Titelbild Osteuropa 11-12/2017

Aus Osteuropa 11-12/2017

Empathie und Indifferenz
Die Rehabilitierung der Opfer

Arsenij Roginskij, Elena Žemkova

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Abstract in English

Abstract

In der UdSSR wurden viele Millionen Menschen aus politischen Gründen Repressionen unterworfen. Über fünf Millionen wurden unter falschen Beschuldigungen verhaftet und zu langjährigen Haftstrafen oder zum Tod verurteilt. Weitere sechs Millionen Menschen wurden alleine aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe enteignet und deportiert. Die Verfolgung begann unmittelbar nach der Machtübernahme der Bolschewiki 1917, noch 1987 wurden Menschen aus politischen Gründen verhaftet. Die Rehabilitierung der Opfer der großen Repressionswellen der 1930er Jahre begann nach dem Tod Stalins 1953. Einen Aufschwung erfährt sie in der Perestrojka-Zeit. Seit Ende 1991 findet sie auf der Grundlage eines bis heute nahezu unveränderten Gesetzes statt. Doch wurden bei weitem nicht alle Opfer rehabilitiert, die soziale Versorgung der wenigen, die heute noch leben, ist schlecht. Der Staat betrachtet Geschichte als Instrument, die Gesellschaft zeigt gelegentlich Mitgefühl, meist aber ist sie gleichgültig.

(Osteuropa 11-12/2017, S. 97–123)

Volltext

Die sowjetischen Repressionen waren politisch motiviert und betrafen die gesamte Gesellschaft. Sie vollzogen sich in mehreren Wellen und zielten auf sehr verschiedene Gruppen. Die Repressionen begannen bereits unter Lenin und setzten sich auch nach Stalins Tod fort. Die letzten politischen Gefangenen kamen erst im Jahr 1991 frei. Der Einsatz staatlicher Gewalt als universales Instrument zur Lösung politischer und sozialer Fragen aller Art war dem sowjetischen Regime seit seiner Geburtsstunde eigen und er ging mit dem Tod Stalins nicht zu Ende. Das Konzept der staatlichen Gewalt war ein integraler Bestandteil der sowjetkommunistischen Ideologie. In den ersten Jahrzehnten der sowjetischen Epoche (bis 1953) nahm diese Gewalt die Form permanenten politischen Massenterrors an. Hunderttausende Menschen waren jedes Jahr den Repressionen ausgesetzt. In dieser Zeit war der Terror das konstituierende Merkmal des sowjetischen Systems. Er diente der Zentralisierung der Herrschaft und kappte horizontale Verbindungen in der Gesellschaft, womit potentiellem Widerstand vorgebeugt wurde. Ebenso sorgte er für eine hohe soziale Mobilität, für eine riesige Armee von Zwangsarbeitern sowie für eine feste Verwurzelung der Ideologie, die gleichzeitig mit einem Streich modifiziert werden konnte. Nach dem Tod Stalins wurde der Terror gezielter eingesetzt, die Zahl der politischen Häftlinge betrug nach 1953 zunächst im Durchschnitt der Jahre einige Tausend, später einige Hundert. Noch 1987 wurden Menschen aus politischen Gründen verhaftet – weniger als fünf Jahre vor dem Untergang der Sowjetunion.

Nach dem Tod Stalins war die Rehabilitierung der Opfer des politischen Terrors der 1930er und 1940er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre von neuen Repressionen begleitet. Dann wurde die Rehabilitierung faktisch abgebrochen und erst 1988 mit neuer Kraft und unter neuen ideologischen Bedingungen wieder aufgenommen.


Grundzüge des politischen Terrors in der Sowjetunion

  1. Die gewaltigen Maßstäbe. Viele Millionen Menschen fielen ihm zum Opfer.
  2. Die nie zuvor dagewesene Dauer des Terrors. Direkte und indirekte Opfer des Terrors sowie Zeugen wurden vier oder sogar fünf Generationen.
  3. Die Zentralisierung des Terrors. Die Sicherheitsorgane (VČK–OGPU–NKVD–MGB–KGB) setzten ihn um, doch alle wichtigen Aktionen – einschließlich der ideologischen in spätsowjetischer Zeit, als bereits Berufsverbote an die Stelle von Verhaftungen getreten waren – wurden vom höchsten Parteiorgan, dem Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (VKP(b) bzw. später KPSS), initiiert und durchweg auch kontrolliert.
  4. Terror nach sozialen Kategorien. Die überwiegende Zahl der Opfer des Massenterrors war den Repressionen ausgesetzt, weil sie einer bestimmten sozialen Gruppe angehörten, einer Schicht, einer Konfession oder einem Volk. Dies gilt auch für jene, denen individuelle Vergehen vorgeworfen wurden. In abgemilderter Form setzte sich dies auch nach dem Massenterror fort – in Gestalt des staatlichen Antisemitismus, der Verfolgung Gläubiger, der Zerschlagung der Zirkel von Liebhabern des Autorenlieds, dem Misstrauen gegenüber jeglichen horizontalen gesellschaftlichen Verbindungen.
  5. Massenterror in schreiendem Widerspruch zu Recht und Wahrheit. In den meisten Fällen waren die Anschuldigungen nicht nur falsch, sondern frei erfunden. Ein grausamer Umgang mit den Gefangenen – vor allem ausgeklügelte Foltertechniken – dienten dazu, Geständnisse zu erzwingen. Die Urteile wurden meist nicht von Richtern gefällt, sondern von (verfassungswidrigen) außergerichtlichen Organen, die oft speziell für die jeweilige Terroraktion gegründet wurden (Trojkas, NKVD-Kommissionen, Staatsanwaltschaft der UdSSR u.a.) – dies meist in Abwesenheit des Angeklagten. Zudem wurden die Prozesse nach „vereinfachtem Verfahren“ geführt: ohne Zeugenanhörung, ohne Verteidiger und im Falle einer Verurteilung ohne Recht auf Eingabe eines Begnadigungsgesuchs. Schließlich wurden die Gefangenen in den Lagern und Arbeitskolonien sämtlicher Rechte beraubt, selbst jener, die ihnen sowjetische Gesetze zusicherten.
  6. Rechtfertigung des Terrors als unausweichlich und moralisch richtig durch staatliche Propaganda. Über mehrere Jahrzehnte wurde den Menschen in der Sowjetunion konsequent die Vorstellung eingeflößt, es gebe eine Bedrohung durch äußere und innere Feinde, die Partei und die Sicherheitsorgane führten einen heroischen Kampf gegen diese Feinde, jeder Mensch in der Sowjetunion sei verpflichtet, sich an diesem Kampf zu beteiligen. Alle Misserfolge des Staates wurden solchen Feinden zugeschrieben, vor allem die schlechten Lebensbedingungen. Die Folgen des Terrors und der ihn begleitenden Propaganda spüren wir bis heute.

Die Wellen des politischen Terrors

Im Verlauf der siebzigjährigen Sowjetherrschaft wurden Angehörige sämtlicher sozialen und politischen Gruppen Opfer von Repressionen. Ins Visier gerieten nicht nur offene Gegner des Regimes, sondern alle, die vermeintlich eine potenzielle Gefahr darstellten, „klassenfremde Elemente“ und „sozial-gefährliche Elemente“, darunter Kinder von „Volksfeinden“ und andere Mitglieder ihrer Familien. Zu den Opfern gehörte die Blüte der Nation, die Aktivsten, Gebildetsten und Talentiertesten der Gesellschaft.

Unmittelbar nach der Machtergreifung der Bolschewiki im Jahr 1917 begann die Verfolgung aller Mitglieder oppositioneller Parteien und Gruppierungen, seien sie Monarchisten oder Sozialisten gewesen. In den folgenden Jahren wurden auch alle nichtpolitischen unabhängigen gesellschaftlichen Organisationen zerschlagen, geschlossen oder verstaatlicht. Dies war für die Bolschewiki ein wichtiger Schritt zur Sicherung ihrer unkontrollierten Herrschaft.

In den Jahren des Bürgerkriegs (1917–1922/23) waren nach Schätzungen, die auf unvoll­ständigen Statistiken beruhen, mehr als zwei Millionen Menschen unterschiedlichen Formen der Repression unterworfen (darunter auch Massenerschießungen von Geiseln), in erster Linie Angehörige der ehemaligen herrschenden Klassen und der intellektuellen Elite des Landes.[1] Eine Repressionswelle traf die Bauern Russlands, die sich gegen die Politik der Bolschewiki auf dem Land erhoben hatten. Zur Niederschlagung des Widerstands der Bauern wurde die Armee eingesetzt. Mit Terror wurden auch die Kosaken überzogen. Zehntausende verloren während der „Entkosakisierung“ ihr Leben, viele verließen das Land.

Massenrepressionen begleiteten die Kollektivierung der Landwirtschaft von Mitte der 1920er bis in die erste Hälfte der 1930er Jahre. Die vorsichtigsten Schätzungen beziffern die Zahl der „entkulakisierten“ Höfe auf eine Million und die Zahl der Repressionen unterworfenen Bauern auf sechs Millionen.[2]

Mitte der 1930er Jahre beginnt die Zeit der großen Schauprozesse – gegen den „Bund der Marxisten-Leninisten“, gegen die „Moskauer Konterrevolutionäre Organisation“, gegen die „Gruppe der Arbeiteropposition“, gegen die „Leningrader konterrevolutionäre Zinov’ev-Gruppe von Safonov, Zaluckij und anderen“, gegen das „Moskauer Zentrum“, gegen das „Parallele antisowjetische trotzkistische Zentrum“, gegen den „Antisowjetischen rechtstrotzkistischen Block“, gegen die „Parteifeindliche konterrevolutionäre Gruppe der Rechten um Slepkov und andere („Bucharin-Schule“)“, die „Leningrader Affäre“. Insgesamt zählten die Organe mehr als 70 „Blöcke“, „Zentren“, „Bünde“, „Schulen“ und „Gruppen“, deren Mitglieder zum Tode oder zu langjähriger Haft verurteilt wurden.

