Aggression und Reaktion
Russland, die Ukraine und der Westen
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Abstract in English
Abstract
Auch nach dem in Minsk ausgehandelten Waffenstillstand ist unklar, welche Ziele Russland in der Ukraine verfolgt. Geht es nur um die bislang besetzten Gebiete, um den EU- und NATO-Beitritt der Ukraine oder um eine umfassende Konfrontation mit dem Westen? Da der Westen sich festgelegt hat, der Ukraine nicht militärisch zu helfen, hat Russland bei begrenzten Zielen kurzfristig die besseren Karten in der Hand. Eine langwierige Auseinandersetzung mit dem Westen kann Moskau nicht gewinnen. Neben der ökonomischen Schwäche verschlechtern auch die weltpolitischen Veränderungen, die der Kreml in Gang gesetzt hat, Russlands Position. Dennoch müssen die USA und die EU-Staaten sich rasch auf eine gemeinsame Eindämmungspolitik zur Verhinderung einer weiteren territorialen Expansion in der Ukraine einigen.
(Osteuropa 1-2/2015, S. 5764)
Volltext
Der Westen tut sich schwer damit, eine Antwort auf Russlands Aggression in der Ukraine zu finden. Dies hat vor allem damit zu tun, dass unklar ist, was die Ziele Moskaus sind und welcher Logik die Politik des Kreml gehorcht. Minimalziel des Kreml ist es offensichtlich, einen Beitritt der Ukraine zur NATO und eine engere Kooperation mit der EU zu verhindern. Putins bevorzugte „Lösung“ wäre demnach ein Waffenstillstand, für den Moskau im Gegenzug eine „Föderalisierung“ der Ukraine erwartet, worunter der Kreml ein Vetorecht für den Donbass über den Beitritt der Ukraine zur NATO und zur EU versteht. Dies wäre das Modell der Republika Srpska im Staatsverband von Bosnien und Herzegowina.[1]
Ambitionierter wäre das Ziel, das von Russland kontrollierte Territorium über den Donbass hinaus auf ein größeres Gebilde namens „Novorossija“ auszuweiten, zu dem die am Schwarzen Meer gelegenen südlichen Gebiete der Ukraine gehören. Russland könnte dieses Gebiet – inklusive Transnistrien – annektieren oder aber es in einem neu geordneten ukrainischen Staat zu einem Faustpfand gegen die Orientierung Kiews auf die westlichen Bündnisse machen.[2]
Noch weitreichender wäre das Ziel, allen jenseits der Grenzen Russlands kompakt siedelnden Russen „Schutz“ zu gewähren. Davon wäre der Norden Kasachstans, Belarus und im schlimmsten Fall sogar die NATO-Staaten Estland, Lettland und Litauen betroffen.[3]
Das Maximalziel, vor dem manche Beobachter im Westen warnen, wäre der Versuch, NATO und EU durch eine Allianz mit Viktor Orbán in Ungarn oder Alexis Tsipras in Griechenland zu lähmen. Russlands Landnahme in der Ukraine wäre dann kein Ziel, sondern lediglich ein Mittel, um eine Unterwanderung und Zerstörung der EU und der NATO zu erreichen und dafür zu sorgen, dass Russland wieder den ihm „gebührenden“ Platz in der europäischen Ordnung erhält.
Möglich ist natürlich auch, dass Putin die westlichen Staaten glauben machen will, dass er weitreichende Ziele verfolgt, damit diese Moskaus weniger ambitionierte Ziele wie die Einverleibung der Krim und die Verhinderung eines ukrainischen NATO-/EU-Beitritts akzeptieren und die Sanktionen aufheben oder es sogar als Erfolg verbuchen, mit Verhandlungen Russland von weitreichenderen Zielen abgebracht zu haben.
Weitere Varianten sind möglich. Fest steht lediglich, dass Putin keine konkreten Ziele benannt hat. Vieles spricht dafür, dass der Kreml sich auch gar nicht auf ein bestimmtes Ziel festgelegt hat, sondern dieses flexibel anpasst, je nachdem, wie hoch er die Kosten für dessen Erreichung gerade einschätzt.
