Titelbild Osteuropa 6-7/2016

Aus Osteuropa 6-7/2016

Russlands Repressionsspirale
Der Prozess gegen Valentina Čerevatenko (Frauen des Don)

Jens Siegert

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Abstract in English

Abstract

Gegen die langjährige Vorsitzende der NGO Frauen des Don, Valentina Čerevatenko, läuft ein Strafverfahren. Ihr drohen zwei Jahre Haft, weil sie und die Frauen des Don sich weigern, dem perfiden Agentengesetz Folge zu leisten und sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Unabhängig davon, ob regionale Stellen in Rostov am Don oder der zentrale bürokratische Apparat in Moskau hinter diesem Prozess stehen, ist eines offensichtlich: Das „Agentengesetz“ dient dazu, die Repressionsschrauben weiter anzuziehen. In Russland ist eine neue Eskalationsstufe der Einschüchterung von Menschenrechtlern und NGOs erreicht, die Zerstörung von gesellschaftlichen Freiräumen geht weiter.

(Osteuropa 6-7/2016, S. 143–150)

Volltext

Gegen die langjährige Vorsitzende der NGO Frauen des Don, Valentina Čerevatenko, läuft ein Strafverfahren. Ihr drohen zwei Jahre Haft, weil sie und die Frauen des Don sich weigern, dem perfiden Agentengesetz Folge zu leisten und sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Unabhängig davon, ob regionale Stellen in Rostov am Don oder der zentrale bürokratische Apparat in Moskau hinter diesem Prozess stehen, ist eines offensichtlich: Das „Agentengesetz“ dient dazu, die Repressionsschrauben weiter anzuziehen. In Russland ist eine neue Eskalationsstufe der Einschüchterung von Menschenrechtlern und NGOs erreicht, die Zerstörung von gesellschaftlichen Freiräumen geht weiter.

Die Union der Frauen des Don (Sojuz „Ženščiny Dona“) ist eine der ältesten NGOs Russlands und wohl die bekannteste im Süden des Landes, zu dem auch der Nordkaukasus zählt. Gegründet wurde sie 1993 von Valentina Čerevatenko in Novočerkassk, einer 170 000 Einwohner zählenden Stadt etwa 40 Kilometer nördlich der Metropole Rostov am Don. Seit mehr als 20 Jahren kümmern sich Valentina Čerevatenko und ihre Kolleginnen und Kollegen um Menschenrechtsverletzungen in der Region. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Verteidigung der Rechte von Frauen sowie auf der Frauenförderung. Dazu gehört vor allem der Kampf gegen die in Russland insgesamt weit verbreitete und vor allem im Nordkaukasus endemische Gewalt gegen Frauen. Immer wieder rücken zudem die Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Initiativen, insbesondere auch hier die von Frauen, zur Vermeidung und Lösung von Konflikten ins Zentrum ihrer Arbeit. Die Union der Frauen des Don bietet zivilgesellschaftlichen Initiativen, aber auch Einzelpersonen rechtliche Unterstützung bei Rechtsverletzungen von Seiten der Behörden an. Viele Jahre gehörte auch die direkte Zusammenarbeit mit Polizeibehörden zu ihrer Arbeit, um dort die Sensibilität für die Diskriminierung von Frauen und die Bedürfnisse zivilgesellschaftlicher Initiativen zu stärken.

Schwierige Beziehung: der Staat und die NGOs

Wie für (fast) alle NGOs in Russland waren die vergangenen 25 Jahre auch für die Frauen des Don um Valentina Čerevatenko wechselhaft. In den 1990er Jahren unter Präsident Boris Elʼcin kümmerte sich der Staat zwar kaum um NGOs, konnte aber durchaus hart reagieren, wenn sie ihm in die Quere kamen. Die Frauen des Don gehörten zu den ersten, die sich um zivile Opfer des ersten Krieges in Tschetschenien (1994–1996) kümmerten.[1] Das war insofern naheliegend, als Tschetschenien nach russischen Maßstäben nicht weit von Novočerkassk entfernt ist. Das Gebiet Rostov, zu dem Novočerkassk gehört, war eine erste Anlaufstelle für Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet jenseits der nationalen Republiken des Nordkaukasus. Auch im Zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) setzten sie die Arbeit fort.[2] Allerdings hatte sich der Machtapparat unter Präsident Vladimir Putin verändert. NGOs standen nun wie alle anderen unabhängigen (oder sich unabhängig gebenden) Teile der Gesellschaft (z.B. politische Parteien, Presse, Wirtschaft) unter besonderem Verdacht, wenn sie sich nicht der Sicht der Dinge anschließen mochten, welche die herrschende Elite vertrat.

