Titelbild Osteuropa 8/2014

Aus Osteuropa 8/2014
Teil des Dossiers Zentralasien

Herr des Hügels
Stabilität und Fragilität postsowjetischer Regime

Andrei Melville

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Abstract in English

Abstract

Anders als Demokratien können Autokratien nur stabil sein, wenn sie die materiellen Erwartungen der Bevölkerung befriedigen. Dazu benötigen sie leistungsfähige staatliche Institutionen. Das stellt autokratische Herrscher vor ein Dilemma: Solche Institutionen gefährden die intransparente Verteilung von Ressourcen an die Machtelite, auf die sich das Regime stützt. Auch sind Autokratien daher äußerst anfällig für Verwerfungen der Weltwirtschaft. In Krisensituationen können sie mit einer teilweisen Öffnung des Regimes für breitere Elitenkreise reagieren. Versuchen sie, den Status quo zu erhalten, drohen Stagnation und Verfall oder eine offene Diktatur.

(Osteuropa 8/2014, S. 121–130)

Volltext

Samuel Huntington hat die weltweite Durchsetzung von Demokratie in Phasen unterteilt. Eine erste Welle datierte er grob auf das 19. Jahrhundert, eine zweite auf die beiden Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die dritte Welle begann mit dem Niedergang der Diktaturen in Portugal, Griechenland und Spanien Mitte der 1970er Jahre. Es folgte die Transformation der zuvor kommunistischen Staaten nach 1989. Als fünfte Welle kann man die „farbigen“ Revolutionen in der Ukraine, Georgien und Kirgisistan betrachten. Dennoch lebt noch immer mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung nicht in demokratisch regierten Staaten, sondern unter autoritären oder verschiedenen hybriden Regimen.[1]

So verschieden die heutigen Demokratien sind, die Unterschiede zwischen den undemokratischen Staaten sind noch größer. Insbesondere unterscheidet sie der Grad der Monopolisierung politischer Macht, das Ausmaß der Repression, die Geschwindigkeit und Art der wirtschaftlichen Entwicklung, die Leistungsfähigkeit politischer Institutionen und die Qualität des Humankapitals. Unter den undemokratischen Staaten sind Erbmonarchien, Diktaturen, neopatrimoniale Regime sowie MilitärRegime und Einparteienstaaten. Dazu kommen diverse Mischformen, in denen autoritäre Machtausübung sich mit demokratischen Elementen verbindet. Meist handelt es sich aber nicht um echte demokratische Institutionen, sondern um bloße Fassaden. Eine Gruppe für sich bilden die postsowjetischen Autokratien und hybriden Regime, die teils gleich nach dem Zerfall der UdSSR entstanden, teils in Staaten etabliert wurden, die seit Jahren zwischen verschiedenen Herrschaftsformen lavieren oder aber nach gescheiterten Demokratisierungsversuchen zu autoritärer Machtausübung zurückgekehrt sind.[2]

Worin bestehen die Besonderheiten der postsowjetischen Autokratien, wodurch unterscheiden sie sich von anderen (teil)autoritären Regimen, wovon hängen ihre Stabilität oder ihre Anfälligkeit und Offenheit für politische Alternativen ab? Antworten bietet ein Modell des autoritären Gleichgewichts, das ich „Der Herr des Hügels“ nennen will. Es beschreibt eine für die postsowjetischen Autokratien charakteristische Situation: Es mangelt an Motiven zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen. Auch ergeben sich aus dem Modell mögliche Strategien des autokratischen Herrschers sowie die wahrscheinlichen Folgen für das Überleben autoritärer und hybrider Regime.

Die Quelle der Stabilität autoritärer Regime

In den vergangenen zehn Jahren hat in einer Reihe von Staaten ein „konservativer Rollback“ stattgefunden. Diesem Phänomen hat sich auch die Vergleichende Regimeforschung gewidmet. Sie fragt nach den Ursachen und Bedingungen, unter denen Autokratien entstehen und fortbestehen, erstellt Typologien neuer Regime und untersucht die Funktionen von Institutionen innerhalb der Staatsapparate sowie diktatorische Strategien.[3] Die vergleichende Autokratieforschung stützt sich unter anderem auf neue Daten, mit denen wichtige strukturelle und institutionelle Variablen erfasst werden, und neue komparative Methoden wie etwa die multivariate statistische Analyse.

