Titelbild Osteuropa 4/2016

Aus Osteuropa 4/2016

Imperien in der Krise
Terrorismus und imperiale Gewalt in Osteuropa vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Felicitas Fischer von Weikersthal, Anke Hilbrenner


Abstract in English

Abstract

Terrorismus wird spätestens seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York im September 2001 als globale Bedrohung wahrgenommen. Durch die allgegenwärtigen Meldungen in den Medien und die Warnungen vor Terror beeinflusst er in unterschiedlicher Intensität das Leben sowohl in Europa und in den USA als auch an den Peripherien der modernen „westlichen“ Welt, vor allem im Nahen Osten und in Afrika. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und insbesondere im Zentrum der Russländischen Föderation ist die terroristische Gefahr seit Mitte der 1990er Jahre präsent. Die Anschläge auf die Moskauer Metro (1996, 2004, 2010), die Sprengstoffattentate auf Wohnhäuser (1999), die Geiseldramen in einem Musical-Theater in Moskau (2002) und in einer Schule in Beslan (2004) oder zuletzt die Anschläge in Wolgograd (2013) haben die Verwundbarkeit des Zentrums deutlich vor Augen geführt. Auch hundert Jahre zuvor war es das Russische Reich, das früher und stärker als andere Staaten der Welt mit Terrorismus konfrontiert wurde. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert weiteten sich vor allem an den Rändern des Reiches, etwa im Ostseeraum, in Polen, den ukrainischen Gebieten, aber auch im Kaukasus einzelne Terror-anschläge zu einer „Epidemie der Kampfaktivitäten“ (epidemija boevizma) aus. Auch die Anschläge des 21. Jahrhunderts in Russlands Metropole sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Ursprung des heutigen Terrorismus ebenfalls an den Rändern und im Verhältnis zwischen Peripherie und Metropole zu suchen ist. Die Akteure an der imperialen Peripherie fühlen sich von den hegemonialen Strukturen des Zentrums ausgeschlossen und an politischer Partizipation sowie kultureller oder religiöser Selbstbestimmung gehindert. Diese Akteure wollen wir im Anschluss an die Terminologie der postcolonial studies als „subaltern“ bezeichnen. Ihre Subalternität ist nicht essentiell, sondern sie bildet sich aus der Selbstwahrnehmung der Menschen an der Peripherie als Machtlose oder Unterworfene. Gleichzeitig wird sie in den Diskursen der Metropole hergestellt. Terroristische Gewalt spielt in dieser Bildung des Subalternen eine wichtige Rolle. Subalterne Akteure stellen die als Fremdherrschaft wahrgenommene Macht der Metropole mit gewaltsamen Mitteln in Frage, indem sie etwa Repräsentanten der zentralen Macht als symbolische Ziele für Attentate wählen. Häufig tragen sie die Gewalt in die Metropole, da ein Anschlag in Moskau eine größere Signalwirkung erzielt als etwa in Groznyj. Gleichzeitig nehmen Öffentlichkeit und Politik in der Metropole die imperiale Peripherie als wild, rückständig, unzivilisiert, gewalttätig und gefährlich wahr. Aus dieser Wahrnehmung erwächst nicht zuletzt die Bereitschaft, der subalternen Bevölkerung mit gewaltsamer Herrschaft, etwa mit der vielbeschworenen „harten Hand“, entgegenzutreten. Als Reaktion auf anti-imperiale Herausforderungen an der Peripherie charakterisierten die Herrschenden in der imperialen Metropole des Russischen Reiches ganze Re-gionen als fremde und bedrohliche Orte, ganze Bevölkerungsgruppen als Terroristen und damit als wild, fremd und antirussisch, und sie schufen sich damit eine „Topographie des Terrorismus“ (Sophie Roche). In Russisch-Polen im frühen 20. Jahrhundert, in Tschetschenien oder auch in Tadschikistan im 21. Jahrhundert entsprachen und entsprechen diese Fremdzuschreibungen einigen über Jahrzehnte beschworenen Ethnostereotypen, die den Einsatz außerordentlicher Gegenmaßnahmen legitimierten. Die Instrumentalisierung des Terror-Diskurses von staatlicher Seite schlägt sich in der Dämonisierung innenpolitischer Gegner auch innerhalb der (ehemaligen) Peripherie nieder, wie Moritz Florin und Tim Epkenhans in ihren Beiträgen darlegen. Die häufig scharfe Reaktion der Metropole auf separatistische Bestrebungen schrieb die ohnehin existierende Selbstwahrnehmung der Bevölkerung in der Peripherie als Opfer fort und trug – zumindest kurzfristig – zur Legitimation der Taten in der Zielgruppe bei. „Kämpfer“ der jüdischen Arbeiterpartei Bund, der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) oder der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) inszenierten sich ebenso wie Tschetschenen als Opfer vielfacher Benachteiligungen und legitimierten die Gewalt durch den Verweis auf wirtschaftliche Ausbeutung oder auf kulturelle Fremdbestimmung. Damit wird Terrorismus zum Ausdruck eines auf Unterwerfung und Ausbeutung bauenden Spannungsverhältnisses zwischen Metropole und Peripherie. Jede Seite bezichtigt die andere illegitimer Gewaltanwendung. Es ist diese wechselseitige Zuschreibung von Zentrum und Peripherie, die den Terrorismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit dem des 21. Jahrhunderts verbindet. Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert entlud sich an den Peripherien des Russischen, des Osmanischen und des Habsburger Reiches antiimperiale Gewalt, die unter bestimmten Konstellationen terroristische Züge annahm oder als Terrorismus wahrgenommen wurde. In vielen Fällen übten Gruppen, die sozialrevolutionäre Wurzeln hatten und durch Einflüsse aus Westeuropa ein modernes nationales Denken entwickelten, terroristische Gewalt aus. Diese Gruppen, denen das jeweilige Imperium kul-turelle Autonomie, gesellschaftliche Partizipation oder nationale Selbstbestimmung verwehrte, bedienten sich des Terrorismus als Strategie, um für eine politische und soziale Gleichberechtigung innerhalb des Imperiums oder für eine politische Unabhängigkeit in Form eines modernen Nationalstaates zu kämpfen. Dies gilt etwa für die Armenier, die sowohl gegen die zarische als auch gegen die osmanische Hegemonie in den von Armeniern bewohnten Regionen kämpften, aber auch für Juden, Polen und Finnen im Russischen sowie für Bosnier im Habsburger Reich. Ereignisse in der Metropole, wie die Machterosion des Russischen Reiches kurz vor und während der ersten Revolution von 1905, wurden von einer Eskalation der Gewalt an der Peripherie begleitet. In der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschärfenden Krise versuchte die imperiale Metropole die Gefahr, die von den Unruhen an der als notorisch gewalttätig wahrgenommenen Peripherie auf das gesamte Reich ausstrahlte, gewaltsam zu unterdrücken. Auf diesen Druck reagierten die subalternen Akteure an der Peripherie, die zum antikolonialen Widerstand bereit waren, mit noch gewalttätigeren Mitteln. Aus einzelnen Terroranschlägen wurde der „Massenterror“, wie ihn Zeitgenossen nannten. Während der Revolution von 1905 bis 1907 war Terrorismus ein Massenphänomen, was die Reichweite, die Täter und die Zahl und Herkunft der Opfer angeht. Bomben wurden in Kinos oder Cafés geworfen, kleine Ladenbesitzer als Vertreter der Bourgeoisie ebenso getötet wie einfache Polizisten als Repräsentanten des Staates. Die imperialen Strukturen, durch die das Russische Reich seine Peripherie geprägt hatte, überdauerten die Zäsur von 1917. Die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung bediente sich in den 1930er und 1940er Jahren des Terrorismus im Kampf gegen die polnische und die sowjetische Fremdherrschaft. Die Ukraine und darüber hinaus ganz Ostmitteleuropa waren während dieser Zeit das Objekt sowohl sowjetischer als auch deutscher imperialer Bestrebungen. Auch während der Auflösung der Sowjetunion war es die Krise der Metropole, die den Unabhängigkeitsbewegungen an der Peripherie Auftrieb verschaffte. Terrorismus kam hier allerdings nicht im eigentlichen Dekolonisationsprozess zum Tragen, sondern ist ein postimperiales Phänomen an der Peripherie des ehemaligen Sowjetimperiums: sei es durch die Reibung bleibender russischer imperialer Ansprüche mit separatistischen Bestrebungen der Tschetschenen, sei es durch die postkolonial geprägte Neuorientierung und das Weiterführen hegemonialer Denkweisen in Zentralasien. Terroristische und repressive Gewalt markieren also die Peripherien des ehemaligen sowjetischen Imperiums ebenso wie die europäischen Peripherien etwa in Nordafrika oder im Nahen Osten. Diese Wahrnehmung wird durch jene Akteure, welche die terroristische Gewalt in die jeweilige Metropole tragen, eher noch verstärkt. Dort werden die Fremdheit und Barbarei der Terroristen, welche die Probleme der Peripherie scheinbar ins Herz der imperialen Zivilisation transportieren, wie unter einem Brennglas verdichtet. Der kommunikative Erfolg dieser Delokalisierung des Terrorismus lässt den antikolonialen Kampf global werden. Nicht nur New York, Paris und Moskau sind überall. Vielmehr kann der Kampf gegen tatsächliche oder scheinbare Kolonisatoren auch in Zentralasien, im Kaukasus und auf dem Balkan oder in Syrien geführt werden. Mit ihren Gewalttaten beziehen sich die Kämpfer auf Probleme der Peripherie und artikulieren so ihre Subalternität – in den Vororten der Metropolen ebenso wie an den Peripherien der untergegangenen Imperien.

(Osteuropa 4/2016, S. 3–4)