Das Verhältnis zwischen Staat und NGOs war im postsowjetischen Russland nie einfach.[3] Von Anfang an war es für russländische NGOs schwierig, die eigene Arbeit aus inländischen Mitteln zu finanzieren. In den 1990er Jahren fehlte aufgrund der tiefen Staats- und Wirtschaftskrise schlicht das Geld. Ausländische Stiftungen, westliche Staaten und internationale Organisationen bauten seinerzeit ein weit verzweigtes finanzielles Fördersystem auf. Viel geschah ehrenamtlich. Das ist auch heute noch so. Ab 1998 wuchs zwar die Wirtschaft wieder, aber nachdem Vladimir Putin zu Beginn seiner Präsidentschaft die großen Wirtschaftskonglomerate, darunter die großen privaten Medienhäuser unter seine Kontrolle gebracht hatte, die während der Privatisierungsperiode unter Präsident El’cin entstanden waren und einzelnen Personen (den sogenannten „Oligarchen“) oder kleinen Personengruppen gehörten, blieb die Finanzierung der NGOs auf geringem Niveau. Nur einige wenige Unternehmer und Stiftungen, wie Dmitrij Simons „Dynastie-Stiftung“ oder die „Prochorov-Stiftung“, wagten es, die Arbeit von NGOs auch in jenen Bereichen finanziell zu unterstützen, die der Kreml als „politisch sensibel“ ansah. Dazu gehörte von Anfang an der gesamte Bereich der Menschenrechte, die Kampagnen- und Lobby-Arbeit zur Änderung von Gesetzgebung, das zivilgesellschaftliche Engagement im Bereich des Umwelt- und Naturschutzes, sofern es mit staatlichen Interessen kollidierte, sowie die Arbeit im Nordkaukasus. Im Laufe der 2000er Jahre wurde das staatliche Quasiverbot der NGO-Finanzierung auf fast all jene NGOs ausgedehnt, die staatliches Handeln kritisierten, selbst wenn sie Kritik nur vereinzelt äußerten.

Mitgliedsbeiträge, in den 1990er Jahren nicht zuletzt wegen der allgemeinen Armut kaum möglich, sind in NGOs in Russland bis heute unüblich. Die Arbeit der Frauen des Don finanziert sich vorwiegend – und das gilt für viele andere NGOs ebenfalls –, aus projektbezogenen Zuwendungen der EU, unterschiedlicher staatlicher und privater Stiftungen aus den USA, der Heinrich-Böll-Stiftung und einer Reihe kleinerer Geldgeber, meist aus der EU. Hinzu kommen kleinere Zuwendungen aus inländischen Quellen, darunter bis vor zwei Jahren auch hin und wieder staatliche Projektförderung, ehrenamtliche Arbeit und in kleinerem Maße private Spenden.[4]

Aufbruch und Repression: Das NGO-Gesetz

Nach den Protesten im Winter 2011/2012 gegen Wahlfälschungen und die Wiederwahl Vladimir Putins zum Präsidenten unterzeichnete Putin nach seinem Amtsantritt im Sommer 2012 ein novelliertes „Gesetz über nichtkommerzielle Organisationen“, das 2006 bereits einmal verschärft worden war. Es war eine der zentralen Maßnahmen mit dem Ziel, unkontrollierte gesellschaftliche Aktivitäten zu begrenzen. Diese Novelle ist unter dem Namen „NGO-Agenten-Gesetz“ bekannt geworden. Nachdem zunächst keine NGO auf die neuen Vorgaben des NGO-Gesetzes eingegangen war und sich „freiwillig“ an das Justizministerium mit dem Antrag wandte, sich als eine NGO registrieren zu lassen, die „die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt“, begann die Generalstaatsanwaltschaft im Frühjahr 2013, reihenweise Überprüfungen von NGOs vorzunehmen. Es wurde untersucht, ob bei ihrer Tätigkeit die beiden im Gesetz genannten Voraussetzungen für eine Einstufung als „ausländischer Agent“ vorliegen: ob sie Finanzmittel aus dem Ausland erhalten (wobei es auf den Anteil an der Gesamtfinanzierung einer NGO nicht ankommt – ein Rubel reicht aus) und ob sie eine „politische Tätigkeit“ ausüben. Was unter „politischer Tätigkeit“ zu verstehen ist, war allerdings im Gesetz nicht näher definiert.