Die Logik des Kreml
Der Ukrainepolitik des Kreml scheinen zwei widersprüchliche Annahmen zugrunde zu liegen. Die erste lautet: Die USA und zumindest einige EU-Staaten haben vor, durch eine fortschreitende Erweiterung von NATO und EU und die Förderung von Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum Russland zu schwächen. Mehr noch: Sie wollen eine solche Revolution in Russland selbst anzetteln, das Putin-Regime zu Fall zu bringen und so eine dem Westen genehmere Regierung an die Macht bringen.[4]
Die zweite Annahme lautet, dass die NATO und die EU schwach und uneins sind. Nicht nur seien viele westliche Staaten von Öl- und Gasimporten aus Russland abhängig, sondern in den meisten, wenn nicht allen europäischen Staaten gebe es gesellschaftliche Voraussetzungen, die Moskau nutzen kann, um seine Position gegenüber dem Westen zu stärken.[5]
Diese beiden Annahmen schließen einander im Grunde aus. Wenn der Westen wirklich in der Lage ist, Russland zu schwächen und sogar das Putin-Regime zu stürzen, dann kann er nicht schwach sein. Wenn der Westen aber schwach ist, dann kann er Russland nicht bedrohen oder gar einen Regimewechsel in Russland herbeiführen. Diesen Widerspruch löst der Kreml jedoch offensichtlich in folgender Weise: Um zu verhindern, dass der Westen Russland schwächt und Putin stürzt, muss Moskau jetzt, da der Westen schwach ist, handeln.
Natürlich stellt sich die Frage, wie Moskau auf die Idee kommt, der Westen wolle Russland schwächen. Erklärtes Ziel der USA war es nach Amtsantritt der Obama-Administration, die Beziehungen zu Russland zu verbessern. Viele EU-Staaten setzen auf eine enge Zusammenarbeit mit Russland, insbesondere im Energiebereich. Putin hat jedoch die USA bei vielen Gelegenheiten als treibende Kraft hinter den Farbrevolutionen bezeichnet, hinter der Rosenrevolution in Georgien 2003 und dem ersten Majdan in der Ukraine 2004, hinter den Protesten gegen die Wahlfälschungen in Russland im Winter 2011/2012 sowie hinter der zweiten Majdan-Bewegung, die Ende Februar 2014 zum Sturz des Janukovyč-Regimes führte. Der Kreml scheint es nicht in Ansätzen für möglich zu halten, dass diese Volksaufstände tatsächlich vom Volk ausgingen.
Hinzu kommt, dass das Putin-Regime offensichtlich die Erweiterung der EU – anders als viele in Westeuropa – für bedrohlicher hält als die Erweiterung der NATO. Ein Beitritt zur EU setzt voraus, dass die Staaten die grundlegenden Regeln der Union einhalten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Respektierung der Menschenrechte, Wettbewerb und Transparenz in der Wirtschaft. Kurzum: All jene Prinzipien, die der Kreml für Russland und die Staaten des postsowjetischen Raums, die Moskau als seine Einflusssphäre sieht, ablehnt. Wenn sogar Janukovyč ein Assoziierungsabkommen mit der EU aushandelte, so musste dies aus Sicht des Kreml bedeuten, dass die Ukraine endgültig aus dem Einflussbereich Moskaus herausgebrochen wird. Putin scheute 2013 keine Mühen, um Janukovyč von der Unterzeichnung des Abkommens abzubringen und ihn davon zu überzeugen, die Ukraine stattdessen in die Eurasische Union zu führen. Als Janukovyč sich fügte, glaubte Putin wohl, dass er den Wettstreit um die Ukraine gewonnen habe. Dann begannen jedoch die Proteste gegen diese Entscheidung Janukovyčs, der im Februar 2014 aus dem Land floh, und westlich orientierte Kräfte in Kiew übernahmen die Macht. Der Kreml sah darin eine vom Westen betriebene Verschwörung.[6] Ebenso wurde in Moskau die von der Obama-Administration angestrebte Verbesserung der Beziehungen zwischen den USA und Russland als ein taktischer Zug interpretiert, der den Zweck gehabt habe, Washington die Unterstützung der Gegner des Putin-Regimes in Russland selbst zu erleichtern.[7] Bei einer solchen Weltsicht liegt es nahe, dass der Kreml auf offen konfrontative statt auf kooperative Beziehungen zum Westen setzt, weil dies ihm erlaubt, eine nationalistische Mobilisierung zur Unterstützung des Regimes zu betreiben und all jene in Russland als Agenten westlicher Interessen zu diskreditieren, die für eine Verbesserung des Verhältnisses zum Westen eintreten.
Offenbar hat der Kreml gar kein Interesse daran, im Konflikt um die Ukraine zu einer gemeinsamen Lösung mit dem Westen zu kommen, sondern will vielmehr den Konflikt am Kochen halten. Somit ergibt sich die folgende Lage: Der Westen versucht, ein weiteres Ausgreifen Russlands in der Ukraine mit Sanktionen sowie mit Waffenstillstandsverhandlungen zu verhindern, während das Putin-Regime seine Gegner als Agenten brandmarkt, sich die Option auf ein weiteres Vorrücken in der Ukraine offenhält, Differenzen zwischen den westlichen Staaten und innerhalb dieser Staaten zu nutzen versucht und mit einer weiteren Eskalation der Lage droht, sollte sich der Westen weiterhin Moskaus Zielen entgegenstellen. Wie sich der Konflikt weiterentwickeln wird, ist daher offen. Recht gut lässt sich jedoch beurteilen, wodurch Russlands Position gestärkt wird und was sie schwächt.
Was Russland stark macht
Russland hat gezeigt, dass es bereit ist, einen erheblichen Preis zu zahlen, um sich in der Ukraine durchzusetzen. Der Westen hingegen hat offenbart, dass er wenig zu geben gewillt ist. Er hat definitiv nicht die Absicht, militärisch in der Ukraine einzugreifen. Selbst die Forderung, Waffen an Kiew zu liefern, ist auf heftigen Widerstand gestoßen.[8] Bei der Abstimmung über die bislang verhängten Sanktionen hat der Westen jedoch eine bemerkenswerte Einigkeit gezeigt. Ob die westlichen Regierungen sich allerdings auf weitere Sanktionen einigen können, steht zu bezweifeln. Eine Reihe von Staaten fürchtet um die Erdgaslieferungen aus Russland oder scheut die Auswirkungen der Sanktionen auf die eigene Volkswirtschaft.[9] Moskaus größte Sorge gilt zwar einem möglichen Beitritt der Ukraine zur EU und zur NATO. Doch in beiden Organisationen gibt es unter den Mitgliedstaaten keine ausreichende Unterstützung für eine Aufnahme der Ukraine.[10] Der Grund ist nicht nur, dass viele Mitgliedstaaten die Konfrontation mit Russland vermeiden wollen, sondern auch, dass sie der Ukraine gegenüber nicht die Verpflichtungen eingehen wollen, die mit einer Mitgliedschaft in EU und NATO einhergehen. Hinzu kommt der irritierende Popularitätszuwachs rechter und linker Parteien und Bewegungen in Europa, die gegen die EU, gegen die USA, gegen die Sparpolitik, gegen Einwanderer und für Putin Stimmung machen. Er führt dazu, dass gemäßigte Parteien die Ukraine nicht allzu sehr unterstützen wollen, da sie fürchten, dass dies sie bei den nächsten Wahlen Stimmen kosten könnte. In Russland hingegen steht offensichtlich eine große Mehrheit hinter Putin und seinem Vorgehen in der Ukraine.[11]
Zu all dem kommt, dass Korruption und Desorganisation die ukrainischen Streitkräfte schwächen und es in Armee sowie in anderen Schlüsselinstitutionen weiterhin Kräfte gibt, die mit Moskau sympathisieren. Auch aus diesen Gründen sind die westlichen Regierungen zurückhaltend bei der Unterstützung der Ukraine.
Was Russland schwächt
Der Kreml mag bereit sein, einen hohen Preis für sein Vorgehen in der Ukraine zu zahlen. Doch die Kosten sind enorm gestiegen. Das militärische Eingreifen in Georgien im Jahr 2008 und die Besetzung der Krim im Februar 2014 waren kurze Operationen, bei denen Moskau seine Ziele rasch erreichte. Dies gelang im Osten der Ukraine nicht. Die russländischen Truppen und die von ihnen unterstützten Separatisten sind zwar eindeutig den Kiewer Truppen überlegen. Doch es ist ihnen nicht gelungen, deren Widerstand zu brechen. Beide Seiten haben erhebliche Opfer zu verzeichnen. In der Ukraine gab es eine öffentliche Debatte über die steigenden Opferzahlen. Dies hat zwar nicht dazu geführt, dass die Ukrainer sich einhellig hinter die Staatsführung stellen. Bei der Haltung zu Russland gibt es jedoch nun einen breiten Konsens. Moskau versuchte hingegen, eine öffentliche Debatte über getötete „Freiwillige“ zu verhindern.[12] Es dürfte dem Kreml also klar sein, dass die öffentliche Unterstützung für Russlands Vorgehen in der Ukraine abnehmen wird, wenn die Zahl der Opfer immer weiter wächst.