Politisch motivierten Verfolgungen war praktisch die gesamte Intelligencija ausgesetzt. Hunderttausende Wissenschaftler, Künstler, Ingenieure, Techniker und Beamten wurden in fabrizierten Prozessen verurteilt.

Ebenso wurden die Armee und die Marine zum Ziel massenhafter politischer Repressionen. Es begann im Frühjahr 1921 mit den Repressionen gegen die Matrosen und Soldaten der Kronstadter Garnison. Die „Säuberungen“ in der Roten Armee begannen unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkriegs. Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre wurden bei der akribisch vorbereiteten Operation „Vesna“ (Frühjahr) eine große Zahl sogenannter „Militärspezialisten“ (voenspec) Repressionen unterworfen.[3] In den 1930er Jahren und auch danach noch wurden Zehntausende Militärangehörige ohne Grundlage wegen Spionage, Unterwanderung und Schädlingsarbeit angeklagt. Die Repressionen schwächten die sowjetischen Streitkräfte, waren Grund für die äußerst bedrohliche Lage, in die die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg geriet und somit indirekt verantwortlich für die riesige Zahl der umgekommenen Soldaten. Die politischen Repressionen in der Armee gingen während des Kriegs weiter und hörten auch nach 1945 nicht auf.

Politischen Repressionen waren alle sowjetischen Soldaten ausgesetzt, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren (nach Ende des Kriegs kehrten 1,8 Millionen Kriegsgefangene in die UdSSR zurück), sowie Zivilisten, die aus den von der Wehrmacht besetzten Teilen der Sowjetunion zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich deportiert worden waren (ca. 3,5 Millionen Zwangsarbeiter kehrten nach dem Krieg in die Sowjetunion zurück). Viele dieser freigekommenen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter wurden nach der Überprüfung in „Filtrationslagern“ mit haltlosen Beschuldigungen wie Staatsverrat oder Fahnenflucht überzogen und wegen dieser oder anderer angeblicher Verbrechen verurteilt und in „Strafbataillons“ geschickt, in entlegene Gegenden des Landes und in Sondersiedlungen verbannt, mit Aufenthaltsverboten für zentrale Regionen belegt oder anderer Rechte beraubt.

Elf Volksgruppen wurden komplett deportiert – Deutsche, Polen, Kalmücken, Karatschaier, Balkaren, Inguschen, Tschetschenen, Krimtataren, Koreaner, Griechen, Finnen. Angehörige von 48 weiteren Gruppen wurden ebenfalls alleine aufgrund des nationalen Merkmals deportiert. Sie wurden während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren aus ihren traditionellen Siedlungsgebieten vertrieben und auf Anordnung des höchsten Staats- und Parteiorgans des Landes in entlegene, kaum besiedelte und zur Besiedelung kaum geeignete Gebiete verbracht. Die Gesamtzahl der diesen Repressionen unterworfenen Menschen beträgt nahezu drei Millionen.[4]

Politischen Repressionen waren auch ausländische Staatsangehörige ausgesetzt, vor allem Mitarbeiter der Komintern, politische Emigranten – Deutsche, Polen, Österreicher, Mongolen, US-Amerikaner, Ungarn, Tschechen, Slowaken und viele andere.

Nicht nur Erwachsene wurden Opfer politischer Repressionen, auch Kinder. Aus dem einzigen Grund, dass ihre Eltern Adelige, Offiziere der Armee des Zaren, „Kulaken“, „Trotzkisten“, „Volksfeinde“ oder „Dissidenten“ gewesen waren, wurden diese Kinder mit ihren Eltern deportiert oder im Falle der Verhaftung der Eltern in spezielle Kinderheime verbracht oder auf andere Weise ihrer Freiheit beraubt.

Opfer politischer Repressionen wurden Mitglieder sämtlicher religiöser Konfessionen. Ein harter Schlag traf die Russische Orthodoxe Kirche. Mehr als 200 000 orthodoxe Priester wurden Opfer von Repressionen. Ähnliches gilt für muslimische Geistliche. Seit Ende der 1930er Jahre wurden auch die Repressionen gegen jüdische Rechtsgelehrte verschärft. Die Mehrheit der Rabbiner und anderer in Synagogen tätigen Männer in Belarus, der Ukraine und Russland geriet ins Visier. Verfolgt wurden all diese Geistlichen wegen ihrer religiösen Überzeugungen, verurteilt wurden sie jedoch in fingierten Prozessen wegen angeblicher Straftaten (Korruption, Amtsmissbrauch, etc.).

Von den 1950er bis in die späten 1980er Jahre wurden die Mitglieder der Dissidentenbewegung und Andersdenkende mit Strafprozessen überzogen, zahlreicher Bürgerrechte beraubt, an bestimmte Orte verbannt, aus der Sowjetunion ausgebürgert oder in geschlossene psychiatrische Anstalten eingewiesen. Diese Repressionen endeten erst 1991.[5]

Die Untersuchungen zu „politischen Verbrechen“ in der UdSSR zeigen einen engen Zusammenhang zwischen politischen und ideologischen Konjunkturen und den Repressionen. Eine antisowjetische Motivation wurde in der Regel ausgehend von politischen Erwägungen und der „Zweckdienlichkeit für die Revolution“ unterstellt. Nur in seltenen Fällen deckten sich die einem Opfer unterstellten Motive mit dem, was den Menschen wirklich angetrieben hatte, etwas zu tun, was dann als „konterrevolutionär“ oder „antisowjetisch“ klassifiziert wurde. Ein Teil der Reprimierten hatte nie eines der ihnen vorgeworfenen Verbrechen begangen, sondern lediglich einen wie auch immer gearteten Dissens mit dem Regime zum Ausdruck gebracht. Die allergrößte Zahl der den Repressionen unterworfenen Menschen hatte nie eine negative Haltung zur Sowjetmacht an den Tag gelegt und keine strafbaren oder verdächtigen Taten begangen. Die Repressionen folgten vielmehr einem politischen Plan und sollten der Prävention dienen.

Das Ausmaß des politischen Terrors

Lange Jahre stützte sich die Debatte über das Ausmaß des politischen Terrors in der Sowjetunion mehr auf Schätzungen als auf Primärquellen. Mal war von zwei bis drei Millionen Opfern die Rede, mal von 40–50 Millionen.

Memorial arbeitet mit Quellen. Grundlage der Opferstatistik von Memorial sind die Unterlagen der Straforgane. Es konnte gezeigt werden, dass die aus diesen Unterlagen zu gewinnenden Zahlen im Großen und Ganzen verlässlich sind.

Ausgehend von den Typen der Repression und den Quellenarten lässt sich die Statistik in zwei Teile gliedern:

Bei der Verfolgung konkreter Personen wurden nahezu immer – wenngleich natürlich nur auf dem Papier – die formalen Verfahren der Untersuchung und des Gerichtsprozesses eingehalten. Für jeden Verhafteten wurde eine Untersuchungsakte geführt. Die Staatssicherheitsorgane führten die Statistik zu diesen Verfahren systematisch und in einheitlicher, wenn auch von Zeit zu Zeit geänderter Form.

Bei Kollektivrepressionen wurde keine individuelle Anklage erhoben. Die Opfer wurden in den allermeisten Fällen nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – einer Schicht, einer Volksgemeinschaft, einer Konfession – ausgewählt. Ihnen wurde in aller Regel ihr Eigentum entzogen und sie wurden in entfernte Gegenden des Landes deportiert, meist in eigens eingerichtete „Arbeitssiedlungen“. Zahlen zu diesen Deportationen finden sich in den Akten vieler unterschiedlicher Behörden. Sie wurden für jede Aktion einzeln geführt und sind deutlich weniger vollständig und genau als die Zahlen zu den Repressionen gegen konkrete Personen. Akten zu den einzelnen Deportierten wurden nicht nach ihrem Wohnort angelegt, sondern erst am Ort der Verschickung. Zu den bei der Deportation Umgekommenen gibt es keinerlei Akten.

Individuelle Verfolgung

Quelle für die Untersuchung von Repressionen gegen konkrete Einzelpersonen sind die Akten der Organe der Staatssicherheit (VČK–OGPU–NKVD–MGB–KGB). Sie befinden sich im Archiv des heutigen FSB und sind seit dem Jahr 1921 nahezu vollständig erhalten. Memorial hatte Zugang zu den Akten der Jahre 1921–1953. Für Angaben zu den Repressionen der Jahre 1918–1920 und 1954–1958 stützen wir uns auf die Arbeiten von Viktor Luneev.[6] Die Zahlen für die Jahre 1959–1986 entstammen der Zusammenschau verschiedener Quellen. Die Zahl der in den Jahren 1918–1987 von den sowjetischen Staatssicherheitsorganen verhafteten Menschen betrug nach diesen Berechnungen fast sieben Millionen Menschen.

Die Zahlen in Graphik 1 sind selbstverständlich nicht vollständig. Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Opfer in den Jahren 1918–1920 größer war. Dies trifft auch auf die Jahre 1937–1938 und das Jahr 1941 zu. Genauere Zahlen, die sich aus den Quellen belegen lassen, sind jedoch nicht zu gewinnen.

Die Akten erlauben es auch festzustellen, nach welchen Anklagepunkten diese Menschen verhaftet wurden. Diese waren nicht immer politischer Natur. Auch Schmuggel, Spekulation, Diebstahl sozialistischen Eigentums, Dienstvergehen, Mord, Falschgeldherstellung u.a. gehörten dazu. Ob es dennoch ein politisches Motiv für die Anklage gegeben hat, lässt sich nur für jeden Fall einzeln beantworten. Mehrere Millionen Akten auf diese Frage hin zu bewerten, ist nahezu unmöglich. Man muss sich zwangsläufig mit den Statistiken der Organe begnügen. Nach deren Kriterien erging der Haftbefehl in knapp einem Viertel der Fälle (23–25 Prozent) nicht wegen eines politischen Vergehens. Legt man dieses Kriterium zugrunde, so wäre nicht von sieben Millionen Opfern des sowjetischen politischen Terrors zu sprechen, sondern von 5,1–5,3.

Doch auch diese Zahl ist ungenau. Denn in den Listen der Organe stehen nicht Menschen mit ihren Namen, sondern „statistische Einheiten“. Derselbe Mensch konnte jedoch mehrmals verhaftet werden. Die Mitglieder von Parteien aus der Zeit vor der Revolution etwa wurden in den 1920er Jahren vier bis fünf Mal verhaftet, Geistliche oft noch häufiger. Viele Bauern, die erstmals in den Jahren 1930–1933 verhaftet worden waren, ereilte das gleiche Schicksal erneut 1937. Jene, die 1947 nach zehnjähriger Haft frei kamen, wurden oft nach kurzer Zeit erneut verhaftet. Dazu liefern die vorhandenen Listen keine genauen Zahlen. Es ist davon auszugehen, dass wegen der in den Statistiken nicht ausgewiesenen Mehrfachverhaftungen die Zahl der inhaftierten Menschen um etwa 300 000–400 000 niedriger als die der Verhaftungen lag, also bei 4,7–5 Millionen.

Von diesen knapp fünf Millionen Menschen wurden nach unseren Berechnungen zwischen einer Million und 1,1 Millionen nach Urteilen verschiedener gerichtlicher und nichtgerichtlicher Organe erschossen. Die übrigen wurden in Lager und Kolonien deportiert, ein kleiner Teil auch an einen Verbannungsort.

Natürlich waren unter diesen fünf Millionen Menschen, die aus politischen Gründen Repressionen unterworfen wurden, auch solche, die sich tatsächlich Verbrechen schuldig gemacht hatten, etwa solche, die mit den nationalsozialistischen Besatzungsbehörden kollaboriert hatten und an deren Mordaktionen beteiligt waren. Gleichwohl steht fest, dass

  1. die überwiegende Mehrheit dieser fünf Millionen Menschen unschuldig zum Opfer des sowjetischen Regimes wurde;
  2. die Staatsanwaltschaft und die Gerichte in Russland jedes Verfahren gegen jeden einzelnen dieser fünf Millionen Menschen untersuchen müssen und eine ausführliche und begründete Antwort auf die Frage geben müssen, ob dieser Mensch rehabilitiert werden muss.

Politisch motivierte Kollektivrepressionen

Kollektivrepressionen wurden auf Anordnung verschiedenster gesetzgebender und ausführender Organe sowie Gremien der Partei eingeleitet. Die Akten erlauben es, die größten Repressionsaktionen zu identifizieren und die ungefähre Zahl der Opfer zu ermitteln. Anders als im Falle der individuellen Verfolgung können alle, die im Zuge dieser Kampagnen deportiert wurden, als Opfer politischer Repressionen eingestuft werden. In fast allen Beschlüssen, mit denen die Kampagnen eingeleitet wurden, ist das politische Motiv explizit genannt.

Die größten Massendeportationen waren die der Bauern während der Kollektivierung (1930–1933); die der als „sozial-gefährlich“ klassifizierten Polen und anderer Staatsbürger Polens sowie Estlands, Lettlands, Litauens und Moldovas nach der gewaltsamen Annexion Ostpolens, des Baltikums und Bessarabiens (1940–1941); die präventiven Deportationen der Deutschen und Finnen nach dem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion (1941–1942), die ausnahmslose Deportation der Angehörigen der „bestraften Völker“ des Nordkaukasus und der Krim.

In dieser Zusammenstellung fehlen eine Reihe von Opfergruppen, da es zu ihnen keine verlässlichen Zahlen gibt: „Kulaken“, die während der Kollektivierung vollständig enteignet, jedoch nicht deportiert wurden; ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, die nach der „Filtration“ in „Arbeitsbataillons“ gezwungen wurden sowie eine Reihe weiterer zahlenmäßig kleinerer Gruppen (Deportation von Kulaken-Kosaken aus den Gebieten Semireč’e, Syr-Dar’ja, Fergana und Samarkand an Orte außerhalb Turkestans, vor allem in den europäischen Teil Russlands im Jahr 1921; Deportation von Deutschen, Ingermanland-Finnen sowie weiterer „sozial gefährlicher Elemente“ aus den grenznahen Rajons des Gebiets Leningrad im Jahr 1942; Deportation von Krimtataren und Griechen aus den Bezirken Krasnodar und Stavropol’ im Jahr 1948 und viele weitere).

Nicht berücksichtigt sind bei der Aufstellung der Zahlen die Kinder der Deportierten, die in der Verbannung geboren wurden und dort aufwuchsen.

Insgesamt wurden mindestens sechs Millionen Menschen – wahrscheinlich eher 6,3–6,7 Millionen – deportiert.

Nimmt man die individuelle Verfolgung hinzu, so wurden in der Sowjetunion zwischen elf und elfeinhalb Millionen Menschen aus politischen Gründen Repressionen unterworfen. Dies ist die Zahl der Menschen, die rehabilitiert werden müssen.

Die juristische Rehabilitierung der Opfer

Die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen begann nach Stalins Tod im März 1953 und ist bis heute nicht abgeschlossen. Drei Phasen der Rehabilitierung sind zu unterscheiden: eine erste von 1953 bis 1983, eine zweite, von der Perestrojka geprägte in den Jahren 1988–1991, und die mit der Verabschiedung eines russländischen Rehabilitierungsgesetzes und der Auflösung der Sowjetunion beginnende, bis heute andauernde dritte Phase.

Die erste Phase der Rehabilitierung

Die mit dem Tod Stalins beginnende Phase der Rehabilitierungen ist in zwei Abschnitte zu gliedern – die Periode von 1953 bis 1961, in der sehr viele Menschen rehabilitiert wurden, sowie die Jahre 1962–1983, in denen kaum Rehabilitierungen stattfanden.

Der Begriff „Rehabilitierung“ ging in den 1950er Jahren in den allgemeinen Wortschatz ein: Sehr bald nach Stalins Tod am 5. März 1953 wurden zunächst einzelne, dann immer mehr Opfer politischer Repressionen aus Gefängnissen und Lagern entlassen oder durften ihren Verbannungsort verlassen. Wenig später begann ihre juristische Rehabilitierung: Die Urteile gegen sie wurden aufgehoben, und sie erhielten eine sogenannte „Rehabilitierungsbescheinigung“ – ein offizielles Dokument, das die Unschuld der betroffenen Person bestätigte.

Die Rehabilitierung diente zunächst ausschließlich den politischen Zielen der Parteiführung und wurde vom Politbüro lückenlos kontrolliert. Anfangs umfasste sie nur einen kleinen Kreis von Verwandten und engen Bekannten der Politbüromitglieder. Die erste Person, die aus der Verbannung zurückgeholt wurde, war Polina Žemčužina, die Ehefrau von Stalins engem Mitstreiter Vjačeslav Molotov: Sie wurde sofort nach Stalins Tod entlassen und kraft eines Beschlusses des ZK-Präsidiums noch vor ihrer formalen juristischen Rehabilitierung am 21. März 1953 wieder in die Partei aufgenommen. Rehabilitiert wurde als einer der ersten, gleichfalls auf Beschluss des ZK-Präsidiums, Michail Kaganovič, dessen Bruder Lazar’ ebenso zu Stalins engstem Kreis gehört hatte. Noch im selben Jahr wurde eine ganze Reihe weiterer führender Partei- und Staatsfunktionäre rehabilitiert.

Die Rehabilitierung im großen Stil begann im Jahr darauf. Im Mai 1954 wurden auf zentraler und regionaler Ebene spezielle Kommissionen zur Überprüfung der Verfahren gegen Personen eingerichtet, die zum damaligen Zeitpunkt noch in Haft waren. Die Kommissionen waren berechtigt, Verurteilte vollständig zu rehabilitieren, sie zu begnadigen oder den Schuldspruch zu ändern. In etwas weniger als zwei Jahren überprüften diese Kommissionen die Verfahren gegen 337 000 Menschen.

Einen starken Impuls gab der Rehabilitierung Chruščevs Rede über den „Personenkult“ um Stalin beim 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956. Im März wurden neue Kommissionen eingerichtet, diesmal unter der Ägide des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR. Sie prüften innerhalb eines halben Jahres weitere 177 000 Fälle, darunter 81 000 Verfahren von Menschen, die zu diesem Zeitpunkt noch inhaftiert waren. Zwischen 1956 und 1960 war die Zahl der jährlichen Rehabilitierungen besonders hoch.

Neben den Kommissionen befassten sich auch Staatsanwaltschaften und Gerichte intensiv mit den Revisionen. Die Staatsanwälte überprüften die einzelnen Verfahren, forderten Auskünfte zu parallelen Fällen sowie Akten aus den Archiven an (etwa dem der KPdSU, wenn es um Parteimitglieder ging). In vielen Fällen luden sie Zeugen vor (unter anderem solche, die früher gegen die Angeklagten ausgesagt hatten, manchmal auch ehemalige Ermittler) und verfassten ein Gutachten, auf dessen Grundlage die Leiter der zuständigen Staatsanwaltschaft das Urteil bei einem Gericht einlegte, das das Urteil aufhob (in der Regel, weil keine Straftat begangen worden war oder kein Straftatbestand existierte) und den Rehabilitierungsbeschluss fasste.

