Ein Urphilosoph mit höckrigem Schädel
(Osteuropa 8-10/2016, S. 425)
Volltext
Als ich zum ersten Mal ein Buch von Platonov in die Hand nahm, war mir, als hätte ich mich verbrannt. Die Empfindung war physisch. Mein Körper verwandelte sich zurück in Lehm, in etwas Ursprüngliches.
Ich verstand sofort, dass ich einen der größten Autoren der Avantgarde las. Platonov ist ein radikaler Neuerer, ohne dass er jemals versucht hätte, den Leser zu verblüffen oder die Sprache zu neu zu erschaffen.
Seine Prosa ist dunkel, chtonisch, uterin, sie ist dickflüssig, von tiefschwarzer Komik und teuflisch infektiös: nach der Platonov-Lektüre vibrieren seine morphologischen Wunder noch lange auf der Zungenspitze. Dennoch ist, was er schreibt, strukturiert und verständlich, seine Sprache sperrig und geschmeidig zugleich. Als Sohn eines Lokomotivführers und Schlossers, empfand der Schriftsteller eine innige Zärtlichkeit für Maschinen, wie der Mann in Matthew Barney’s Kurzfilm Hoist, der mit einem Motor kopuliert.
Platonov lässt uns das Tosen des Lebens hören, seine Zirkusliturgie. Das Innere wird zum Äußeren und umgekehrt, der Leser vertraut sich einer Holzklotz-Metaphysik an, gibt sich ihr hin mit der düsteren Euphorie des Mitfühlens.
Mit Platonovs Helden kann man sich nur heimlich identifizieren. Sie sind hirnlos. In ihren Köpfen ist Stroh. Es sind Kinder, die das Lacansche Spiegelstadium nicht durchlaufen haben. Ihre Unschuld ist engelhaft und hündisch. Sie besitzen eine besondere Logik. Im ersten Moment fügen sich ihre Argumente zu einer reißfesten Kette von Schlussfolgerungen zusammen. Doch dann merkt man, dass man in den Kopf eines Narren geraten ist, der den Idioten von Gombrowicz oder Kafka ähnelt. Platonovs Held ist ein Urphilosoph mit höckerigem Schädel, der in einem Erdloch lebt, kaum Worte macht und auslauter Stummheit eine Beamtenrhetorik übernommen hat, ein bürokratisches Volapük, eine Kinderlexik der Grausamkeit. Er ist niemand anderes als Adam, der erste Mensch im Projekt Revolution. In Platonovs Version der Genesis ist er ein Synonym für Staub. Der Leser ist bei seiner Entstehung anwesend, er nimmt die Rolle einer Hebamme der Literatur ein.
Platonovs Prosa strahlt mütterliche Wärme aus.
In der Welt, die im Juvenilmeer beschrieben wird, in der Baugrube und in den Erzählungen, leben altgewordene Kinder. Es ist eine Welt des Sterbens, erleuchtet vom rosa Röntgenlicht der Utopie, der tödlichen Utopie des frühen bäuerlichen Kommunismus.
Wir haben es hier mit der Einzigartigkeit eines Universalgenies zu tun. Platonovs Bruder in der Literatur ist Bruno Schulz, im Film Alexander Sokurov, in der Malerei Rembrandt.
Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann