Titelbild Osteuropa 1-2/2015

Aus Osteuropa 1-2/2015

Editorial
Zerrissen

Manfred Sapper, Volker Weichsel

(Osteuropa 1-2/2015, S. 3–4)

Volltext

Pyrrhus aus Petersburg Wir wissen nicht, was in Putins Hirn vorgeht. Wir müssen es auch nicht wissen. Denn das politische Kalkül, das Präsident Putin und sein Umfeld leitete, als sie im Februar 2014 die Entscheidung trafen, Angehörige des Militärgeheimdienstes GRU und des FSB, Quislinge sowie reguläre Truppen in Marsch zu setzen, um die Krim zu besetzen, ist offensichtlich. Geheimdienstler sind keine Hasardeure. Sie müssen das Risiko für gering und die Erfolgsaussichten für groß gehalten haben. Sie erwarteten keinen Krieg, der, wie wir seit Clausewitz wissen, mit der Verteidigung beginnt. Ohne diese bleibt ein Truppeneinmarsch eine bloße Landnahme unter akuter Androhung von Gewalt. Sie erwarteten auch keine ernste Reaktion der EU und der USA. Die laue Antwort des Westens auf die militärische Intervention in Georgien im August 2008 legte das nahe. Russlands Führung hielt an diesem Kalkül wohl auch noch fest, als sie Geld, Waffen, Polittechnologen, irreguläre Kämpfer und schließlich reguläre Truppen in den Donbass schickte, um dort einen verdeckten Krieg gegen die Ukraine zu führen. Es gelang ihr jedoch nicht mehr, vor der Weltöffentlichkeit zu verschleiern, dass Russland Kriegspartei ist. Ziel war es, den Aufbau einer neuen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ukraine zu torpedieren und die Westorientierung des Landes zu unterbinden. An die Propagandabehauptung, es sei um die Verhinderung eines Genozids an der russischsprachigen Bevölkerung gegangen, glaubte selbst in Moskau niemand. Eine militärische Bedrohung durch das Vorrücken einer um die Ukraine erweiterten NATO mag, so sehr dies einer Grundlage entbehrt, mancher tatsächlich gesehen haben. Ganz real aber war die Furcht, der revolutionäre Funken könnte aus der Ukraine auf Russland überspringen. Dies wollte das Regime um jeden Preis verhindern. Ende Februar 2015 ging die bislang letzte heiße Phase des Krieges im Donbass zu Ende. Seitdem herrscht ein prekärer Waffenstillstand, der den Blick auf die materiellen, physischen und psychischen Verwüstungen des Krieges freigibt. Die genaue Zahl der Toten kennt keiner. Von 6000 bis 10 000 ist die Rede. Zehntausende Zivilisten und Kämpfer sind verletzt und traumatisiert. Fast eine Million Menschen sind zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden, mindestens weitere 500 000 sind nach Russland geflohen. Die Zerstörung von Städten, Siedlungen und Infrastruktur ist immens. In den besetzten Gebieten wehen nun die Flaggen der „Volksrepublik Doneck“ und der „Volksrepublik Lugansk“. Moskau hat zwei neue Quasistaaten produziert. Die Ukraine ist zerrissen und steht am Rande des Zusammenbruchs. Die soziale Lage der Bevölkerung ist katastrophal. Ob die Warlords der Volksrepubliken ihre Kämpfer nur umgruppieren, um – wie angekündigt – mit Hilfe russländischer Truppen nach Mariupol’ zu greifen, ist ungewiss. Auch auf der ukrainischen Seite gibt es Kräfte, die auf eine militärische Rückeroberung drängen. Ist das Kalkül des Kreml aufgegangen? Wer die triumphale Zeremonie am 18. März 2014 sah, als die Krim und Sevastopol’ mit der formalen Aufnahme in die Russländische Föderation heim ins Russische Reich geholt wurden, oder wer den feixenden Präsidenten Putin am Morgen des 10. Februar 2015 nach den nächtlichen Verhandlungen über den Waffenstillstand in Minsk beobachtete, könnte zu diesem Urteil kommen. Doch tatsächlich gehört Putins „Sieg“ zu jener Gattung militärischer Taten, von denen Pyrrhus von Epirus einst sagte: „Noch so ein Sieg, und wir sind verloren.“ In der Tat erinnern viele Geschehnisse der letzten anderthalb Jahre an das Afghanistan-Debakel, in das Leonid Brežnev 1979 die stagnierende Sowjetunion führte. Damals war ein kleiner Machtzirkel aus Geheimdienstlern und Militärs Gefangener der eigenen Propaganda geworden. Er ignorierte den gesellschaftlichen Wandel im Inneren des Nachbarstaats, bezichtigte die USA und die NATO der Einmischung und sah sich eingekreist. Der unerklärte Krieg führte das Land in die internationale Isolation. Der ökonomische und politische Schaden war so groß, dass Afghanistan zum ersten Sargnagel der Sowjetunion wurde. Nun hat sich all das cum grano salis wiederholt. Putin hat Russland weltpolitisch in die Isolation geführt. Bereits im März 2014 verurteilte die Vollversammlung der Vereinten Nationen mit einer absoluten Mehrheit der Staaten die Annexion der Krim. Ein Jahr später erkennen nur Afghanistan, Nicaragua, Syrien und Venezuela die Zugehörigkeit der Krim zu Russland an. Selbst Belarus und Kasachstan bleiben auf Distanz, weil deren Autokraten Lukašėnka und Nasarbajew wissen, dass der revisionistische, großrussisch-imperiale Kurs Russlands eine Gefahr für ihr Land und für ihr Regime ist. Aus China, das Russlands Führung so gerne als neuen Partner bezeichnet, ist kein Wort der Unterstützung zu hören. Es war ein blankes Fehlkalkül, wenn der kleine Machtzirkel um Putin annahm, dass Staaten wie Deutschland wegen wirtschaftlicher Interessen oder aus bloßer Schwäche nicht auf die militärische Aggression reagieren würden. Auch das Ziel, die EU zu spalten, hat Moskau verfehlt. Das Gegenteil ist eingetreten. Moskaus Aggression hat die Europäische Union konsolidiert. Einige Regierungen versuchen zwar, ihren Spielraum in der EU zu vergrößern, indem sie mit Moskau kokettieren. Doch die 28 Staaten haben verstanden, dass Russlands Angriff auf die Ukraine, die Zerstörung ihrer territorialen Integrität, ein Angriff auf die Grundlagen der europäischen Friedensordnung ist. Deshalb haben sie sich einhellig für Sanktionen gegen Russland entschieden. Und nach Jahren des Zögerns und Zauderns sind sich die meisten EU-Staaten heute darin einig, dass die Ukraine zu einem Testfall für Europa geworden ist. Es geht um die Frage, ob es den Ukrainern mit Hilfe der EU gelingt, autoritäre Willkür, korrupte Praktiken in Justiz und öffentlicher Verwaltung sowie kleptokratische Misswirtschaft zu überwinden und einen funktionierenden demokratischen und wirtschaftlich leistungsfähigen Staat aufzubauen, oder ob es Russland gelingt, genau das zu verhindern. Die Antwort ist offen. Es wird Jahre dauern, ehe wir sie bekommen. Eines ist klar: Die Annexion der Krim und der Krieg sind von der innenpolitischen Entwicklung in Russland seit 2012 nicht zu trennen. Seitdem ist eine weitere Verschärfung des repressiven Kurses zu beobachten. Das Putin-Regime hat sich entschieden, auf die Imitation von demokratischen Praktiken und die Simulation von Kooperation zur Modernisierung des Landes zu verzichten. Zur Herrschaftssicherung agiert Putin im Modus des Ausnahmezustands. Dazu gehören der Krieg im Osten der Ukraine, die antiwestliche Mobilisierung, die innere Militarisierung sowie die Schaffung eines Klimas der Angst, in dem politische Gegner als Feinde, Agenten oder „fünfte Kolonne“ diffamiert werden. Der prominente Oppositionelle Boris Nemcov wurde in diesem Klima ermordet. Die Radikalisierung ist mit den Händen zu greifen: Wurde die militärische Besetzung der Krim vor einem Jahr noch mit dreisten Lügen verschleiert, so lässt sich Putin heute als Anführer dieses Coups feiern. Doch mit all dem lässt sich kein Staat machen. Das bisherige Wirtschaftsmodell funktioniert in Zeiten niedriger Ölpreise nicht mehr. Auch das erinnert an die Agonie der späten Brežnev-Periode. Es wird Jahre dauern, bis Russland einen Weg aus dieser innen- und außenpolitischen Sackgasse findet, in die Putin das Land durch die Annexion der Krim und den Krieg in der Ukraine manövriert hat. Manfred Sapper, Volker Weichsel