Für ehemalige Mitglieder der KPdSU war die „Parteirehabilitierung“, also die Wiederaufnahme, von besonderer Bedeutung. Mit dieser befassten sich das Parteikontrollkomitees des ZK. Einen Antrag konnten ehemalige Parteimitglieder stellen, die juristisch bereits rehabilitiert waren. Zwischen 1956 und 1961 wurden ca. 31 000 Personen wieder in die Partei aufgenommen.

Ende 1961 ging die Zeit der massenhaften Rehabilitierungen zu Ende. Die politischen Ziele, die Chruščev sich gesetzt hatte, waren zum großen Teil erreicht: Man hatte dem In- und Ausland gezeigt, dass die Führung einen Kurswechsel vollzogen und sich – nach Chruščevs Meinung – entschlossen von der repressiven Politik abgewandt hatte. Symbolischer Abschluss dieser Etappe war die Entfernung von Stalins Leichnam aus dem Mausoleum am Roten Platz, die am 30. Oktober 1961 vom 22. Parteitag der KPdSU beschlossen wurde.

Diese erste Phase der Rehabilitierung war durch Halbherzigkeit, Selektivität und Abhängigkeit von den politischen Interessen der Führer des Landes in der Nach-Stalin-Ära gekennzeichnet.

Die Befreiung von grundlos verurteilten Menschen aus den Lagern und die Wiederherstellung ihres unbescholtenen Namens und ihres Rufs sollte nach Chruščevs Plan die Autorität der KP in den Augen der Bevölkerung stärken. Für den Terror wurde zum einen Stalin persönlich verantwortlich gemacht, der seit den 1930er Jahren einen Kult um die eigene Person betrieben, die innerparteiliche Demokratie (die sogenannten „Leninschen Normen des Parteilebens“) zerstört und das Land im Alleingang regiert habe, zum anderen die Sicherheitsbehörden, die „der Kontrolle der Partei entglitten“ gewesen seien. Chruščevs Darstellung zufolge beschränkten sich die Repressionen auf vergleichsweise kurze Zeiträume: die zweite Hälfte der 1930er Jahre und – in geringerem Maß – einige wenige Nachkriegsjahre.

Diese Konstruktion machte es möglich, die Partei als solche von der Kritik auszunehmen, ja sie zum eigentlichen Opfer des Terrors zu erklären, auch wenn das in keiner Weise der Wirklichkeit entsprach. Außerdem bot die „Bekämpfung des Personenkults“ Chruščev die Möglichkeit, seine eigene Position im Politbüro zu stärken: Er nutzte den Umstand, dass Molotov und Kaganovič aktiv am Terror beteiligt gewesen waren, zu deren Entmachtung. Und sie schaffte die Möglichkeit, die Staatssicherheit formal zu schwächen (ab 1954 war sie kein selbständiges Ministerium mehr, sondern nur noch ein dem Ministerrat unterstelltes Komitee) und stärker der Kontrolle der Partei zu unterwerfen. Doch dieselbe Konstruktion sorgte auch dafür, dass die Rehabilitierung unvollständig blieb.

Rehabilitiert – durch Wiederherstellung des Rufs und Wiedereinsetzung aller Rechte –wurden nur jene, die individuell verfolgt worden waren und auch von diesen bei weitem nicht alle:

Ein markantes Beispiel für die Lückenhaftigkeit und Halbherzigkeit der Rehabilitierungen war der folgende Umstand: Ab 1939 – nach zwei Jahren massenhafter Hinrichtungen – erteilten außergerichtliche Instanzen (manchmal auch ordentliche Gerichte) den Angehörigen von Erschossenen die Auskunft, ihre Verwandten seien zu zehn Jahren Lagerhaft ohne Recht auf Korrespondenz verurteilt. Als die Verurteilten zehn Jahre später, Ende der 1940er Jahre, nicht zurückkehrten und daraufhin neue Anfragen eintrafen, antwortete man den Familien, die Betreffenden seien im Lager an einer Krankheit verstorben und teilte ihnen (mündlich) ein falsches Todesdatum mit. Die nächste Welle von Anfragen folgte weitere zehn Jahre später zu Beginn der Rehabilitierungen, Mitte der 1950er Jahre. Der KGB reagierte, indem er eine spezielle – selbstverständlich vom ZK der KPdSU abgesegnete – Direktive ausgab, nach der den Angehörigen ein offizieller Bescheid mit falschen Angaben zum Todesdatum und zur Todesursache ausgestellt werden durfte – denselben, die zuvor mündlich mitgeteilt worden waren.

Zwischen 1955 und 1962 wurden 253 598 solcher falscher Bescheide ausgegeben. Erst ab 1963 durften Bescheide mit den richtigen Daten ausgestellt werden, allerdings ohne Eintrag in der Spalte „Todesursache“. Bescheide, in denen sowohl das Datum als auch die Todesursache korrekt eingetragen waren, wurden erst ab 1989 ausgestellt. Der 1955 getroffenen Entscheidung lag die Auffassung des KGB zugrunde, eine Mitteilung über die Erschießung könnte „zum Schaden des sowjetischen Staates verwendet werden“.

Für die Rehabilitierung unter Chruščev war das charakteristisch: Einerseits wurde die Wahrheit offengelegt, andererseits geschah das immer nur dosiert; parallel dazu wurde auch gelogen, und viele Aspekte der Repressionen wurden weiterhin verleugnet. Der ganze Charakter und die allgemeine Richtung der Rehabilitierung waren bestimmt von der Furcht, dass die Staatsmacht untergraben und in der Bevölkerung Zweifel an der Unfehlbarkeit der Partei und des sowjetischen Staates geweckt werden könnten. Aus diesem Grund wurde die Rehabilitierung gezielt eingeschränkt und die bekanntesten Schauprozesse, mit deren Hilfe jahrzehntelang der Hass gegen die Feinde der Sowjetunion geschürt worden war, nicht wieder aufgerollt: der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre von 1922, der Schachty-Prozess von 1928, die großen Moskauer Prozesse gegen Zinov’ev, Kamenev, Bucharin u.a. von 1936–1938. Die Schauprozesse gegen diese „Feinde“ waren nicht nur im Bewusstsein, sondern auch im Unterbewusstsein der Bevölkerung längst fest verankert, eine Revision schien zu riskant. In Bezug auf die Kollektivierung oder den Roten Terror wurde eine Revision gar nicht erst in Betracht gezogen. Das Geschichtsbild, das Stalin 1938 in seinem Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B) niedergelegt hatte, blieb im Wesentlichen in Kraft. Die Argumente, warum bei den Rehabilitierungen „nicht zuviel riskiert werden sollte“, waren im übrigen nicht nur innenpolitischer Natur.

Charakteristisch ist Chruščevs Reaktion auf den Vorschlag, nach dem 22. Parteitag der KPdSU Informationen über den Mord an Sergej Kirov im Dezember 1934 zu veröffentlichen: „Wenn wir alles veröffentlichen, untergraben wir das Vertrauen der weltweiten kommunistischen Bewegung zu uns, zur Partei. Es gab ohnehin große Bedenken nach dem 20. Parteitag. Deshalb werden wir sie fürs erste nicht veröffentlichen, und in 15 Jahren überlegen wir noch einmal neu.“[7]

Das wichtigste Ergebnis der Rehabilitierung unter Chruščev war die Freilassung von Inhaftierten und die folgenreiche Schaffung eines Bewusstseins für die Repressionen in der Gesellschaft. Das Regime konnte hingegen durch die Rehabilitierung kaum neue Legitimität gewinnen, wie Chruščev es erhofft hatte – dafür war sie zu inkonsequent.

Nach Chruščevs Entmachtung 1964 gab es in den folgenden zwanzig Jahren deutlich weniger Rehabilitierungen, und deren politische Bedeutung sank rapide. Allmählich änderte sich auch die offizielle Einschätzung von Stalins Rolle wieder. Schon Chruščevs Stalinbild war nicht ganz eindeutig gewesen – auf der einen Seite sah er in ihm den Revolutionär und (wenn auch nicht unfehlbaren) Staatsmann, auf der anderen jenen, der für die Repressionen verantwortlich war. Unter Brežnev verstummte die Diskussion über Stalins „Fehler“ (die Repressionen) allmählich, und sein Bild als Oberkommandierender während des Krieges, der den „Großen Sieg“ errungen hatte, trat in den Vordergrund.

Während das Thema Repressionen aus der offiziellen Debatte verschwand, blieb es in der Gesellschaft sehr präsent und wurde zum Gegenstand einer (teils erlaubten, teils an der Zensur vorbei geführten) scharfen Polemik zwischen „Stalinisten“ und „Antistalinisten“. Es war zentral für den Samizdat und führte mit zur Entstehung der Bürgerrechtsbewegung in der UdSSR.