Eine der zentralen Fragen sowohl der theoretischen als auch der empirischen Arbeiten in diesem Feld ist die nach der Langlebigkeit[4] oder Störanfälligkeit verschiedener autoritärer und halbautoritärer Regimetypen. Es geht um den Einfluss exogener Faktoren wie der tradierten politischen Kultur eines Landes, den sozialen und ökonomischen Entwicklungsstand, die Rohstoffvorkommen sowie das internationale Umfeld. Doch diese Faktoren reichen, so wichtig sie sind, keinesfalls immer aus, um zu erklären, warum Staaten langfristigen ökonomischen Erfolg oder Misserfolg haben, einen hohen oder niedrigen Bildungsstand in der Bevölkerung erreichen, warum Rohstoffe zum „Segen“ oder „Fluch“ werden und warum Staaten ihre Funktionen besser oder schlechter erfüllen (state capacity).

Daher begann die Politikwissenschaft, auf endogene Faktoren zu schauen, insbesondere auf die institutionellen Besonderheiten autoritärer Regime und auf die politischen Strategien der autokratischen Führer sowie der ihnen nahestehenden Eliten und der Opposition. Welche Institutionen und Strategien befördern das Entstehen und den Fortbestand eines „erfolgreichen“ Autoritarismus, also eines Systems, das ein stabiles Wirtschaftswachstum, ein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitssystem sowie den Zugang zu weiteren öffentlichen Gütern gewährleistet, das ohne offene Repression und Gewalt auskommt und zumindest teilweise versucht, mit wichtigen politischen und gesellschaftlichen Akteuren Kompromisse zu schließen, um die Leistungsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu steigern?

In einem „erfolgreichen“ autoritären System sind demnach Machtwechsel nicht ausgeschlossen, die Position an der Spitze des Staates wird in gewissen Abständen neu besetzt, Kooptation und Integration gehen vor Repression, und das Regime setzt auf ein möglichst breites „Selektorat“.[5] Am wichtigsten für das Überleben und die Stabilität des Systems sind aber effizient arbeitende Institutionen. Anders als ein auf persönlicher Willkür basierendes System beugen sie dem „Dilemma des Diktators“ – der Alleinherrscher kann nie gewiss sein, ob sich seine Untergebenen loyal verhalten oder Teil eines Komplotts sind – zumindest teilweise vor.[6] Institutionen machen es möglich, Ressourcen zu sparen und die Kosten des Regierungshandelns niedrig zu halten, sie tragen zur inneren und äußeren Legitimation der Macht bei, entlasten den Machthaber von persönlicher Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen und falsche Entscheidungen und schaffen Instrumente zur Kontrolle von Eliten innerhalb des Machtapparats sowie anderer politischer Gruppen, nicht zuletzt der Opposition.[7]

Eine „erfolgreiche“ Autokratie braucht also gut funktionierende Institutionen. Allerdings können sich auch autoritäre Regime, die nicht über funktionierende Institutionen verfügen, lange Zeit an der Macht halten. Man denke an Nordkorea, Syrien und viele andere Staaten. In diesen sind die vorhandenen Institutionen in der Regel eine bloße Imitation, die die eigentlichen, informellen Machtmechanismen verdeckt.

Eine relative Stabilität können Autokratien durch Repressionen erreichen, sie können aber auch versuchen, ihre Herrschaft zu legitimieren.[8] Dies kann auf verschiedenen Wegen geschehen: Sie können sich auf Ideologien oder Religion stützen, auf das Charisma einer Führungsfigur – insbesondere, wenn der Staat noch im Aufbau ist – oder auf Propaganda (etwa Bedrohungsszenarien). Gleichwohl ist der zentrale Faktor für die Langlebigkeit eines autoritären Regimes seine materielle Leistungsfähigkeit („performance“), und diese hängt vor allem von leistungsfähigen Institutionen ab.[9]