Etwa 20 NGOs erhielten als Ergebnis der Überprüfung die Auflage, sich als „ausländischer Agent“ registrieren zu lassen. Etwa 40 weiteren NGOs „empfahl“ die Generalstaatsanwaltschaft, das zu tun, weil sie sich andernfalls „möglicherweise“ strafbar machen könnten.[5] Dabei stufte die Staatsanwaltschaft praktisch jede öffentliche Tätigkeit als „politisch“ ein, mit der Begründung, damit ließe sich „staatliches Handeln beeinflussen“. Das wiederum führe dem Gesetz nach zur Einstufung als „ausländischer Agent“. Auch diese Abschreckungsmaßnahme half wenig. Keine NGO ließ sich registrieren.[6] Vielmehr zogen die meisten der von der Staatsanwaltschaft gemahnten NGOs gegen diese Bescheide und zahlreiche Strafbefehle wegen „Gesetzesübertretungen“ (administrativnoe pravonarušenie) vor Gericht. Daraufhin versah das Parlament das Justizministerium im Sommer 2014 mit dem Recht, NGOs auch ohne deren Antrag oder Zustimmung zu „ausländischen Agenten“ zu erklären. Seither wächst das entsprechende Register des Justizministeriums langsam aber stetig.[7] Die meisten der zwangsweise vom Justizministerium zu „ausländischen Agenten“ erklärten NGOs wurden zudem mit Bußgeldern belegt, weil sie sich nicht von sich aus gemeldet hatten. Die Bußgelder treffen sowohl die Organisationen als juristische Personen als auch die jeweiligen Leitungspersonen wie Direktoren, Vorstände oder Präsidenten persönlich.

Zwangsregistrierung und Strafsache

Auch die Frauen des Don gerieten bald ins Visier der Behörden. Schon bei der ersten Überprüfungswelle im Frühjahr 2013 zogen sie die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft auf sich. Sie waren unter den bereits erwähnten etwa 20 NGOs, denen vorgeworfen wurde, sie seien „Agenten“ und müssten sich („freiwillig“) als solche registrieren lassen. Zudem sollte die Organisation ein Bußgeld von 500 000 Rubel zahlen, die Direktorin Valentina Čerevatenko persönlich sollte zusätzlich 300 000 Rubel zahlen. Wie die meisten anderen NGOs wehrten sich auch die Frauen des Don und Valentina Čerevatenko, indem sie den Rechtsweg einschlugen und die Öffentlichkeit informierten. Versuche, über den „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte beim Präsidenten“ (Sovet pri Prezidente Rossijskoj Federacii po razvitiju graždanskogo obščestvа i pravаm čeloveka) im Kreml bei Putin direkt zu intervenieren, blieben erfolglos. Erstinstanzlich wurde die Organisation verurteilt, sich als „Agent“ registrieren zu lassen. Auch die Bußgelder mussten bezahlt werden. Am 5. Juni 2014 wurde die Union der Frauen des Don vom Justizministerium (ohne das selbst beantragt zu haben) in das „Agentenregister“ eingetragen.

Die Frauen des Don reagierten auf diese Zwangsregistrierung als „ausländische Agenten“ am 10. Juni 2014 mit einer Erklärung, in der sie diese Bezeichnung energisch zurückwiesen. Sie seien „niemals ausländische Agenten gewesen“ und würden „auch niemals welche werden“. Außerdem kündigten sie an, gegen die Entscheidung des Justizministeriums juristisch vorzugehen, zur Not bis zum Verfassungsgericht der Russländischen Föderation und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.[8]

Gleichzeitig strengte die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen die Direktorin der Frauen des Don Valentina Čerevatenko an. Ihr wurde vorgeworfen, einen Strafgefangenen, den sie im Straflager besucht hatte, weil er um ihre Unterstützung gebeten hatte, dazu angestiftet zu haben, einen Aufstand in der Strafkolonie zu organisieren. Das behauptete jedenfalls dieser Strafgefangene. Ein bei dem Gespräch anwesender Zeuge will allerdings nichts dergleichen gehört haben. Der Zeuge war während des Besuchs in der Strafkolonie jedoch für einige Minuten aus dem Raum gegangen, woraus die Staatsanwaltschaft den Schluss zog, die angebliche Straftat sei in dieser Zeit geschehen. Für Valentina Čerevatenko handelte es sich bei diesem Vorgehen der Staatsanwaltschaft um einen „offensichtlichen Versuch“, sie einzuschüchtern.[9] Zwar hat die Staatsanwaltschaft diese Anschuldigungen bis heute nicht vor Gericht gebracht, aber ob das Verfahren eingestellt wurde oder weiter anhängig ist, ist unbekannt.[10]

Die Einstufung einer NGO als „ausländischer Agent“ beschränkt deren Arbeit nicht direkt. Allerdings sind die so registrierten NGOs bei Strafandrohung durch das Gesetz verpflichtet, künftig jeden öffentlichen Auftritt und jede Publikation mit dem Zusatz zu versehen, dies sei „eine Äußerung eines ausländischen Agenten“. Für manche NGOs in Moskau und St. Petersburg, zudem mit internationalem Ansehen, mag es möglich sein, sich so zu bezeichnen und dennoch einigermaßen erfolgreich weiter zu arbeiten. Für NGOs in den Regionen, zudem in einer politisch wegen der Nähe zum Nordkaukasus so sensiblen Region wie Rostov am Don, ist dieses Etikett fast schon ein Todesmal. Es bedeutet, dass nicht nur Behörden, sondern auch ein erheblicher Teil der Bevölkerung jede Zusammenarbeit scheut. Die Erfahrung zeigt, dass vermehrte „Überprüfungen“ durch ganz unterschiedliche Behörden eine weitere Folge sind. NGOs, die Menschen unterstützen, ihre Rechte durchzusetzen, oder sich gegen systematische Rechtsverletzungen durch staatliche Stellen engagieren, müssen zudem oft eng mit Behörden kooperieren, wollen sie ihre Ziele erreichen und jenen Menschen helfen, die sie um Beistand bitten. Mit dem „Agenten“-Status wird das sehr schwierig, meist unmöglich.

Die Union der Frauen des Don um Valentina Čerevatenko entschied sich in dieser Situation zu zwei Schritten: Zum einen verzichtete die Union auf weitere Finanzierung aus ausländischen Quellen. Dadurch konnte erreicht werden, dass sie am 29. Februar 2016 wieder aus dem „Agenten“-Register „gestrichen“ wurde.[11] Zum anderen gründete der gleiche Kreis von Aktiven 2014 eine weitere NGO: die Stiftung zur Förderung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte „Frauen des Don“ (Fond sodejstvija razvitiju graždanskogo obščestva i pravam čeloveka „Ženščiny Dona“). Diese Organisation führte weiter Projekte in Kooperation mit ausländischen Organisationen und mit ausländischen Mitteln durch.[12] Am 27. Oktober 2015 wurde auch die Stiftung „Frauen des Don“ vom Justizministerium zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Erneut verhängte das Ministerium ein Bußgeld von 300 000 Rubeln, weil die Organisation nicht selbst der Pflicht nachgekommen sei, sich beim Justizministerium in das „Agentenregister“ eintragen zu lassen.

Bis hierhin ist dies zwar die Geschichte einer ganz bestimmten NGO in Russland, alle ihre Elemente, mit Ausnahme der Strafsache gegen Valentina Čerevatenko, finden sich jedoch auch in den Fällen vieler anderer NGOs, die inzwischen zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden sind.

Das novellierte NGO-Gesetz enthält in den „Agenten“-Paragraphen allerdings noch Strafbestimmungen, die über das – bereits in vielen Fällen verhängte – Bußgeld für die Organisation und ihre Leitungspersonen hinausgehen. Für „mutwillige“ (russ: slostnoe) Gesetzesverletzungen durch die Verantwortlichen sehen sie Haftstrafen von bis zu zwei Jahren für diese Leitungspersonen vor. Der Ausdruck „mutwillig“ wird von russländischen Gerichten so ausgelegt, dass bereits die Wiederholung einer Rechtsverletzung darunter fallen kann.