Der Kreml steht daher vor einem Dilemma: Schickt er keine neuen Soldaten und Kämpfer in den Donbass, wird der Widerstand Kiews nicht zu brechen sein. Die Kämpfe würden weiter gehen und die Zahl der Toten steigen. Schickt der Kreml noch mehr Soldaten, könnten die Opferzahlen noch stärker zunehmen, ohne dass Kiew kapituliert. Wenn es dem Kreml allerdings vor allem darum ginge, weitere Opfer zu vermeiden, so könnte er einfach die regulären Soldaten abziehen und die Belieferung der Kämpfer mit Waffen und Munition einstellen. Dies würde jedoch die Nationalisten in Russland gegen Putin aufbringen, von deren Unterstützung er sich abhängig gemacht hat.
Um die Zahl der getöteten Russen nicht allzu sehr anwachsen zu lassen, hat der Kreml mit Hilfe von Ramsan Kadyrov Tschetschenen für den Krieg im Donbass mobilisiert sowie Tadschiken rekrutiert.[13] Doch deren Bereitschaft, für die „russische Sache“ zu sterben, dürfte nicht allzu lange anhalten. Zudem sind tote Tschetschenen und Tadschiken zwar der russischen Öffentlichkeit recht gleichgültig, nicht aber der tschetschenischen und tadschikischen.
Dies verweist auf ein anderes Problem, mit dem der Kreml konfrontiert ist. Je länger der Krieg im Donbass andauert und je mehr der Eindruck entsteht, dass sich Russland militärisch nicht durchsetzen kann, desto mehr könnte dies unzufriedene Gruppen in Russland – vor allem im Nordkaukasus – ermutigen, ebenfalls den Aufstand zu wagen.
Dies muss nicht geschehen. Fest steht jedoch, dass die Sanktionen des Westens und insbesondere der Verfall des Ölpreises – der nicht in Zusammenhang mit Russland steht, sondern auf einen Preiskampf zwischen Saudi-Arabien und den USA zurückgeht – Auswirkungen auf Russlands Volkswirtschaft haben. Das Regime gibt sich zwar sehr sicher, dass die Bevölkerung große Einschnitte hinzunehmen bereit ist, um sein Vorgehen in der Ukraine zu unterstützen. Doch dieser Zweckoptimismus könnte rasch verfliegen, wenn die Einschränkungen anhalten und noch zunehmen.
Bereits vor 2014 litt Russland daran, dass seine Volkswirtschaft – abgesehen vom Öl- und Gassektor – äußerst schwach ist und enorme Gelder in den Taschen von Putins engster Entourage verschwinden.[14] Dies schwächt Russland. Doch Putin war nicht in der Lage, die Wirtschaft zu modernisieren, und nicht gewillt, die Selbstbereicherung der Machtclique zu beenden. Auch Russlands demographische Probleme, der schlechte Gesundheitszustand der Bevölkerung, die weitverbreitete Xenophobie gegenüber Arbeitsmigranten, auf die Russland doch angewiesen ist, sowie die Auswanderung junger, gut ausgebildeter Menschen sind Faktoren, die eine starke Position Russlands gegenüber dem Westen erschweren.
Ausstrahlung in andere Weltregionen
Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen findet nicht im isolierten Raum statt. Vielmehr werden weiterhin zahlreiche Konflikte im Nahen und Mittleren Osten gewaltsam ausgetragen, die Spannungen zwischen China und einigen seiner Nachbarstaaten verschärfen sich und der Aufstieg Indiens sowie einiger anderer nichtwestlicher Staaten setzt sich fort.
Die übrige Welt reagierte auf den Krieg in der Ukraine und die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen äußerst zurückhaltend. Nur Syrien und Venezuela haben die Position Moskaus unterstützt.[15] Einige Regierungen im Nahen Osten scheinen sogar besorgt zu sein, dass die Aufmerksamkeit des Westens von der schweren Krise abgelenkt wird, die ihre Region derzeit erschüttert. Die Ukraine und die westlichen Staaten zeigten sich enttäuscht, dass die meisten Regierungen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sich der Kritik an Russland nicht angeschlossen haben. Moskau scheint jedoch ebenso enttäuscht zu sein, dass es aus eben diesen Staaten bei seiner Kritik am Westen keine besondere Unterstützung erfahren hat. Beide Seiten mussten zur Kenntnis nehmen, dass die entfernteren Staaten kein Interesse haben, in diesen Konflikt hineingezogen zu werden.
Dennoch hat die Konfrontation in der Ukraine Konsequenzen. Russland reagierte Mitte 2014 auf erste Schritte, die die westeuropäischen Staaten zur Reduzierung der Ölimporte aus Russland unternahmen, mit der Unterzeichnung eines Abkommens mit China. Je länger der Konflikt dauert, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die ökonomische Verflechtung zwischen Russland und Westeuropa abnimmt. Da Moskau darauf reagieren muss, wird Russlands wirtschaftliche – und eventuell auch politische – Abhängigkeit von China wachsen. Wenn dies eintritt und die Spannungen zwischen Indien und China zunehmen – was zu befürchten steht –, dann wird Delhi Russland nicht mehr als Vermittler im Konflikt mit Peking wahrnehmen und erst recht nicht als Kraft, die China bremst. So sehr sich Indien die glorreichen Tage der engen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nach dem Bruch zwischen Peking und Moskau 1960 zurückwünschen mag, so könnte Delhi doch zu dem Ergebnis kommen, dass ihm eher als Russland der Westen in der Konkurrenz mit China helfen kann.[16] Ob der Westen dazu bereit ist, ist allerdings unklar. Peking könnte hingegen durchaus aus der schwachen Reaktion des Westens auf Russlands militärisches Vorgehen in der Ukraine den Schluss ziehen, dass dieser auch auf eine offensive Politik Chinas gegenüber seinen Nachbarstaaten nicht reagieren würde.
Auswirkungen könnte die Auseinandersetzung mit Russland auch auf die Beziehungen des Westens zum Iran haben. Wenn die westeuropäischen Staaten versuchen, die Erdgasimporte aus Russland zu reduzieren, indem sie mehr Erdgas aus dem Iran importieren, so könnte dies für Washington ein Anlass sein, die Beziehungen zu Teheran zu verbessern. Sollte dies geschehen, könnte der Iran mit seinen enormen Erdgasvorkommen den Bedarf der meisten europäischen Staaten decken. Da der Iran dringend Geld braucht und mit Russland in eine zweihundertjahrelange Konfliktgeschichte verwickelt ist, würde er sich diese Gelegenheit sicher nicht entgehen lassen.[17] Israel und die Golf-Staaten würden gewiss versuchen, eine Annäherung zwischen dem Iran und dem Westen zu verhindern. Doch je schlechter die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen werden, desto größer wird in Europa und den USA der Wunsch werden, das Verhältnis zum Iran zu verbessern.
Was tun?
Die heiße Phase des Krieges in der Ukraine könnte mit dem in Minsk im Februar 2015 ausgehandelten Waffenstillstand beendet sein. Doch das Vertrauen zwischen Kiew und Moskau ist bis auf weiteres zerstört, und die nationalistische Mobilisierung ist sowohl in Russland als auch in der Ukraine groß. Wenn die Kämpfe aus diesem Grund wieder aufflammen, dürfte Russland kurzfristig eindeutig in der stärkeren Position sein. Um das Ziel zu erreichen, die Ukraine zu schwächen und die vermeintlichen Absichten des Westens zu durchkreuzen, scheint Moskau gewillt, einen erheblichen Preis zu zahlen. Die westlichen Regierungen sind zwar entsetzt über Moskaus Vorgehen in der Ukraine, zeigen jedoch keine Bereitschaft, den Konflikt mit Moskau anzuheizen und die Ukraine mit ihrer ohnehin schwachen Staatlichkeit in größerem Maße zu unterstützen.