Was die quantitativen Ergebnisse dieser ersten Rehabilitierungsphase betrifft, liegen uns widersprüchliche Zahlen vor. Am 3. Juni 1988 teilte der KGB-Vorsitzende Viktor Čebrikov in einem Vermerk für das ZK der KPdSU mit, dass bis 1962 „1 197 847 Repressionen unterworfene Bürger rehabilitiert wurden. Zwischen 1962 und 1983 waren es 157 055“[8] In einem Vermerk von Aleksandr Jakovlev[9] u.a. vom 25. Dezember 1988, der offensichtlich ebenfalls auf Angaben des KGB basiert, heißt es, zum gegenwärtigen Zeitpunkt seien „1 354 902 Personen rehabilitiert worden, darunter 1 182 825 außergerichtlich verurteilte“.[10] Das würde heißen, dass in der zweiten Jahreshälfte 1988 mehr als 150 000 Menschen rehabilitiert wurden. Anderen Quellen zufolge gab es in diesem Zeitraum aber höchstens 20 000 Rehabilitierungen.[11]

Fragen werfen aber vor allem die Zahlen für die Zeit vor 1988 auf. Vielen Angaben zufolge kann die Zahl der unter Chruščev Rehabilitierten keinesfalls über 800 000 betragen haben. Da wir aber über keine anderen exakten Zahlen verfügen, stützen wir uns notgedrungen auf die aller Wahrscheinlichkeit nach überhöhten Angaben von Čebrikov und Jakovlev. In jedem Fall war selbst eine Zahl von 800 000 Rehabilitierungen von größter Bedeutung.

Die zweite Phase der Rehabilitierung 1988–1991

Mit der Zeit der Glasnost lebten auch die Diskussionen über die Stalinzeit und die Repressionen wieder auf. Die Zeitungen der Jahre 1987–1989 sind voller Studien und Memoiren über den Terror. 1987 fand sich eine informelle Gruppe engagierter junger Menschen zusammen, die sich den Namen Memorial gab. Sie sammelte Unterschriften für einen Brief an Michail Gorbačev, in dem die Schaffung einer Gedenkstätte für die Opfer der Repressionen gefordert wurde. Wenig später entstanden solche Gruppen in vielen Regionen, eine landesweite gesellschaftliche Bewegung entstand; Ende 1988 / Anfang 1989 wurde die Vereinigung Memorial gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern zählten sowohl ehemalige politische Gefangene der Stalinära als auch Bürgerrechtler der Brežnev-Zeit, von denen einige ebenfalls in Lagern inhaftiert gewesen waren. Bald entstanden auch die ersten Verbände ehemaliger Opfer.

Die politische Führung verschloss sich den Appellen zur Wiederaufnahme der Rehabilitierungen, zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit für die Überlebenden und zum Gedenken an die Toten nicht. Bemüht, die Initiative nicht aus der Hand zu geben, unternahm sie erste energische Schritte:

Am 28. September 1987 richtete das Politbüro eine „Sonderkommission zur ergänzenden Untersuchung von Materialien zu den Repressionen der 1930er–1940er und frühen 1950er Jahre“ ein. Sie bestätigte die allgemeine und die Partei-Rehabilitierung in einer ganzen Reihe von Fällen und bereitete eine Entschließung des Politbüros „Über zusätzliche Maßnahmen zum Abschluss der Rehabilitierung von Personen, die in den 1930er–1940er und frühen 1950er Jahren unbegründeten Repressionen ausgesetzt waren“ vor. Die Entschließung wurde am 11.7.1988 angenommen. Sie legte fest, dass Rehabilitierungen unabhängig von Anträgen und Beschwerden einzelner Bürger durchgeführt werden sollten – in diesem Punkt war sie fraglos verdienstvoll und neuartig. Andererseits ging das Politbüro nicht über den von Chruščev gesteckten zeitlichen Rahmen hinaus: von Mitte der 1930er Jahre bis zu Stalins Tod. Dies wird seitdem immer wieder kritisiert. Memorial hat darauf hingewiesen, dass die Repressionen nicht erst mit Kirovs Ermordung begonnen haben und mit Stalins Tod auch nicht beendet waren. Im Herbst 1988 übernahm Gorbačevs enger Mitstreiter Aleksandr Jakovlev den Vorsitz der Kommission, die daraufhin danach noch aktiver wurde. Sie überprüfte zahlreiche bekannte Prozesse und veröffentlichte ihre Untersuchungsergebnisse.

Am 16. Januar 1989 wurde ein von der Kommission vorbereiteter und vom Politbüro verabschiedeter Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR veröffentlicht, demzufolge alle von außergerichtlichen Instanzen („Troikas“, Sonderkommissionen etc.) gefällten Entscheidungen aufzuheben und alle von solchen Instanzen Verurteilten zu rehabilitieren waren. Allerdings wurden im selben Atemzug auch Einschränkungen formuliert: Von der Rehabilitierung ausgenommen waren Landesverräter, Helfer deutscher Einsatzgruppen während des Zweiten Weltkriegs, „Angehörige nationalistischer Banden und ihre Helfershelfer“, Prozessfälscher u.a. Der Erlass ging auch auf soziale Maßnahmen zur Unterstützung der Opfer von Repressionen sowie – erstmals! – auf die gesellschaftliche Verankerung des Gedenkens an die Opfer ein. Er verpflichtete lokale Sowjets und Vereine, die Schaffung von Denkmälern für die Opfer tatkräftig zu unterstützen und deren Begräbnisstätten gebührend instand zu halten.“

Der Erlass war ein starker Impuls für den Rehabilitierungsprozess. Bis Anfang 1990, also in weniger als einem Jahr, wurden 838 630 Menschen rehabilitiert, 21 333 Rehabilitierungsgesuche wurden abgelehnt.[12] Die wichtigste Funktion kam den Staatsanwälten zu, die die Verfahren überprüften und (meist assistiert von Archivaren des KGB oder des Innenministeriums) über die Rehabilitierung entschieden. Nur knapp 30 000 Personen wurden auf Antrag von Staatsanwälten von einem Gericht rehabilitiert.

Seit Verabschiedung des Erlasses konnten örtliche Behörden Anträge gesellschaftlicher Initiativen auf Verankerung des Gedenkens an die Opfer und entsprechende konkrete Vorschläge nicht mehr einfach abschmettern. In den Jahren 1989 und 1990 entdeckten solche Initiativen – teils mit, teils ohne Hilfe des KGB – zahlreiche Massengräber, in denen die Opfer von Erschießungen verscharrt worden waren. Während der gesamten Sowjetherrschaft waren alle Informationen über diese Orte sorgfältig geheimgehalten worden. In vielen Städten oder an den am Stadtrand gelegenen Erschießungsorten wurden Grundsteine für Denkmäler oder Kreuze aufgestellt – vorläufige Erinnerungszeichen, die jedoch bis heute nicht ersetzt wurden.

Der Erlass wurde von der Öffentlichkeit aber nicht durchweg positiv aufgenommen, es gab auch Kritik. Viele ehemalige Häftlinge waren unzufrieden, weil die angekündigte soziale Unterstützung gering ausfiel oder ganz ausblieb – sie erwarteten etwa höhere Renten und die Restitution von enteigneten Wohnungen. Aus der breiteren Öffentlichkeit kam vor allem Kritik, dass eine Rehabilitierung weiterhin erlangen konnte, wer in den 1930er, 1940er und frühen 1950er Jahren Repressionen ausgesetzt gewesen war.

In der Ukraine und im Baltikum war man verärgert, dass die Angehörigen nationaler Widerstandsbewegungen – im Text des Erlasses wurden sie, ganz im Einklang mit der sowjetischen Tradition, als „Mitglieder nationalistischer Banden“ bezeichnet – von der Rehabilitierung ausgeschlossen blieben. Aus heutiger Kenntnis der damaligen innerparteilichen Vorgänge wird jedoch deutlich, dass Gorbačev unter den gegebenen Umständen seinerzeit wohl kaum mehr hatte erreichen können.

Sein nächster Schritt auf dem Weg der Rehabilitierung zeigte, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit fortgeschritten war und eine bestimmte Richtung eingenommen hatte. Gorbačevs Erlass vom 13. August 1990 „Über die Widerherstellung der Rechte sämtlicher Opfer politischer Repressionen der 1920er–1950er Jahre“ hat vor allem deklarativen, weniger praktischen Charakter. Der Erlass verurteilt „die massenhaften Repressionen, die Willkür und Rechtlosigkeit, die die Stalinsche Führung im Namen von Revolution, Partei und Volk ins Werk setzte“, datiert den Beginn der Repressionen bereits auf Mitte der 1920er Jahre – gegenüber früheren Rechtsakten bedeutet das eine Ausweitung des in Frage kommenden Zeitraums um zehn Jahre – und verweist darauf, dass die Mitte der 1960er Jahre eingestellte Rehabilitierungspraxis auch in den Jahren zuvor keineswegs konsequent war. Zum ersten Mal spricht ein staatliches Dokument dieser Bedeutung nicht nur von Gerechtigkeit, sondern von Recht. Die Repressionen hätten „den zivilisatorischen Normen und der Verfassung“ widersprochen. Dem sowjetischen Volk seien Freiheiten genommen worden, „die in einer demokratischen Gesellschaft als natürlich und unveräußerlich gelten“; nicht nur außergerichtliche Instanzen, sondern auch Gerichte selbst hätten elementare Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verletzt. Zu rehabilitieren waren dem Geist des Erlasses nach auch die im Zuge der Kollektivierung deportierten Bauern sowie Geistliche und „aus religiösen Gründen verfolgte Bürger“. Der Erlass wertet die Repressionen der 1920er–1950er Jahre „aus politischen, sozialen, nationalen, religiösen und anderen Gründen“ als „illegal“, sie hätten gegen „grundlegende Bürgerrechte und soziale Menschenrechte verstoßen“. Die „Rechte der Opfer dieser Repressionen“ seien in vollem Umfang wiederherzustellen. Zweifellos war der Erlass ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung der Repressionen auf höchster staatlicher Ebene. Was für praktische Konsequenzen daraus folgten, war jedoch unklar. Daher wurde der Erlass faktisch nicht umgesetzt.