Qualitätskriterien für Institutionen

Wie lässt sich die Qualität von Institutionen messen, und wie setzt man sie in Beziehung zum Charakter eines Regimes, nicht zuletzt der postsowjetischen autoritären und hybriden Regime? Es gibt eine ganze Reihe von Ansätzen und Indizes, die auf Basis verschiedener methodischer Zugänge die Institutionen von Ländern weltweit bewerten und vergleichen. Dazu zählen unter anderem die Worldwide Governance Indicators (WGI) der Weltbank, die Indices von Transparency International, der Integrity Index, das CIRI Human Rights Data Project und Contract Intensive Money. Der gängigste Index ist jener der Weltbank, doch er ist methodisch nicht unumstritten. Er setzt sich aus sechs Indikatoren zusammen: 1. Mitspracherecht und Verantwort­lichkeit („voice and accountability“), 2. politische Stabilität und Abwesenheit von Gewalt („political stability and absence of violence“), 3. Leistungsfähigkeit der Regierung („government effectiveness“), 4. Qualität der staatlichen Ordnungspolitik („regulatory quality“), 5. Rechtsstaatlichkeit („rule of law“), 6. Korruptionskontrolle („control of corruption“). Diese Indikatoren beschreiben im Kern das Ideal der Good Governance, das die Weltbank bereits Ende der 1980er Jahre als allgemeines Ziel und Bewertungskriterium für die Institutionen formuliert hat.[10]

Die Zahlen in Tabelle 1 zeigen zum einen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit der Institutionen und der Art des Regimes gibt: In autoritären Staaten ist die Qualität der Institutionen gering. Zweitens funktionieren die Institutionen in einigen hybriden Staaten besser als in reinen Autokratien. Dies erschüttert die Vorstellung, hybride Regime seien instabile Gebilde zwischen Demokratie und Autokratie.[11] Hybride Systeme können durchaus langlebig sein und sollten daher als eigenständiger Regimetyp anerkannt werden.[12] Besonders wichtig ist ein dritter Befund:

Keiner der nicht-demokratischen postsowjetischen Staaten verfügt über „gute“ Institutionen, die für Rechtsstaatlichkeit und effiziente Regierungsarbeit sorgen, Korruption eindämmen und Eigentumsrechte sichern würden. Keiner dieser Staaten lässt sich mit Singapur oder Oman vergleichen.

„Der Herr des Hügels“: Modell des autoritären Gleichgewichts

Warum ist die Qualität der Institutionen in den postsowjetischen Autokratien so schlecht? Eine Erklärung liefert das Modell des „Herrn des Hügels“ – benannt nach einem Kinderspiel, bei dem ein Spieler sich auf einen Hügel stellt und sich zum Herrscher erklärt, während seine Mitspieler versuchen, ihn von dieser Position zu vertreiben. Es handelt sich um ein Modell eines autoritären Gleichgewichts, das auf dem Zugriff auf politische und ökonomische Renten basiert. Mit politischer Rente ist hier ein unangefochtenes Machtmonopol gemeint. Wer dieses etabliert hat oder aber über klientelistische Beziehungen mit dem Monopolisten verbunden ist, hat auch Zugang zur ökonomischen Rente. Diese kann sich etwa aus dem Verkauf von Öl, Gas und anderen Rohstoffen, aus der Kontrolle des Finanzsektors speisen. In jedem Fall aber hängt die ökonomische Rente zwingend vom politischen Monopol ab.

Das Paradoxe an diesem autoritären Gleichgewicht ist, dass der „Herr des Hügels“, der seine Position verteidigen will, kein Interesse daran hat, leistungsfähige Institutionen zu etablieren, denn diese würden das politische und wirtschaftliche Monopol gefährden. Dagegen sind „schlechte“ Institutionen – korrupte, undurchsichtige und verschwenderische Strukturen – für ihn gerade „gut“, denn sie erfüllen genau den Zweck, für den sie geschaffen wurden: Sie sichern den monopolistischen Zugriff auf politische und ökonomische Renten.

Eben dies ist die institutionelle Falle, in die der „Herr des Hügels“ tappt: Gut funktionierende Institutionen gefährden das autoritäre Gleichgewicht. Dem autoritären Herrscher geht es nicht darum, Eigentumsrechte, offene Konkurrenz und effektives Regieren zu gewährleisten, sondern Macht und Geld an sich zu binden. Der hart erkämpfte Status quo soll erhalten bleiben, Reformen der Institutionen bedrohen dagegen die politische Macht und schmälern den finanziellen Ertrag. Good Governance stünde ihm nur im Weg, denn die Verteilung von Renten zur Sicherung von Loyalität läuft in seinem System in der Regel über informelle klientelistische Kanäle.