Russland könnte es daher gelingen, weitere Gebiete in der Ukraine zu besetzen. Moskau wird den Westen jedoch nicht dazu bringen, dies stillschweigend zu akzeptieren und wie nach dem Georgien-Krieg 2008 zu tun, als sei nichts geschehen. Je weiter Russland in die Ukraine vordringt, desto mehr wird der Westen das Putin-Regime als ein Gegenüber sehen, mit dem man nicht verhandeln kann. Auch wenn die westlichen Staaten eine direkte Konfrontation mit Russland weiter scheuen, so werden sie doch versuchen, sich gegenüber Einflussnahme aus Russland abzuschotten und die Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland zu verringern. Darüber hinaus werden territoriale Erfolge in der Ukraine all die Schwächen Russlands – die geringe ökonomische Leistungsfähigkeit, den Bevölkerungsrückgang, die prekäre Stabilität des Regimes – nicht beseitigen. Die Probleme werden vielmehr wachsen. Somit ist Russlands Vorgehen auf Dauer selbstzerstörerisch. Doch dem Kreml fehlt entweder die Einsicht in diesen Zusammenhang, oder dies allein wird ihn in nächster Zeit nicht davon abhalten, den Krieg in der Ukraine fortzusetzen. Denn die Schwierigkeiten des Westens, eine Antwort auf das aggressive Verhalten Russlands zu finden, bestätigen zunächst den Aggressor.
Wie kann der Westen darauf reagieren?
- Wie im Fall Georgiens nach dem Krieg von 2008 sollte der Westen die Ukraine dazu anhalten, sich vor allem auf die ökonomischen und politischen Reformen zu konzentrieren, anstatt zu versuchen, verlorene Gebiete zurückzuerobern.
- Die gegen hochrangige Politiker Russlands gerichteten Sanktionen sollten auf Putin ausgeweitet werden. Das gilt auch für Einreiseverbote.
- Die im Westen angelegten Vermögen Putins und seiner Entourage sollten nicht nur eingefroren, sondern eingezogen werden. Sie sollten verwendet werden, um die Opfer der aggressiven Politik des Kreml in Georgien, der Ukraine und in Russland zu entschädigen.
- Da Russland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ein Vetorecht hat, kann dieser nicht angemessen auf Russlands Aggression reagieren. Der Westen sollte daher eine Debatte darüber anstoßen, wie ein Gremium zusammengesetzt sein könnte, das ausreichend internationale Unterstützung erfährt, dem Russland aber nicht angehört. Eine Möglichkeit wäre ein informeller Kreis der gegenwärtigen Mitglieder des Sicherheitsrats unter Ausschluss Russlands, ergänzt um jene Staaten, die wegen ihrer ökonomischen und politischen Bedeutung Anspruch auf einen ständigen Sitz haben könnten. Zu denken ist vor allem an Deutschland, Japan, Indien und Brasilien. Wenn diese Staaten eine solche Möglichkeit geboten bekommen, wird es ihnen leichter fallen, ihre Skrupel ob der Rechtmäßigkeit eines solchen Gremiums zu überwinden. Russland sollte natürlich wissen, dass es jederzeit in den Kreis der Vetomächte zurückkehren kann, sobald es sein aggressives Verhalten einstellt.
- Sollte eine solche Reform des Sicherheitsrats gegenwärtig am Widerstand wichtiger Staaten scheitern, so wäre darüber zu diskutieren, ob das Putin-Regime mit seinem völkerrechtswidrigen Verhalten noch das Recht hat, Russland bei den Vereinten Nationen zu vertreten. An Stelle des Regimes könnte ein von Russen gestellter Ausschuss treten, eine Art Exil-Regierung, der Vertreter der Demokratie- und Menschenrechtsbewegung angehören. Aus dieser Gruppe könnte eine Regierung für ein Russland nach Putin hervorgehen, womit verhindert werden könnte, dass sich wiederholt, was 1991 geschah, als mit Boris El’cin Vertreter der alten Nomenklatura statt echter Demokraten an die Macht kamen.
Natürlich steht nicht zu erwarten, dass auch nur einer dieser Vorschläge umgesetzt wird. Chancen auf Verwirklichung hat allenfalls der Versuch, die Ukraine zu echten Reformen zu bringen. Doch angesichts der Aggression Russlands stehen auch dafür die Chancen schlecht. Die einzige realistische Möglichkeit des Westens könnte daher sein, wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts auf eine Containment-Politik zu setzen. Moskau sollte durch Abschreckung daran gehindert werden, weitere Gebiete in der Ukraine oder gar jenseits der Ukraine zu besetzen. Dazu müssen die europäischen Staaten und die USA gemeinsam vorgehen. Zusätzlich zur Eindämmung der Aggression des Putin-Regimes sollten wir der russischen Öffentlichkeit helfen, ihre Vorstellung von einem demokratischen Russland, das den Willen anderer respektiert und zur Kooperation bereit ist, zu artikulieren. Dies ist auch ein Signal, dass der Westen seinen Blick nicht ausschließlich auf das Vorgehen des Putin-Regimes in der Ukraine richtet, sondern Russland weiterhin als ein vielfältiges Land wahrnimmt.
