Editorial
Der Krieg von gestern und die Krise von heute
Volker Weichsel, Manfred Sapper
Abstract in English
(Osteuropa 2-4/2014, S. 56)
Volltext
Soviel Aufmerksamkeit war nie. Im deutschen Geschichtsbewusstsein stand der Erste Weltkrieg nach 1945 immer im Schatten des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus. Obwohl der Erste Weltkrieg die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ war, in dessen Verlauf Millionen von Soldaten und Zivilisten ihr Leben verloren, Vertreibung und Genozide stattfanden, Imperien zerbrachen und Nationalstaaten entstanden, die Ära der Ideologien und Diktaturen begann und obwohl Verdun und Versailles zu den bekanntesten Erinnerungsorten Europas gehören, blieb dieser Krieg im kollektiven Gedächtnis der Deutschen vergleichsweise klein. Während die Briten und Franzosen vom Great War oder Grande Guerre sprechen, konnte sich diese Bezeichnung im deutschen Sprachraum nie durchsetzen. Erst jetzt ändert sich das. Nun ist der Erste Weltkrieg omnipräsent. Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“ über Europas Weg in den Ersten Weltkrieg ist seit seinem Erscheinen im September 2013 fast 200 000 Mal verkauft worden. Herfried Münklers breiter angelegtes Zeitpanorama der Welt von 1914 bis 1918 „Der Große Krieg“, das pünktlich zu Beginn des Gedenkjahrs 2014 vorlag, ist bereits über 40 000 Mal über den Ladentisch gegangen. Das sind enorme Zahlen – zumal für 900-Seiten-Bände. Allein in Deutschland finden 2014 über 50 Ausstellungen zu allen Aspekten des Ersten Weltkriegs statt, dazu Veranstaltungen, Konferenzen, Vortragszyklen, Diskussionen in Museen sowie Ringvorlesungen in Universitäten. Tageszeitungen blicken in Kalenderblättern auf das Jahr 1914 zurück, Zeitschriften und Wochenmagazine bringen Serien und legen Sonderpublikationen vor. Im Fernsehen laufen Dokumentationen, und Talkshows widmen sich den Thesen der Historiker. Seit geraumer Zeit wissen wir: History sells! Doch die These „The Great War as Big Business“ wäre zu kurz gegriffen. Bei dem Interesse am Ersten Weltkrieg handelt es sich um mehr als um die erfolgreiche Bewirtschaftung der Vergangenheit durch die Kulturindustrie. In diesem Interesse kommen die Verunsicherung und das Krisenempfinden zum Ausdruck, die sich seit der Finanz- und Wirtschaftskrise der EU in relevanten Teilen der Bevölkerung breit gemacht haben. Dass die Einhegung des nationalistischen Furors, die Überwindung von Grenzen, der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen, und vor allem die Freizügigkeit für die Menschen keine Selbstverständlichkeit sind, ist durch die Krise, die zentrifugalen Tendenzen und das Aufkommen von populistischen Rattenfängern deutlich geworden. Der Blick zurück dient der Selbstvergewisserung über den Wert der Integration. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs die akute Russland-Ukraine-Krise die Welt in Atem hält. In der Ukraine ist die Zeit explodiert. Was gestern noch undenkbar erschien, war im nächsten Moment schon überholt, Gewissheiten waren binnen weniger Minuten pulverisiert. Den politischen Konflikt im Nachbarland nutzte Russland zur Annexion der Krim. Ob als nächstes der russischsprachige Osten mit denselben Methoden aus dem Lehrbuch des Geheimdiensts – nationalistische Mobilisierung, Medienpropaganda, Hilfegesuch eines Quislings, camouflierte Truppen und Scheinlegitimation durch Pseudoplebiszit – aus der Ukraine herausgebrochen wird, ist momentan unklar. Aber einmal mehr ist klar, wie schnell ein Konflikt aus dem Ruder laufen kann, wie wenig es bedarf, um den Frieden zu zerstören und wie prekär die Stabilität der internationalen Ordnung ist. Das Schreckgespenst des Ersten Weltkrieges ist eine Mahnung, wie furchtbar die Folgen sein können, wenn Politik versagt. Und schon gewinnt das Studium des Wegs in den Krieg, das die Historiker in ihren luziden Darstellungen anbieten, eine ganz andere Aktualität. Da passt es gut, dass Bundespräsident Gauck im Sommer 2014 Historikerinnen und Historiker aus Russland, England, Frankreich, Polen und anderen Ländern des Kontinents ins Schloss Bellevue einlädt, um über die Lehren von 1914, das getrennte und gemeinsame historische Gedächtnis sowie die Verantwortung der Europäer von heute nachzudenken. Ein Ergebnis ist bereits bekannt. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist gespalten. Der Krieg im Westen hat einen transnationalen Erinnerungsraum geschaffen, den Franzosen, Belgier, Briten und cum grano salis auch die Deutschen teilen. In dieser westlichen Erinnerung kommt der Krieg an der Ostfront bis heute praktisch nicht vor. Im Osten Europas hat sich kein derartiger transnationaler Erinnerungsraum herausbilden können. Das hat etwas damit zu tun, dass in der Geschichtsschreibung und im kollektiven Gedächtnis der Nationen Ostmittel- und Osteuropas der Erste Weltkrieg und die Kriegserfahrung im Schatten der Staatsgründungen und der Oktoberrevolution standen. Selbst die Rahmendaten des Krieges sind in einer Hinsicht signifikant andere. Zwar begann der Totentanz überall auf dem Kontinent im August 1914. Doch für viele Menschen in Europas Osten endete der Krieg nicht 1918! Das Töten und Morden, das Vertreiben und Deportieren, das Requirieren und Brandschatzen ging einfach weiter – in einer Vielfalt von Kriegen, die sich überlagerten oder ineinander übergingen: in Bürgerkriegen, Partisanenkriegen, Revolutionskriegen, Staatenkriegen und Staatsbildungskriegen sowie im paramilitärischen Bandenwesen. Praktiken des Weltkriegs wurden auf die anderen Kriege übertragen, militärische Gewalt schlug in paramilitärische um. Für viele Menschen in diesem Raum verschmolz all das zu einer einzigen Gewalterfahrung. Im Osten Europas endete der Erste Weltkrieg erst 1922 oder gar 1924. Die Omnipräsenz des gewaltsamen Todes hatte Auswirkungen auf die Überlebenden. Die Dehumanisierung von Tätern und Opfern zeigte Langzeitwirkung, die sich in den monströsen Praktiken des Stalinismus ebenso entlud, wie sich die Fronterfahrung von Millionen Soldaten und Freikorpskämpfern des nationalsozialistischen Deutschland im Vernichtungskrieg der Wehrmacht und der Einsatztruppen ab dem 1. September 1939 Bahn brach. An eines ist zu erinnern: Die Oktoberrevolution hätte es ohne den Ersten Weltkrieg als Geburtshelfer nicht gegeben. Mit der Revolution und dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1917 begann der ideologische, gesellschaftliche und politische Machtkonflikt, der das kurze 20. Jahrhundert prägen sollte. Insofern war der Krieg im Osten kein Nebenschauplatz im großen europäischen Krieg.