Joel Hellman hat bereits vor gut 15 Jahren dargelegt, dass die größten Gegner von Wirtschaftsreformen in den postsowjetischen Staaten entgegen der herrschenden Meinung nicht die Transformationsverlierer wie Rentner, einkommensschwache Gruppen, Staatsangestellte und ehemalige Apparatschiks seien.[13] Vielmehr seien es die Gewinner der Privatisierung, all jene, die sich im Zuge der massiven Umverteilung von Staatsvermögen und -eigentum die größten Stücke sichern konnten. Aus ihrer Sicht seien wirtschaftlicher Wettbewerb und leistungsfähige Institutionen nicht wünschenswert, da diese das von ihnen erbeutete Eigentum und ihre Privilegien gefährden könnten.[14]

Hellman geht vor allem auf die Sicherung ökonomischer Renten ein. Das Modell des „Herrn des Hügels“ zeigt dagegen, dass in postsowjetischen (Teil)Autokratien wirtschaftliche Gewinne direkt vom politischen Einfluss abhängen. Ohne den Zugang zu politischer Macht können sich Oligarchen ebenso wenig wie Leiter von Staatsbetrieben ihrer ökonomischen Rente gewiss sein. Wo Eigentumsrechte keine Geltung haben, ist es für den „Herrn des Hügels“ ein Leichtes, Eigentum zu beschlagnahmen und den gewohnten Zugang zu Einkünften zu blockieren.

Wege aus der institutionellen Falle

Was sollte ein einmal errichtetes politisches und wirtschaftliches Monopol ins Wanken bringen oder es zumindest zu partiellen institutionellen Reformen nötigen? Wie stabil oder instabil ist das autoritäre Gleichgewicht, das der „Herr des Hügels“ schafft, und gibt es Auswege aus der institutionellen Falle?

Die Geschichte politischer Systeme und die vergleichende Autokratieforschung zeigen, dass Autokratien bei aller tatsächlichen oder scheinbaren Stabilität verwundbar sind. Wirtschaftskrisen und andere äußere Erschütterungen, weltpolitische Verschiebungen, die sozio-ökonomische Entwicklung, Protestbewegungen sowie die von der Führungsspitze, ihrer nächsten Umgebung und der Opposition gewählten Strategien lassen sich schwer vorhersagen. Die nachträgliche vergleichende Analyse macht jedoch gewisse Muster sichtbar, die zur Erosion autoritärer Machtmonopole führen können.

Eine erhebliche Bedrohung für die Position des „Herrn des Hügels“ sind wegbrechende Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft, vor allem wenn die Preise für fossile Brennstoffe auf dem Weltmarkt fallen. In einem solchen Fall versiegen zentrale Quellen ökonomischer Renten, womit auch die Möglichkeit schwindet, Gefolgschaft durch die Verteilung von Mitteln über klientelistische Kanäle aufrechtzuerhalten. Eine destabilisierende Wirkung kann – trotz der mehr oder weniger repressiven Abschirmung gegen Einflüsse aus dem Ausland, die die postsowjetischen „souveränen Demokratien“ betreiben – auch von äußeren Faktoren wie etwa Sanktionen ausgehen, oder aber von den globalen Informationsströmen. Viel wichtiger als direkter politischer oder wirtschaftlicher Druck, den bestimmte Staaten oder internationale Organisationen ausüben, ist die Gesamtwirkung der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung und Transnationalisierung. Wer ihr entkommen will, begibt sich in die Sackgasse der Autarkie.

Auch militärische Abenteuer können zum Sturz autoritärer Regime führen. Paradebeispiel ist der Versuch der argentinischen Militärjunta, die Falkland-Inseln zu erobern, der zu ihrem Sturz 1983 führte. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist das „Dilemma des Diktators“. Der autoritäre Herrscher ist nie gefeit davor, durch einen Komplott der Eliten in seinem Umfeld entthront zu werden. Dies ist statistisch gesehen sogar das wahrscheinlichste Schicksal eines Diktators. Bei all seiner scheinbar uneingeschränkten Machtfülle ist der „Herr des Hügels“ nicht sakrosankt. Er kommt nicht umhin, seine Beziehungen zu den heterogenen Machtgruppen, die ihn umgeben, immer wieder neu auszutarieren, wobei er mit komplexen wechselseitigen Verpflichtungen (commitment problem) und Vertrauensproblemen (credibility problem) konfrontiert ist. Institutionen, die Kooption und Kontrolle ermöglichen, können in gewissem Maß hilfreich sein; idealerweise schaffen sie einen Rahmen, in dem der autoritäre Herrscher rechenschaftspflichtig wird (authoritarian accountability) und bilden für die Eliten ein gewisses Gegengewicht zur Willkür der Macht. Dennoch können auch sie die fundamentale, systemimmanente Unsicherheit des autokratischen Regimes nicht aufheben.