Generell wurden bereits 1990 deutlich weniger Menschen rehabilitiert als im Jahr zuvor. Vermutlich machte sich der Zerfall des Staatsapparats auch hier bemerkbar. Genaue Angaben über die Zahl der 1990–1991 Rehabilitierten liegen uns nicht vor. Die Rehabilitierungskommission des Politbüros löste sich im Sommer 1990 auf, da sie ihre Aufgabe nach eigener Aussage erfüllt hatte. Nach Angaben von Aleksandr Jakovlev gab es Anfang 1990 noch 752 000 nicht überprüfte Verfahren in den Archiven des KGB. Die folgenden Jahre haben gezeigt, dass diese Zahl viel zu niedrig angesetzt war.

Insgesamt brachte die Ära Gorbačev einen großen Durchbruch bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Noch immer gab es zwar zeitliche und formale Einschränkungen für eine Rehabilitierung, doch in beiderlei Hinsicht wurden die Grenzen ausgeweitet. Die Abwicklung der Rehabilitierungsverfahren war verhältnismäßig effizient: Zwischen 1988 und 1991 wurden ca. 1,5 Millionen Menschen rehabilitiert. Zu den erwähnten Erlassen kam eine Reihe weiterer Rechtsakte zu den Repressionen, insbesondere zu jenen gegen „bestrafte Völker“. Das Thema Repressionen war ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zurückgekehrt, und der Staat arbeitete – teils bereitwillig, teils widerstrebend – mit der Gesellschaft zusammen. Es waren die Rehabilitierungsgesetze und -praktiken der Gorbačev-Ära, auf deren Basis – in gewissem Maß auch in Abgrenzung zu ihr – die zentralen Grundsätze des späteren Rehabilitierungsgesetzes der Russländischen Föderation entwickelt wurden.

Die dritte Phase der Rehabilitierung: von 1992 bis zur Gegenwart

Die Vorbereitungen für ein eigenes russländisches Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen begannen unmittelbar nach den ersten freien Wahlen zum Obersten Sowjet der RSFSR im Frühjahr 1990. Den Entwurf entwickelte der Menschenrechtsausschuss des Obersten Sowjet unter Vorsitz des Bürgerrechtlers Sergej Kovalev, der in den 1970er Jahren selbst politischer Häftling gewesen war. Konkret verfasste den Entwurf vor allem der spätere Verfassungsrichter Anatolij Kononov. Der Arbeitsgruppe gehörten neben Abgeordneten des Obersten Sowjet und professionellen Juristen auch Arsenij Roginskij und Oleg Orlov als Vertreter von Memorial an.

Schon in der ersten Phase der Arbeit an dem Gesetz stieß der Entwurf auf Widerstand: Viele Abgeordnete des Obersten Sowjet opponierten gegen die politische Präambel des Gesetzes. Dort hieß es, Anspruch auf Rehabilitierung hätten alle Opfer der Sowjetherrschaft, von ihrem ersten Tage an, also dem 7. November 1917, bis zum Tag des Inkrafttretens des Gesetzes. 1990 gab es die Sowjetunion noch und die Erwähnung des Datums, an dem ihre Geschichte begann, wurde als Angriff auf die Legitimität der sowjetischen Staatlichkeit aufgefasst. Es ist symptomatisch, dass der zur selben Zeit formulierte Entwurf für ein gesamtsowjetisches Rehabilitierungsgesetz die Jahre 1920–1959 ansetzte.

Gegen das Gesetz stellte sich auch der KGB – mit einem formaljuristischen Argument: Er formulierte eine ablehnende Stellungnahme, in der es hieß, das Parlament einer Teilrepublik – der RSFSR – sei nicht befugt, Personen zu rehabilitieren, die von gesamtsowjetischen Instanzen verurteilt worden seien. Darüber hinaus müsse der Anwendungszeitraum des Gesetzes enger gesteckt werden, da seit den 1960er Jahren keine Menschen mehr widerrechtlich verhaftet und Verfahren nicht mehr mit fingierten Beweisen geführt worden seien.

Kritik kam schließlich von ganz anderer Seite: Das Gesetz sah eine individuelle Rehabilitierung vor, unter den Abgeordneten des Obersten Sowjet waren jedoch zahlreiche Angehörige „bestrafter Völker“, die verlangten, auch die territoriale, kulturelle und politische Rehabilitierung ganzer Völker müsse in das Gesetz aufgenommen werden. Es lag auf der Hand, dass diese Form der Rehabilitierung Gegenstand eines eigenen Gesetzes sein musste. Ihre Aufnahme hätte aus dem Gesetz eine bloße Absichtserklärung gemacht und seinen Geist vollkommen verändert.

Aufgrund dieser und anderer Einwände wurde das am 30. Oktober 1990 im Obersten Sowjet zur Debatte gestellte Gesetz zunächst zur Überarbeitung zurückgezogen. Verabschiedet wurde es mit kleinen Änderungen ein knappes Jahr später, am 18. Oktober 1991, zu einem Zeitpunkt also, als der kommunistische Teil der Abgeordneten nach dem gescheiterten Augustputsch eingeschüchtert war und der Zerfall der UdSSR bevorstand.

Die Präambel mit der Nennung des 7. November 1917 war erhalten geblieben und die neue Fassung des Gesetzes verurteilte weiter den Terror als unvereinbar mit Recht und Gerechtigkeit. Das erklärte Ziel des Gesetzes war nicht nur die Wiederherstellung der bürgerlichen Rechte der zu Unrecht Verfolgten, sondern auch eine „zum gegebenen Zeitpunkt den Möglichkeiten des Staates entsprechende Kompensation für den ihnen entstandenen moralischen und materiellen Schaden“.

Erstmals bestimmte ein russländisches Gesetz auch den Begriff „politische Repressionen“ und führte den Begriff „politisches Motiv“ ein. Der Kreis derer, die Anspruch auf Rehabilitierung haben, wurde genau bestimmt. Hier wurden zum ersten Mal die Opfer von Kollektivrepressionen aufgeführt: Personen, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an einen Verbannungsort deportiert, aus einer bestimmten Gegend verbannt oder in Sondersiedlungen verbracht worden waren. Damit waren sowohl deportierte Bauern als auch „bestrafte Völker“ und viele andere erfasst. Eigens genannt wurden auch Personen, die aus politischen Gründen in psychiatrische Kliniken eingewiesen worden waren. Automatisch (also ohne Prüfung des Verfahrens) rehabilitiert werden sollten Personen, die wegen der Ausübung ihrer Gewissens- und Meinungsfreiheit verurteilt worden waren.

Das Gesetz enthält auch Ausnahmeregelungen. Auf den ersten Blick mochte es zwar scheinen, als würden diese den Rehabilitierungsprozess nur unnötig bremsen, zumal die Mehrheit der aus politischen Gründen Verfolgten außergerichtlich und in Abwesenheit verurteilt worden waren. Der einfachste und beste Weg, so hätte man annehmen können, war folglich, pauschal sämtliche Entscheidungen dieser illegitimen Organe zu annullieren. Eben das erwies sich jedoch als unmöglich, denn dieselben Organe hatten auch Kriegsverbrecher und Helfer deutscher Einsatzgruppen verurteilt. Eine Aufhebung aller außergerichtlichen Urteile hätte bedeutet, dass auch sie automatisch rehabilitiert worden wären. Auch wenn diese Fälle nur einen sehr kleinen Prozentsatz der Rehabilitierungen ausgemacht hätten, wäre das für die große Mehrheit der russländischen Gesellschaft bis heute inakzeptabel.

Die Personengruppen, die von einer Rehabilitierung ausgeschlossen wurden, waren annähernd die gleichen, wie in dem sowjetischen Gesetz, das russländische Gesetz fixiert sie jedoch präziser und konkreter. Ausschlaggebend für einen Ausschluss von der Rehabilitierung ist das Kriterium der Gewaltanwendung. Wer Taten begangen hat, die in jedem Land unter Strafe stehen, kann nicht rehabilitiert werden.

Das Gesetz geht ausführlich auf den Ablauf der Rehabilitierung ein. Einen Antrag auf Rehabilitierung kann demnach nicht nur das Opfer oder ein Angehöriger stellen, sondern eine beliebige Person oder Organisation. Staatsanwälte prüfen die Verfahren gegen all jene, die individuell verurteilt worden waren – die Akten zu diesen Verfahren liegen im Wesentlichen in den Archiven des heutigen FSB. Sie treffen auch die Entscheidung über das jeweilige Rehabilitierungsgesuch. Geprüft werden sämtliche Verfahren, unabhängig von Anträgen.

Kollektivrepressionen, zu denen das Aktenmaterial überwiegend in Archiven des Innenministeriums liegt, werden von Angehörigen des Ministeriums selbst überprüft. Hier sieht das Gesetz keine durchgängige Überprüfung vor, sondern nur eine Rehabilitierung auf Antrag; darin liegt einer seiner wesentlichen Mängel. Das Gesetz legt auch detailliert fest, welche Kompensationen und Sonderrechte einem Rehabilitierten zustehen und wie mit der Frage der Restitution von Eigentum umzugehen ist.

Bald nach der Verabschiedung des Gesetzes begann der Kampf um seine Verbesserung. Opfervereinigungen und Memorial drängten darauf, den Kreis der Personen zu erweitern, die Anspruch auf Rehabilitierung haben. Nach jahrelangen Bemühungen gelang es, dass schließlich auch Kinder als Opfer von Repressionen – und nicht mehr, wie zuvor, nur als Mitbetroffene – anerkannt wurden, die mit ihren Eltern in Lagern, an Verbannungsorten und in Arbeitssiedlungen aufwuchsen, etwas später dann auch Personen, die in Folge der Repressionen als Minderjährige ein oder beide Elternteile verloren hatten.[13] Weitere wichtige Gesetzesänderungen konnten bisher leider nicht durchgesetzt werden.

