Titelbild Osteuropa 8-10/2016

Aus Osteuropa 8-10/2016

Die gelebte Sprache der Revolution

Eugene Ostashevsky

(Osteuropa 8-10/2016, S. 453)

Volltext

Die russische Sprache ging aus der russischen Revolution verwandelt hervor. Menschenmassen, die sich durch die gewaltige Umwälzung aus ihrer noch weitgehend mündlichen Kultur katapultiert fanden, strebten danach, sich die modernen Redeweisen anzueignen, mit denen die Bolschewiken ihre Macht legitimieren wollten. Diese Redeweisen waren abstrakt, die Lernenden indessen halbe Analphabeten, die oft die neuen Begriffe nicht mit der nötigen Geläufigkeit und dem erforderlichen Verständnis anwendeten oder miteinander verbanden. Auf der Grundlage dieser Sprache entstand die Prosa von Andrej Platonov, die bis in ihr kleinstes Element die gedankliche Größe und Ausdruckskraft eines homerischen Epos hat. Die Schaffung einer literarischen Sprache, die die gelebte Sprache der Revolution nachgestaltet, war Platonovs größte Leistung und hat in der russischen Literatur nicht ihresgleichen. Seine Wörter ergeben weder in pragmatischer Hinsicht noch semantisch einen Zusammenhang. Seine Sätze plazieren Staatsvokabular in die banalsten Zusammenhänge. Ausdrücke und Begriffe aus Bürokratie und Ideologie werden entfremdet, indem sie Seite an Seite neben naiven Gefühlsaussagen stehen, Gefühle, die der moderne Staat für seine Zwecke einspannen will. Der Staatssprache wird das Kontrollmonopol verweigert. Diese methodische Naivität erlaubt auch die Beschreibung von Gewalttaten, von denen der Staat jedes Zeugnis beseitigen will: Widerstand, Hinrichtungen, Enteignungen, Hungersnot. Die Revolution ist alles und der Preis dafür ist alles.
Platonovs Schreiben ist auf eine ganz besondere linguistisch-mystische Art marxistisch. Er betrachtet die Geknechteten, denen sein Stil eine Stimme verleiht, als die Sprachlosen – als jene, die im Dunkeln gelassen und damit um das Recht auf eine eigene Stimme gebracht werden, wodurch sie auch des Rechts auf ein Bewusstsein beraubt sind. Aus diesem Grund auch bezieht Platonov Pflanzen und Tiere in die Klasse der Unterdrückten mit ein (daher der proletarische Bär, der die Kulaken in Kotlovan enteignet). Die ganze Natur sucht den Logos, alles sehnt sich nach Bewusstsein. Die Ausbeutung als erzwungenes Verwehren von Aufklärung und Bildung ist für Platonov ein metaphysisches Verbrechen, das sich nicht nur gegen einzelne Men-schen richtet, sondern gegen die Natur an sich und damit die Welt als Ganzes in der Finsternis leiden lässt. Natürlicherweise sieht er die russische Revolution als ein Jahrtausendereignis. Die Erkenntnis, die seine Figuren suchen, ist im wesentlichen religiös und nicht in einem wörtlichen Sinn materiell. Die Sprache des Staates, die die Figuren so unvollständig, inkonsequent und entsprechend irrational wiedergeben, behält ihre Wirksamkeit einzig und allein als Glaubenssprache. Und wie bei jedem Glauben ist das, worauf die Sprache verweist, nicht da.

Aus dem Englischen von Esther Kinsky