Die jüngeren „Demokratisierungswellen“ haben eine weitere Schwachstelle autokratischer Systeme offengelegt: eine Spaltung des Machtzentrums. Einschlägige Bespiele sind Spanien nach Francos Tod und die Sowjetunion unter Gorbačev, wo Reformbewegungen aus der herrschenden Gruppe heraus entstanden. Auch der Aufstieg neuer Eliten, die andere Interessen haben und neue, leistungsfähigere Institutionen anstreben, kann das Monopol des autokratischen Herrschers auf politische und ökonomische Renten ins Wanken bringen. Allerdings lassen sich solche Risse und Spaltungen ebenso wie die Geschlossenheit eines Regimes, das Verhältnis zwischen verschiedenen politischen Kräften und die Aufstiegsmöglichkeiten neuer Eliten wegen der Abschottung vieler Autokratien meist erst post factum feststellen.

Schaut man sich die „farbigen Revolutionen“ in den postsowjetischen Staaten an, sind Massenproteste eine weitere Ursache für den Zusammenbruch autoritärer Regime. Auslöser sind nicht selten Wahlmanipulationen, verschärfte Repressionen und umfassende Korruption.[15] Natürlich kann der „Herr des Hügels“ mit noch härterer Repression auf Proteste reagieren, allerdings setzt er sich damit der Gefahr aus, in einen Teufelskreis zu geraten: Die Steigerung der Gewalt kann eine Eigendynamik entwickeln, die zu unvorhergesehenen Folgen führt. Doch großer Druck „von unten“ muss nicht zwangsläufig zu einem revolutionären Aufstand oder zu einer verhärteten Diktatur führen. Wenn der „Herr des Hügels“ die Proteste nicht mehr ignorieren kann, wenn die „Kosten der Repressionen“ die der Toleranz übersteigen und der autoritäre Herrscher zumindest punktuelle Reformen zulässt, die die Leistungsfähigkeit der Institutionen stärken, dann ist auch eine andere Entwicklung möglich.[16]

Der „Herr des Hügels“ muss bei der Wahl seiner Strategie die Positionen seiner Gegner und anderer Akteure im Machtapparat berücksichtigen – vor allem der ihm nahestehenden Eliten und der Opposition.[17] Alle diese Gruppen sind nicht monolithisch oder homogen: Unter den Eliten innerhalb des Apparats gibt es, grob gesagt, Konservative, die den Status quo um jeden Preis aufrechterhalten wollen, und Reformer, die zu einer partiellen Reform der Institutionen im Rahmen des vorhandenen Systems bereit sind. Entsprechende Lager finden sich auch in der Opposition: Den radikalen Regimegegnern, die eine vollständige Neuordnung des Systems anstreben, stehen gemäßigte gegenüber, die sich mit tiefgreifenden Reformen zufriedengeben würden.

Reaktionen autokratischer Herrscher auf Protestbewegungen

Der „Herr des Hügels“ (der „Führer“, das „nationale Oberhaupt“ etc.) hat zwei Möglichkeiten: Er kann den Status Quo mit allen Mitteln bis hin zu Repressionen aufrechterhalten oder Reformen zulassen und die Leistungsfähigkeit der Institutionen verbessern – nicht nur, um eine „effektive Autokratie“ zu errichten, sondern auch und vor allem, um seine Monopolstellung zu erhalten. Entscheidet er sich für den ersten Weg, so ist ihm die Zustimmung der Konservativen im eigenen Lager sicher, während die gemäßigte und die radikale Opposition – unterschiedlich intensiv – Widerstand leisten werden.