Am 22. Juni 2016 eröffnete das Staatliche Ermittlungskomitee (Sledstvennyj Komitet Rossijskoj Federacii)[13] in Rostov am Don ein Strafverfahren gegen Valentina Čerevatenko wegen „mutwilligen Umgehens der Erfüllung der Pflichten, die durch die Gesetzgebung der Russländischen Föderation über nichtkommerzielle Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen, auferlegt sind“.[14] Der Beschluss zur Eröffnung eines Strafverfahrens stützt sich auf einen „Bericht“ der regionalen Abteilung des Inlandsgeheimdienstes FSB vom 15. April 2016. Valentina Čerevatenko wird zur Last gelegt, sowohl die Registrierung der Union der Frauen des Don als auch der Stiftung „Frauen des Don“ nicht beim Justizministerium beantragt und somit das NGO-Gesetz verletzt zu haben. Am 24. Juni, noch bevor Valentina Čerevatenko etwas von dem Strafverfahren wusste, wurden die Räume der beiden Organisationen in Novočerkassk durchsucht und zahlreiche Dokumente, insbesondere die gesamte Finanzbuchhaltung sowie alle Computer konfisziert. Valentina Čerevatenko und ihre Kolleginnen wurden mehrfach zu Zeugenaussagen vorgeladen. Die Arbeit der Organisationen ist seither weitgehend paralysiert.

Juristisch wehrt sich Valentina Čerevatenko vor Gericht sowohl gegen den Straftatvorwurf als auch gegen die Beschlagnahmung. Sie habe, so die Beschwerde, gegen die Einstufung der beiden von ihr geleiteten Organisationen jeweils vor Gericht geklagt und könne somit allein schon deshalb nicht „mutwillig“ gehandelt haben, sei also nicht schuldig im Sinne des Gesetzes. Diese Beschwerde wurde am 12. Juli 2016 vom zuständigen Gericht in Novočerkassk zurückgewiesen. Eine Berufung gegen diese Zurückweisung verwarf die nächsthöhere Instanz in Rostov am Don am 30. August 2016.

Zwar ist der Ausgang dieser Sache grundsätzlich offen. Es gibt immer wieder Fälle, in denen die Justizbehörden Gerichtsverfahren verlieren. Mitunter wird auch die Erhebung von Bußgeldern vorgerichtlich nach Interventionen von höherer politischer Ebene zurückgezogen.

Das Agentengesetz und die Logik des Systems

Insgesamt ist der Trend seit Inkrafttreten der „Agenten“-Paragraphen des NGO-Gesetzes vom Herbst 2012 aber offensichtlich: Die bürokratische Maschine arbeitet sich immer weiter vor. Soweit das von außen zu sehen ist, nicht sonderlich schnell und auch nicht immer systematisch. Mit der Zeit werden aber immer mehr NGOs erfasst. Die Repressionsschraube wird langsam angezogen. Es begann mit der Registrierung einzelner NGOs als „Agent“, ging über die Verhängung von Bußgeldern für die Organisationen bis hin zu Bußgeldern für die Leitungspersonen. Mit dem Vorgehen gegen Valentina Čerevatenko scheint nun eine neue Stufe eingeleitet worden zu sein, auf der die strafrechtlichen Instrumente des Gesetzes zum Einsatz kommen.

Man sollte sich das allerdings nicht unbedingt als eine Kampagne vorstellen, die direkt vom Kreml ausgeht. Weitaus wahrscheinlicher ist, dass die verschärfte Repression sich aus der Funktionalität oder besser der Dysfunktionalität des politischen Regimes in Russland speist. Diese Dynamik hat etwas mit der Funktionslogik des russländischen Staatsapparats zu tun. Russland ist zum einen ein legalistischer Staat. Die Gesetze und Regeln sind insofern wichtig, als sie formal eingehalten werden müssen oder zumindest so getan werden muss, es also hinter Potemkischen Fassaden und auf dem Papier so aussehen muss, als ob das geschieht. Dass dem nicht so ist und alle das wissen, steht dazu nicht im Widerspruch. Einmal in diesen Apparat eingespeiste Regeln entwickeln ein Eigenleben. Die Urheber geben die Richtung vor, aber die konkrete Ausführung wird meist nur in sehr wichtigen Fällen und punktuell gesteuert. Insofern unterscheidet sich Russland nicht grundsätzlich von anderen, auch demokratischen politischen Systemen. Allerdings sitzen im Apparat Staatsbedienstete mit einem doppelten Interesse: Zum einen wollen sie die (institutionalisierten) Regeln formal erfüllen, zum anderen wollen sie aber gleichzeitig den (oft mehr erfühlten und antizipierten als konkret bekannten) „eigentlichen“ Erwartungen der politischen Führung entsprechen. Hinzu kommen oft persönliche Interessen, seien sie politischen, wirtschaftlichen oder anderen Ursprungs. All das zusammen führt immer wieder zu Handlungen von Angehörigen der staatlichen Bürokratie auf mittlerer und unterer Ebene, die den kurzfristigen, jeweils aktuellen politischen Notwendigkeiten und Präferenzen zu widersprechen scheinen, zumal viele Gesetze eher als Abschreckung und Warnung gedacht sind, als dass sie unbedingt zur Anwendung kommen sollen.

