Cover Osteuropa 8-10/2016

In Osteuropa 8-10/2016

Editorial
Violence and Utopia. Reading Platonov


Deutsche Fassung

Abstract

Andrej Platonov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, auf einer Stufe mit Franz Kafka, Robert Musil und James Joyce. Dies erfasste Iosif Brodskij bereits 1973. Heute teilt die internationale Kritik das Urteil des Literaturnobelpreisträgers. Doch Platonovs in den 1920er und 1930er Jahren entstandenes Werk wurde nur schleppend rezipiert. In der Sowjetunion konnten Platonovs Hauptwerke erst während der Perestrojka erscheinen. Bis heute ist er selbst in Russland ein Autor, den nur ein kleiner Kreis avancierter Leserinnen und Leser zur Kenntnis nimmt. Platonov war dem utopischen Denken verpflichtet, das sich mit der Russischen Revolution 1917 Bahn brach. Dies zeigen seine publizistischen Arbeiten, von denen die meisten in diesem Heft erstmalig auf Deutsch erscheinen. Platonov beschwört die Machbarkeit der Utopie, setzt auf die befreiende Kraft der Naturwissenschaften und preist die Technik: „Der Mensch ist nicht nur Kolumbus, er ist auch der Mechaniker seines Planeten.“ Manche seiner Überlegungen haben sich als zukunftsweisend herausgestellt und sind längst Praxis, etwa die Nutzung des Windes zur dezentralen Energieversorgung. Andere, wie die Vorstellung, Luftkanäle in Himalaya und Pamir zu sprengen, um Sibirien in „ein warmes Land am Gestade des Arktischen Ozeans“ zu verwandeln, zeichnen die megalomanischen Projekte des 20. Jahrhunderts vor. Platonovs Schriften über den Neuen Menschen aber führen mitten in die Konflikte um die Gentechnik des 21. Jahrhunderts. Während in diesen Texten die Utopie der Praxis dominiert, seziert Platonov in seinem literarischen Werk die Praxis der Utopie. Da ist von einem Lob der instrumentellen Vernunft, der teleologischen Fortschrittsgewissheit, zu der auch die Unterwerfung und Umgestaltung der Natur gehören, nirgends die Rede. Der Ingenieur für Bewässerungs-technik und Spezialist für Elektrifizierung konnte seine Augen nicht vor dem Unmenschlichen verschließen, das in der Sowjetunion geschah. Platonovs Schlüsselromane „Unterwegs nach Tschewengur" und „Die Baugrube" entstanden in der Zeit, als die forcierte Industrialisierung und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft die sozialen und ökonomischen Grundlagen des Stalinismus schufen. In beiden Romanen fließen Utopie und Gewalt, Enthusiasmus und menschliches Leid ineinander. In der „Baugrube", einem verstörenden Roman über einen euphorischen Aufbruch, entsteht statt eines „gemeinproletarischen Hauses“ nur ein gewaltiges Loch in der Erde. „Die Baugrube" lässt sich als Klage über die Zerstörung des dörflichen Lebens durch die Kollektivierung ebenso lesen wie als Symbol des Abgrunds der Stalinschen Gesellschaft oder als Allegorie auf das Scheitern der kommunistischen Utopie. Gewalt ist omnipräsent. Doch in der „Baugrube" lassen sich, wie die Studien im vorliegenden Band zeigen, viele weitere religiöse und philosophische Bedeutungsschichten erschließen. „Tschewengur" ist, wie Vasilij Golovanov in diesem Band schreibt, „eine apokryphe Schrift über eine von bolschewistischer Theorie unbeleckte finstere Steppenrevolution, ein Buch über das Armenparadies.“ Der Roman lässt sich als Antiutopie lesen, als ein Dokument über das Scheitern eines auf Brüderlichkeit beruhenden dörflichen Kommunismus. Vor allem aber ist „Tschewengur" „ein Buch voller Freiheit und Herzensstärke, eines der erschütterndsten literarischen Bilder Russlands“. (Golovanov) Mit seiner ironischen Erzählung über die kollektivierte Landwirtschaft „Zum Vorteil" (Vprok) zog Platonov die Empörung Stalins auf sich. Seitdem stand er unter ständiger Überwachung des Geheimdienstes. Dieser unterband die Publikation zahlreicher Erzählungen und machte damit Platonovs Existenz als Schriftsteller nahezu unmöglich. Während des Großen Terrors zerstörte der NKVD Platonov und seine Familie. 1938 wird Platonovs 15-jähriger Sohn verhaftet und als „Spion“ in ein Arbeitslager deportiert. Als er nach zweieinhalb Jahren im Hohen Norden Russlands zurückkehrt, leidet er an Tuberkulose und stirbt Anfang 1943 im Alter von 21 Jahren. Platonov entzieht sich einer einfachen Einordnung. Sein Schreiben steht quer zu den literarischen, ästhetischen und ideologischen Konventionen seiner Zeit. Es widersetzt sich einer Einordnung in den Futurismus eines Majakovskij. In die Irre führt auch der Vergleich mit Collage- und Montagetechniken, wie sie Platonovs zu internationalem Ruhm gelangte Zeitgenossen El Lissitzky in der darstellenden Kunst und Sergej Eisenstein in der Kinematographie verwendet haben. Schon gar nicht steht es dem aufkommenden Sozialistischen Realismus nahe, obwohl Platonovs Themen oft jenen der Produktionsromane wie Fedor Gladkovs „Zement" ähneln. Eine besondere Faszination geht von Platonovs einzigartiger Sprache aus. Er arbeitet mit dem Mittel der Verknappung der Sprache, der Amalgamierung von Alltagssprache und Parteijargon, von Propaganda und philosophischen sowie religiösen Begriffen. Mit irregulärer Grammatik und schiefer Lexik schafft er eine ganz eigene Sprache, die Instrument der Erkenntnis ist. Platonov hat den Geist einer Epoche in Sprache gegossen. Brodskij formuliert es präzise: „Die Präsenz des Absurden in der Grammatik zeugt nicht von einer privaten Tragödie, sondern von einer Tragödie des gesamten Menschengeschlechts.“ Der ukrainische Dichter Serhij Zhadan stellt fest: „Platonov hat mit der Sprache das gemacht, was die Bolschewiki grob gesagt mit dem Marxismus gemacht haben: Er hat das Theoriematerial genommen und es einfach zerschlagen, umgestülpt, den Worten und Sätzen die Gelenke herausgeschraubt, die Theorie ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt, sie überhaupt jeglicher Bedeutung beraubt. […] Platonovs Sprache ist genauso grausam wie die Wirklichkeit, die sie beschreibt.“ Zum vorliegenden Band trugen Gabriele Leupold, die gerade die „Baugrube" neu übersetzt hat, die Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe sowie Hans Günther mit Rat und Tat erheblich bei. Gefördert wurde er mit Mitteln der „Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur". Ihnen allen sei herzlich gedankt. Möge dieser Band einen Beitrag dazu leisten, Andrej Platonov als Autor der Moderne zu entdecken, der mit seinen Texten das Verhältnis von Utopie und Gewalt ausgeleuchtet hat.

(Osteuropa 8-10/2016, pp. 5–6)