Die soziale Lage der Opfer

Bereits zu sowjetischen Zeiten gab es Ansätze nicht nur zu einer politischen, sondern auch zu einer sozialen Rehabilitierung der Opfer des Massenterrors. Diese war jedoch minimal.

Rehabilitierten stand eine finanzielle Entschädigung in Höhe von zwei Monatsgehältern auf der Grundlage der Bezüge zum Zeitpunkt der Verhaftung zu, sie wurden bei der Vergabe von Wohnungen bevorzugt berücksichtigt, Arbeitsinvaliden hatten ein Recht auf eine Rente, bei der die Haftzeit angerechnet wurde.[14]

Viele einfache Leute, die nicht die richtigen Kontakte und Bekannten hatten, wussten jedoch nicht einmal von diesen Zuwendungen. Ehemalige „Volksfeinde“ und ihre Familien wurden selbst dann noch diskriminiert, als dazu nicht mehr offiziell angespornt wurde. Insbesondere erhielten bei weitem nicht alle Rehabilitierten tatsächlich die Erlaubnis, an ihren früheren Wohnort zurückzukehren. Eine Restitution war ohnehin nicht vorgesehen: Die Menschen erhielten weder ihre frühere Wohnung noch ihr konfisziertes Eigentum zurück. Das einzige, was einige der Zurückgekehrten erhielten, war die Möglichkeit, sich auf der Liste der Wohnungssuchenden an günstiger Stelle einzutragen und auf diese Weise eine deutliche ärmlichere und kleinere Wohnung zu erhalten als jene, die mit dem haltlosen und aufgehobenen Urteil enteignet worden war.

Im Falle jener, die als Mitglieder einer Gruppe Kollektivrepressionen ausgesetzt gewesen waren, unterschied sich die Rehabilitierung von Gruppe zu Gruppe substanziell. Während die einen an ihren Heimatort zurückkehren durften – und dies was das Maximum, was sie zu erwarten hatten –, wurde anderen, den Krimtataren und den „entkulakisierten Bauern“ sogar die Rückkehr verweigert.

Faktisch sind somit drei Opfergruppen zu unterscheiden, mit denen bei der sozialen Rehabilitierung auf unterschiedliche Weise verfahren wurde:

Insgesamt war die Wiedereingliederung der Opfer der Repressionen in das neue Leben äußerst schwer und mit vielen Leiden verbunden. Wer eine Lagervergangenheit hatte, konnte nicht mit einer anständigen Arbeit und einer ebensolchen Wohnung rechnen. Viele begegneten diesen Menschen weiter misstrauisch und feindlich. Das Kainsmal „Volksfeind“ haftete den ehemaligen Gefangenen und ihren Familien weiter an. Sie konnten sich nicht im Leben einrichten, fanden keinen Beruf, hatten vielerlei Schwierigkeiten und konnten oft die zerrissenen Verbindungen zu ihrer Familie und ihren Verwandten nicht wiederherstellen. Viele, die die besten Jahre ihres Lebens im Lager verbracht hatten, gründeten überhaupt keine Familien und lebten, ohne Unterstützung durch eigene Kinder, in äußerster Not.

Erst das Rehabilitierungsgesetz vom 18.10.1991 ermöglichte es diesen Menschen, Kompensationszahlungen und gewisse Vergünstigungen zu erhalten. Dies waren in einzelnen:

Die scheinbar lange Liste von Leistungen bedeutete de facto eine weitere Erniedrigung.

Die einmalige Zahlung wurde bei Verabschiedung des Gesetzes auf zwei Drittel des gesetzlichen Mindestlohns pro in Haft verbrachtem Monat festgesetzt und im Jahr 2000 auf den fixen Betrag von 75 Rubeln (damals knapp drei Euro, heute gut ein Euro) pro Monat im Gefängnis festgelegt. Wer zehn Jahre in Lagern an der Kolyma verbracht hatte, erhielt 10 000 Rubel (damals 370 Euro, heute 145 Euro).[15]

Als Kompensation für konfisziertes Wohneigentum – sei es eine Wohnung in Moskau oder ein Haus auf dem Land gewesen – ist ebenfalls eine Höchstsumme von 10 000 Rubeln vorgesehen.

Als in der ersten Hälfte der 2000er Jahre der Ölpreis stieg und der russländische Staat hohe Einnahmen erzielte, so dass es scheinbar die Möglichkeit gab, den Opfern des sowjetischen Terrors angemessene Unterstützung zu leisten, entschied die Führung im Kreml, dass von nichtmonetären Vergünstigungen auf monetäre Leistungen überzugehen sei. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass den Opfern der Repressionen bei der Verabschiedung des Rehabilitierungsgesetzes 1991 faktisch keine Vergünstigungen zugestanden wurden, sondern eine zeitlich gestreckte Kompensation in Form von regulären Vergünstigungen.

Die Umstellung auf monetäre Leistungen anstelle nichtmonetärer Vergünstigungen im Jahr 2005 führte zu einer komplett neuen Situation bei der Sozialversorgung von rehabilitierten Opfern der sowjetischen Repressionen. Sie erhalten seitdem monatliche Zahlungen, die nicht aus dem Staatshaushalt, sondern aus dem Haushalt des Föderationssubjekts genommen werden, in dem sie ansässig sind.

Rechtlich gesehen ist die Situation aus zwei Gründen absurd:

Lassen sie sich als Invaliden registrieren erhalten sie je nach Einstufung monatlich zwischen 1620 und 2830 Rubel (23 bzw. 40 Euro) zusätzliche Versorgungsrente aus dem Staatshaushalt. Dies ist im Allgemeinen keine schlechte und vor allem eine sichere monatliche Unterstützung.

Rechtlich betrachtet sollten die als Invaliden und als Opfer politischer Repressionen anerkannten Personen auf der Grundlage beider Kategorien Leistungen erhalten. Dass dies möglich ist, zeigt das Beispiel der „Liquidatoren des Unfalls im AKW Tschernobyl“. Sie können Zahlungen als Invaliden und als ehemalige „Liquidatoren“ erhalten. Die Sozialämter erkennen jedoch im Falle der rehabilitierten Opfer der Repressionen den doppelten Status nicht an, diese müssen, um eine Invalidenrente zu erhalten, faktisch auf den anderen Status verzichten.

Sehr treffend hat Margarita Anisimova, die sich bei Memorial engagiert, die Sache auf den Punkt gebracht. „Sie verlangen, dass ich auf die Anerkennung als Opfer politischer Repressionen verzichte, um den Status eines Invaliden zu erhalten. Niemals werde ich das tun, selbst wenn sie Invaliden das Zehnfache zahlen. Gebe ich die Anerkennung als Opfer der Repressionen auf, gebe ich die Rehabilitierung meiner Eltern preis, die erschossen wurden.“

Forderungen an ein revidiertes Rehabilitierungsgesetz

Das Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen muss dringend und grundlegend überarbeitet werden.

Zunächst muss der Kreis der Personen, die rehabilitiert werden können, erheblich ausgeweitet werden. Als das Gesetz 1990–1991 formuliert wurde, wurden einige Typen von Repressionen nicht konkret erwähnt. Dies ließ bei den Staatsanwälten, die mit der Rehabilitierung befasst sind, im Falle von Opfern bestimmter Kategorien Zweifel aufkommen, was in der Regel dazu führte, dass diesen Menschen die Rehabilitierung verweigert wurde. Dies war etwa bei den sogenannten „Entzogenen“ der Fall, die in denen in den Jahren 1918–1936 das Wahlrecht entzogen worden war. Es handelt sich um mindestens vier Millionen Menschen – ehemalige Beamte des Zarenreichs, Kaufleute, einstige Geistliche, Gewerbetreibende u.v.m. Der Entzug des Wahlrechts hatte in den ersten Jahrzehnten nach der Revolution erhebliche weitere Folgen, so war diesen Menschen etwa der Besuch einer Hochschule nicht erlaubt, und sie wurden grundsätzlich nicht auf bestimmte Stellen im Staatsdienst eingestellt.

Im Rehabilitierungsgesetz heißt es, rehabilitiert werden soll nicht nur, wer zu Unrecht verhaftet oder unmittelbar Opfer von Kollektivrepressionen geworden ist, sondern auch, wer „andere Einschränkungen seiner Rechte und Freiheiten zu erleiden hatte.“ Die Staatsanwälte verweigern hingegen den „Entzogenen“ die Anerkennung als Opfer von Repressionen mit dem Hinweis, dass diese Kategorie im Gesetz nicht unmittelbar genannt ist.

Zwar ist praktisch keiner dieser Menschen mehr am Leben. Ihren Nachkommen ist jedoch die posthume Rehabilitierung der Verwandten ein Anliegen. Für uns ist die Rehabilitierung dieser Menschen nicht nur wichtig zum Zwecke der Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit, sondern als Bestätigung eines unabänderlichen Rechtsprinzips.

Es gibt einige weitere Opferkategorien, unter die weniger Menschen fallen, die aber dennoch in dem Gesetz genannt werden müssen.

Zweitens muss in das Gesetz ein Passus aufgenommen werden, der es erlaubt, auch solche Menschen zu rehabilitieren, bei denen die Akten zu dem Straf- oder Untersuchungsverfahren verloren gegangen sind oder zerstört wurden. Das geltende Gesetz verlangt, dass die Akten vorhanden sind, damit das Verfahren überprüft werden kann. Wie wichtig eine solche Änderung des Gesetzes ist, zeigt etwa der Fall der Opfer der Massenerschießungen polnischer Staatsbürger im Jahr 1940 in Katyń und an anderen Orten, die wegen fehlender Akten bis heute nicht rehabilitiert wurden. Akten dazu gibt es schlicht nicht, denn sie wurden Ende der 1950er Jahre vernichtet, um das Verbrechen zu vertuschen. Es gibt jedoch eine ganze Reihe anderer Dokumente, die es erlauben, die Namen der Ermordeten zu identifizieren und die beweisen, dass das Verbrechen von Katyń auf Anordnung der obersten sowjetischen Führung begangen wurde. Diese Dokumente müssen zur Rehabilitierung der Opfer dieser Erschießungen herangezogen werden.