Natürlich gibt es innerhalb des Systems Mechanismen, um einen solchen „Fehler“ auszuräumen. Falls ein solcher geschieht, muss er zuerst als solcher erkannt werden, was meist dadurch geschieht, dass jemand von außen die inneren Kreise darauf aufmerksam macht. Dann muss dieses Problem innen auf eine ausreichend hohe politische Ebene gehoben werden und zum Schluss müssen die „dort oben“ zu der Auffassung kommen, dass das Problem zum einen groß und wichtig genug ist, um Aufmerksamkeit zu verdienen, und zum zweiten ein Eingriff weniger Schaden anrichtet, als wenn man die Sache einfach so laufen lassen würde.

Im Falle von Valentina Čerevatenko, der für das Verhältnis des Staates zu den NGOs beispielhafte Bedeutung hat, dürfte diese „ausreichend hohe Ebene“ zumindest beim für Innenpolitik zuständigen stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung liegen. In anderen Fällen wie z.B. der Organisation Memorial International oder dem Levada-Zentrum, die kürzlich zu „ausländischen Agenten“ erklärt wurden, dürfte die Entscheidung angesichts der nationalen und internationalen Bedeutung dieser beiden Organisationen allein bei Präsident Putin liegen. Hieraus wird deutlich, wie hoch die Hürde für eine Korrektur ist, wenn die bürokratische Maschinerie erst einmal ins Rollen geraten ist.

Diese Überlegungen geben auch einen Hinweis darauf, ob es einen besonderen Grund für die exemplarische Verfolgung der Frauen des Don oder Valentina Čerevatenkos gibt. Die Antwort auf diese Frage muss mehrere Ebenen berücksichtigen: eine föderale, eine regionale und eine bürokratische. Dass es eine konkrete Anordnung für dieses Vorgehen von der föderalen Ebene, also aus dem Kreml, gibt, ist nur dann vorstellbar, wenn damit ein abschreckendes Signal gesandt werden sollte. Dafür gibt es keine Anzeichen. Die regionale Führung kann dagegen durchaus ein Interesse daran haben, einen – aus ihrer Sicht – derartigen Unruheherd unter Kontrolle zu bringen oder zu beseitigen. Die Staatsanwaltschaft in Novočerkassk wiederum, mit dem FSB im Hintergrund, beschäftigt sich seit Jahren überdurchschnittlich intensiv mit den Frauen des Don, ohne dass eindeutig auszumachen wäre, worauf dieses Interesse letztlich basiert. Valentina Čerevatenko macht auch persönliche Motive eines Staatsanwalts dafür verantwortlich.

Im konkreten Fall der Frauen des Don und Valentina Čerevatenkos gab es Versuche, über den offiziellen Menschenrechtsrat beim Präsidenten eine Korrektur des regionalen Verwaltungshandelns über die Präsidentenadministration zu erreichen. Doch die politische Führung verweist auf den Gerichtsweg. Das kann zweierlei bedeuten: Entweder – das ist die wahrscheinlichere Variante – bedeutet es, dass sie sich nicht einmischen will. Dann wird das Gericht – ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit – den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgen. Oder es ist ein Hinweis darauf, dass das Gericht von oben einen Wink bekommt, der Beschwerde stattzugeben.

Wie auch immer die Sache aber ausgeht – das Vorgehen gegen Valentina Čerevatenko ist eine neue Eskalationsstufe und wird bei allen NGOs in Russland mit großer Sorge verfolgt.