Mit der zweiten Strategie zieht der „Herr des Hügels“ die Reformer im eigenen Lager und die gemäßigte Opposition auf seine Seite; radikale Oppositionelle dagegen könnten die Reformen als unzureichend erachten. Paradoxerweise garantiert die Entscheidung für die Erhaltung des Status quo in einer labilen Situation die Langlebigkeit des Regimes nicht; sie zieht vielmehr früher oder später entweder einen Zustand der Stagnation oder härtere Repressionen nach sich. Die „brutale“ Variante von Repressionen mündet in eine offene Diktatur. Diese hat in der eng verflochtenen Welt von heute wenig Aussicht auf dauerhaftes Bestehen. „Sanftere“ Repressionen dagegen sind Teil der Stagnation und bedingen Erosion und Zerfall des Systems.

Einen Weg aus der „institutionellen Falle“ weist dagegen die zweite Strategie. Voraussetzung dafür sind Reformen, die zumindest die Leistungsfähigkeit einiger Institutionen steigern. Das „Dilemma des Diktators“ wird gemildert, da Gruppen, die zuvor von Entscheidungen ausgeschlossen gewesen waren, nun in Entscheidungen einbezogen (kooptiert) werden und damit das „Selektorat“ erweitern. In allen postsowjetischen Staaten, in denen der „Herr des Hügels“ eine solche Strategie wählt, hat er gute Chancen, sein autoritäres und hybrides Regime auch in Situationen einer akuten Bedrohung zu erhalten.

Aus dem Russischen von Alexander Löwen, Berlin

 


[1]   Freedom House stufte 2013 107 von 195 Staaten mit einem Anteil von 55 Prozent der Weltbevölkerung als „nicht frei“ oder „teilweise frei“ ein, <http://freedomhouse.org/sites/default/ files/Overview%20Fact%20Sheet.pdf>. – Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Erhebungen des Economist und der Bertelsmann Stiftung.

[2]   Zu den Eigenschaften hybrider Regime siehe Larry Diamond: Thinking About Hybrid Regimes, in: Journal of Democracy, 2/2002, S. 21–35. – Andreas Schedler (Hg.): Electoral Authoritarianism. The Dynamics of Unfree Competition. London 2006. – Leonardo Morlino: Are There Hybrid Regimes? Or Are They Just an Optical Illusion? In: European Political Science Review, 2/2009, S. 273–296. – Steven Levitsky, Lucan Way: Competitive Authoritarianism. Hybrid Regimes After the Cold War. Cambridge 2010. – Wolfgang Merkel: Are dictatorships returning? Revisiting the „Democratic Rollback“ Hypothesis, in: Contemporary Politics, 1/2010, S. 17–31.

[3]   Zu den bedeutendsten Arbeiten dieses Forschungsansatzes zählen: Paul Brooker: Non-Democratic Regimes. New York 2000. – Bruce Bueno de Mesquita et al.: The Logic of Political Survival. Cambridge 2003. – Stephen Haber: Authoritarian Government, in: Donald Wittman, Barry Weingast (Hg.): The Oxford Handbook of Political Economy. New York 2006. S. 693–707. – Beatriz Magaloni: Voting for Autocracy. Hegemonic Party Survival and its Demise in Mexico. New York 2006. – Jason Brownlee: Authoritarianism in an Age of Democratization. Cambridge 2007. – Jennifer Ghandi: Political Institutions under Dictatorship. New York 2008. – Milan Svolik: The Politics of Authoritarian Rule. Cambridge 2012.

[4]   Der Begriff der „Langlebigkeit“ (durability) wird hier in Abgrenzung zum engeren Konzept der „Stabilität“ im Sinne der World Governance Indicators der Weltbank („Politische Stabilität und Abwesenheit von Gewalt“) verwendet.

[5]   Der von Bueno des Mesquita als Gegenbegriff zu „Elektorat“ geprägte Ausdruck meint die Gruppe in einer Gesellschaft, die Einfluss auf die Besetzung der politischen Führung hat; Bueno des Mesquita: The Logic of Political Survival [Fn. 3], S. 41ff. – Zu „erfolgreichen“ Autokratien siehe Jorge Dominguez: The Perfect Dictatorship? Comparing Authoritarian Rule in South Korea and in Argentina, Brazil, Chile and Mexico. Paper for Annual Meeting of APSA 2002. – Timothy Besley, Masayuki Kudamatsu: Making Autocracy Work. STICERD Development Economics Discussion Paper, 48/2007. – Nicholas Charon, Victor Lapuente: Which Dictators Produce Quality of Government? In: Studies in Comparative International Development, 4/2011, S. 397–423.