Aus dem Englischen von Volker Weichsel, Berlin
[1] Siehe dazu Mark N. Katz: Is Putin Seeking a Bosnian Solution in Ukraine?,
<https://katzeyeview.wordpress.com/2014/04/21/is-putin-seeking-a-bosnian-solution-in-ukraine>.
[2] In der im Staatsfernsehen ausgestrahlten Bürgerfragestunde „Prjamaja linija s Vladimirom Putinym“ erklärte Putin Mitte April 2014, dass zu Zeiten der Zaren die Gebiete von Charkov, Doneck, Lugansk, Cherson, Nikolaev und Odessa nicht zur Ukraine gehört hätten und damals „Novorossija“ genannt worden seien. <www.youtube.com/watch?v=YXr-oLbT8Qc>.
[3] Robert Coalson: Putin Pledges to Protect All Ethnic Russians Anywhere. So, Where Are They? RFE/RL, 10.4.2014, <www.rferl.org/content/russia-ethnic-russification-baltics-kazakhstan- soviet/25328281.html>.
[4] Siehe dazu exemplarisch die Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 4.9.2007, <http://kremlin.ru/transcripts/24034>, sowie die Rede Putins am 18.4.2014, dem Tag der Annexion der Krim, <http://kremlin.ru/news/20603>.
[5] Ben Judah: Why Russia No Longer Fears the West. Politico, 2.3.2014, <www.politico.com/ magazine/story/2014/03/russia-vladimir-putin-the-west-104134.html#.VPjETE-CrqB>.
[6] Andrew Higgins, Andrew E. Kramer: Ukraine Leader Was Defeated Even Before He Was Ousted. New York Times, 3.1.2015, <www.nytimes.com/2015/01/04/world/europe/ukraine-leader-was-defeated-even-before-he-was-ousted.html>.
[7] Charles Grant: Will Putin Delete the Reset?, <www.nytimes.com/2012/04/05/opinion/will-putin-delete-the-reset.html>.
[8] Fiona Hill, Clifford Gaddy: How Aiding the Ukrainian Military Could Push Putin into a Regional War. Washington Post, 6.2.2015, <www.washingtonpost.com/opinions/giving-weapons-to-ukraine-could-goad-putin-into-a-regional-war/2015/02/05/ec2e9680-abf5-11e4-ad71-7b9eba0f87d6_story.html>.
[9] Exemplarisch am Beispiel der Tschechischen Republik: Petr Kratochvíl: Von Falken und Russlandfreunden. Die tschechische Debatte über die EU-Sanktionen, in: Gefährliche Unschärfe. Russland, die Ukraine und der Krieg im Donbass [= Osteuropa, 9–10/2014], S. 67–78. – Siehe auch: EU Not in a Hurry to Introduce Further Sanctions against Russia, Deutsche Welle, 6.3.2015, <www.dw.de/eu-not-in-a-hurry-to-introduce-furrther-sanctions-against-russia/a-18300517>.
[10] Ukraine President Tells Poles He Wants EU, NATO Membership, Wall Street Journal, 17.12.2014, <www.wsj.com/articles/BL-RTBB-4720>.
[11] Support for Putin Among Russian Voters Doubles. Moscow Times, 5.3.2015.
[12] They Were Never There: Russia’s Silence for Families of Troops Killed in Ukraine. The Guardian, 19.1.2015.
[13] Alexander Golts: Russian Army Facing Big Problems in Ukraine. Moscow Times, 9.2.2015.
[14] Siehe dazu jüngst Karen Dawisha: Putin’s Kleptocracy. New York 2014.
[15] Who’s on Team Putin? Slate, 20.3.2014, <www.slate.com/blogs/the_world_/2014/03/20/ the_small_group_of_countries_supporting_russia_s_position_in_ukraine_venezuela.html>.
[16] Einiges spricht dafür, dass Delhi dies bereits erwägt. U.S. and India Share Sense of Unease over China. New York Times, 26.1.2015.
[17] Ausführlicher dazu Mark N. Katz: Strategic Case for U.S.-Iran Rapprochement, Middle East
Strategy at Harvard, 3.11.2008, <blogs.law.harvard.edu/mesh/2008/11/strategic_case_ for_us_
iran_approchement/>.
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