 


[1]   Der Beginn des Krieges wird üblicherweise auf den 11. Dezember 1994 datiert. An diesem Tag versuchten Truppen des Verteidigungsministeriums erstmals, nach Tschetschenien und Groznyj vorzudringen, kamen aber nicht weit. Das Ende markiert der Mitte August 1996 zwischen dem damaligen Präsidentenbeauftragten Aleksandr Lebedʼ und dem Kommandeur der tschetschenischen Rebellen Aslan Maschadov geschlossene „Friede von Chasavjurt“.

[2]   2009 wurde offiziell die sogenannte „antiterroristische Aktion“ vom Staat für beendet erklärt. Größere militärische Auseinandersetzungen endeten im Frühjahr 2001. Danach waren die tschetschenischen Rebellen zu koordinierten militärischen Aktionen nicht mehr in der Lage.

[3]   Jens Siegert: Russian Civil society as surrogate opposition, in: Maria Lipman, Nikolay Petrov (Hg.): Russia in 2020. Scenarios for the Future. Moscow 2010, <http://russia-2020.org/ 2010/08/23/russia-2020-civil-society>. – Ders.: Russia’s emerging Civil Society, in: Susanne Oxenstierna (Hg.): The Challenges for Russia’s Politicized Economic System. Stockholm 2015, S. 164–181.

[4]   Nach Angaben von Valentina Čerevatenko.

[5]   Dazu ausführlich: Grigorij Ochotin: Agentenjagd. Die Kampagne gegen NGOs in Russland, in: Osteuropa, 1–2/2015, S. 83–94.

[6]   Mit Ausnahme der Organisation „Nekommerčeskoe Partnerstvo ‚Sodejstvie razvitiju konkurencii v stranach SNG‘“, die sich als erste und einzige NGO bereits am 27. Juni 2013 als „ausländischer Agent“ registrieren ließ. Die Website dieser Organisation macht den Eindruck einer Lobbyorganisation oder eines Berufsverbands.

[7]   Das Register ist öffentlich. Am 22.9.2016 waren dort 142 NGOs aufgeführt, von denen 41 bereits wieder aus dem „Agentenregister“ gestrichen worden waren, entweder weil sich die betreffenden NGOs aufgelöst haben oder weil sie seit mehr als einem Jahr vollständig auf ausländische Mittel verzichtet haben; Ministerstvo justicii Rossijskoj Federacii: O dejatelʼnosti nekommerčeskich organizacij. Svedenija reestra NKO, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta, <http://unro.minjust.ru/NKOForeignAgent.aspx>.

[8]   Sojuz Ženščiny Dona: my prodolžaem rabotat’ i otstaivatʼ svoi prava, <www.asi.org. ru/news/soyuz-zhenshhiny-dona-zayavlenie/>

[9]   So Valentina Čerevatenko in einem Gespräch mit dem Autor am 2. Juni 2013.

[10]  Auskunft von Valentina Čerevatenko am 23. September 2016.

[11] Svedenija reestra NKO, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta [Fn. 7]. Die „Streichung“ geschieht allerdings nur durch einen zusätzlichen Eintrag in das Register. Auch wenn eine „gestrichene“ NGO damit kein „Agent“ mehr ist und ihre öffentlichen Auftritte, Äußerungen und Publikationen nicht mehr entsprechend kennzeichnen muss, bleibt es doch öffentlich, dass sie einmal „Agent“ war. Sie ist damit für immer „auf Bewährung“.

[12] Darunter ist ein gemeinsames, von der EU finanziertes Projekt mit der Heinrich-Böll-Stiftung zur „Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen im Nordkaukasus“.

[13] Zum Staatlichen Ermittlungskomitee: Hans-Henning Schröder: Bastrykin oder Das Werden einer neuen Machtstruktur. Strafermittlungsorgane und Politik in den Jahren 2007–2014, in: Mirja Lecke, Oleksandr Zabirko (Hg.): Verflechtungsgeschichten. Konflikt und Kontakt in osteuropäischen Kulturen. Festschrift für Alfred Sproede. Berlin 2016, S. 373–401.

[14] Hier und im Folgenden stütze ich mich auf Kopien von Dokumenten des Verfahrens, die mir Valentina Čerevatenko zur Verfügung stellte. Das Zitat stammt aus dem „Beschluss zur Eröffnung eines Strafverfahrens“ gegen Valentina Čerevatenko vom 22. Juni 2016.

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