[6]   Dazu Ronald Wintrobe: Dictatorship. Analytical Approaches, in: Charles Boix, Susan Stokes (Hg.): The Oxford Handbook of Comparative Politics. Oxford 2008, S. 363–394.

[7]   Bruce Bueno de Mesquita et al.: Political Institutions, Policy Choice and the Survival of Leaders, in: British Journal of Political Science, 4/2002, S. 559–590. – Ellen Lust-Okar: Elections under Authoritarianism: Preliminary Lessons from Jordan, in: Democratization, 6/2006, S. 456–471. – Joseph Wright: Do Authoritarian Institutions Constrain? In: American Journal of Political Science, 2/2008. S. 322–343. – Ellen Ghandi, Ellen Lust-Okar: Elections under Authoritarianism, in: The Annual Review of Political Science, 2009. S. 403–422. – Magaloni, Voting for Autocracy [Fn. 3].

[8]   Johannes Gerschewski: The Three Pillars of Stability: Legitimation, Repression, and Co-Optation in Autocratic Regimes, in: Democratization, 1/2013. S. 13–38.

[9]   Edeltraud Roller: Comparing the Performance of Autocracies: Issues in Measuring Types of Autocratic Regimes and Performance, in: Contemporary Politics, 1/2013. S. 35–54. – James McGuire: Political Regime and Social Performance, in: Contemporary Politics, 1/2013, S. 55–75.

[10]  Seit ungefähr 2005 mehren sich allerdings Stimmen, die Zweifel an der Anwendbarkeit dieser Indikatoren insbesondere für die Mehrheit der Entwicklungsländer und Schwellenländer anmelden; siehe u.a. Merilee Grindle: Good enough governance: Poverty Reduction and Reform in Developing Countries, in: Governance. An International Journal of Policy, Administration, and Institutions, 17/2004, Nr. 4, S. 525–548. – Jomo Sundharam, Anis Chowdhury (Hg.): Is Good Governance Good for Development? New York 2012. – Douglass North, John Wallis, Barry Weingast: Violence and Social Orders. A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History. Cambridge 2009.

[11]  Zu einer solchen Einschätzung von hybriden Regimen („house divided“) kommt Samuel Huntington: The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century. London 1991.

[12]  Eben diese Deutung ist in der Forschungsliteratur dominant; siehe Schedler, Electoral Authoritarianism [Fn. 2]. – Morlino, Are There Hybrid Regimes? [Fn. 2]. – Levitsky, Way, Competitive Authoritarianism [Fn. 2]. – Merkel, Are dictatorships returning? [Fn. 2]. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass sich hybride Regime zu Demokratien, Autokratien oder sogar Failed States entwickeln.

[13]  Diese Annahme spiegelt sich etwa in Przeworskis Bild von der „Talsohle des Übergangs“; Adam Przeworski: Democracy and the Market: Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America. Cambridge 1991. Andere sprechen von einem „Tal der Tränen“ so Philippe Schmitter, Claudius Wagemann, Anastassia Obydenkova: Democratization and State Capacity. Paper for X Congreso Internacional sobre la Reforma des Estato y de la Adminitracion Publica. Santiago, Chile (18.–21.10.2005).

[14] Joel Hellman: Winners Take All. The Politics of Partial Reform in Postcommunist Transitions, in: World Politics, 2/1998, S. 203–234.

[15]  Valerie Bunce, Sharon Wolchik: Defeating Authoritarian Leaders in Postcommunist Countries. Cambridge 2011.

[16]  Guillermo O’Donnell: Modernization and Bureaucratic-Authoritarianism: Studies in South American Politics. Berkeley 1973.

[17]  In gewissem Sinn lässt sich dies mit den von Adam Przeworski sogenannten „Spielen der Liberalisierer“ vergleichen, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Przeworski, Democracy and the Market [Fn. 13]. – Siehe auch Josep Colomer: Strategic Transitions. Game Theory and Democratization. London 2000.

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