
anderes, besseres Russland gibt.