Drittens ist in dem Artikel des Gesetzes, in dem die Ausnahmen aufgezählt werden – also Personengruppen, die verurteilt wurden, jedoch nicht rehabilitiert werden –, von Personen die Rede, die sich „Verbrechen gegen die Rechtsstaatlichkeit“ haben zuschulden kommen lassen. In der Präambel zu diesem Artikel heißt es, dass die Verweigerung der Rehabilitierung sich auf Hinweise stützen muss, die sich aus den Akten zu den Verfahren der betreffenden Person ergeben.

Faktisch handelt es sich hier ausschließlich um Mitarbeiter der Staatssicherheitsorgane (OGPU-NKVD-MGB). Viele von ihnen wurden tatsächlich Repressionen unterworfen. Zu sowjetischen Zeiten wurden viele von ihnen rehabilitiert, nur den hochrangigsten wurde die Rehabilitierung verweigert – den Leitern der regionalen NKVD-Verwaltungen, die den Vorsitz der außergerichtlichen Kommissionen („Trojkas“) innegehabt hatten, den Abteilungsleitern im Zentralapparat der OGPU bzw. des NKVD, den Untersuchungsrichtern in den besonders skandalösen Verfahren, die unter Chruščev bekannt geworden waren.

Das Rehabilitierungsgesetz von 1991 führte zu einer neuen Praxis. In vielen Fällen enthalten die Akten zu den Verfahren gegen diese Personen keine Hinweise darauf, dass sie Verbrechen gegen die Rechtsstaatlichkeit begangen hatten, bevor sie auf der Basis erfundener Anklagen wegen Spionage oder Verschwörung gegen die Sowjetmacht verurteilt wurden. Unter Berufung auf den Buchstaben des Gesetzes rehabilitierten die Staatsanwälte in den 1990er und 2000er Jahren diese Leute, darunter auch jene, denen in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren die Rehabilitierung verweigert worden war.

Auf diese Weise wurde etwa D. Dmitriev rehabilitiert, in dessen Verantwortung die Erschießung von tausenden Menschen im Gebiet Sverdlovsk fiel. Ebenso V. Agas, der Untersuchungsrichter im Verfahren gegen Marschall Tuchačevskij, der berüchtigt war, weil er bei nahezu allen Verhören folterte, D. Apresjan, der in den Jahren 1937–1938 den „Großen Terror“ in Usbekistan organisierte, Ja. Agranov, einer der wichtigsten Figuren beim Terror gegen die Intelligencija in den 1920er und 1930er Jahren, so wie viele, viele weitere.

Der entsprechende Artikel des Rehabilitierungsgesetzes muss dringend geändert werden. Es muss ein Passus aufgenommen werden, der fordert, dass bei Personen, die Angehörige der Staatssicherheitsorgane, des Innenministeriums oder der Justiz bzw. der Staatsanwaltschaft waren, zur Beurteilung nicht nur die Akten zu den Prozessen gegen sie herangezogen werden, sondern ihre Tätigkeit anhand weiterer Archivmaterialien sorgsam überprüft werden muss.

Viertens müssen die Vorschriften des Gesetzes zur Rehabilitierung von Opfern der Kollektivrepressionen, die dem Innenministerium obliegt, geändert werden. Anstelle einer Rehabilitierung auf der Grundlage von Einzelanträgen muss die Anordnung und Durchführung der Repressionen gegen die gesamte jeweilige Gruppe einer juristischen Neubewertung unterzogen werden. Andernfalls wird die Rehabilitierung von Millionen von Opfern der Kollektivrepressionen ausbleiben.

Fünftens geht das Gesetz praktisch nicht auf die Frage nach der Erinnerung an die Opfer ein. Einzig von der Erstellung von „Listen der rehabilitierten Personen“ ist die Rede. Es wird weder geklärt, wer diese erstellen, noch wer sie veröffentlichen soll. Aus den „Listen“ sind längst „Erinnerungsbücher“ geworden, die in den Regionen Russlands jeweils von unterschiedlichen gesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Stellen erstellt werden. Es gibt keinerlei einheitliche Richtlinien für ihre Erstellung. In einer ganzen Reihe von Regionen werden überhaupt keine solchen Bücher erstellt. In das Gesetz muss auch die Einrichtung von Museen und Gedenkstätten, die Suche nach Massengräbern und die Umwandlung dieser Orte in Gedenkorte sowie die Errichtung von Gedenksteinen und -tafeln als staatliche Aufgabe aufgenommen werden.

Sechstens steht das russländische Rehabilitierungsgesetz nicht vollständig in Einklang mit den entsprechenden Gesetzen der Nachbarstaaten, der ehemaligen Sowjetrepubliken. Nicht nur einzelne Menschen, ganze Opfergruppen können nicht rehabilitiert werden, weil es Widersprüche zwischen diesen Gesetzen sowie Lücken in den einzelnen Gesetzen gibt. Um dies zu ändern, muss das russländische Gesetz an einigen Stellen geändert werden. Zudem müssen die an der Rehabilitierung interessierten Staaten Abkommen zu dieser Frage schließen.

Beispiele für wichtige Ergänzungen und Änderungen an dem russländischen Rehabilitierungsgesetz gibt es viele. In den 20 Jahren seit seiner Verabschiedung haben sich seine starken und schwachen Seiten deutlich gezeigt. Leider haben die Abgeordneten der Duma praktisch alle Änderungsvorschläge abgewiesen. Das Thema Rehabilitierung ist offensichtlich nicht in ihrem Interesse.

Die Ergebnisse der Rehabilitierungen auf der Basis des Gesetzes von 1991

Unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes wurden 1992 in ganz Russland bei der Staatsanwaltschaft und im Innenministerium spezielle Arbeitsgruppen zur Rehabilitierung geschaffen. In den 1990er Jahren war die Zahl der jährlichen Rehabilitierungsanträge hoch, anschließend ging sie zurück. Mitte der 2000er Jahre, in einigen Regionen Russlands bereits früher, wurden diese Arbeitsgruppen aufgelöst.

In den Jahren 1992–2010 wurde eine große Zahl von Menschen rehabilitiert:

Es heißt, die Rehabilitierung von Menschen, die von der Staatssicherheit individuell verfolgt wurden, sei heute in Russland praktisch abgeschlossen. Viele widersprechen jedoch dieser Einschätzung. Memorial fordert vor allem, dass die Fälle, in denen eine Rehabilitierung verweigert wurde, erneut geprüft werden, vor allem solche, in denen es um Verfolgungen in der Zeit des Bürgerkriegs und des Großen Vaterländischen Kriegs geht.

Bei weitem nicht abgeschlossen ist die Rehabilitierung im Falle der Kollektivrepressionen. Sie muss weiter vorangetrieben werden.

Schließlich genügt es nicht, dass das Innenministerium, der Geheimdienst FSB und die Staatsanwaltschaft von Zeit zu Zeit aus verschiedenen zufälligen Anlässen einige summarische Zahlen zu den Rehabilitierungen veröffentlichen. Damit die Gesellschaft die Ergebnisse der Rehabilitierung anerkennen kann, müssen diese Behörden die vorhandenen Informationen zum Leben der rehabilitierten Opfer der Repressionen in eine einheitliche gesamtstaatliche Datenbank überführen. Russland hat eine solche Datenbank für die Opfer des Großen Vaterländischen Kriegs aufgebaut. Memorial und viele andere gesellschaftliche Initiativen fordern die Schaffung einer solchen Datenbank für die Opfer der politischen Repressionen seit vielen Jahren. Es ist an der Zeit, dass die Staatsführung dieses Ziel ausgibt und die Behörden anweist.

Im günstigsten Fall speist sich diese Datenbank nicht nur aus Archiven in Russland, sondern auch aus den Archiven der ehemaligen Sowjetrepubliken. In den Nachbarstaaten – leider nicht in allen – werden ebenfalls seit vielen Jahren Opfer der Repressionen rehabilitiert. Doch die Ergebnisse sind in Russland nicht bekannt. Daher können keine Angaben gemacht werden, wie hoch insgesamt der Anteil der Opfer sowjetischer Repressionen ist, die rehabilitiert wurden.

Nach Angaben des russländischen Arbeitsministeriums lebten Anfang 2013 in Russland noch 776 667 Menschen, denen auf der Basis des Rehabilitierungsgesetzes der Status „Opfer der sowjetischen Repressionen“ zuerkannt worden ist. Dies sind 230 000 weniger als noch zwei Jahre zuvor. Diese Menschen sind hochbetagt, daher geht die Zahl weiter rasch zurück.[17]

Leider ist das Rehabilitierungsgesetz bis heute das einzige Gesetz zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Es hat zum Ziel, Menschen, denen der Staat Schaden zugefügt hat, wieder in ihre Rechte einzusetzen. Die Großzahl dieser Menschen ist heute alt, ohne Angehörige und ernsthaft krank. Auf diesen ersten – sehr wichtigen – Schritt sind bislang keine weiteren gefolgt. Da der Staat die Geschichte als Instrument betrachtet, erinnert er, wenn es seinen Interessen entspricht, gelegentlich an die Opfer, meistens jedoch schweigt er. Auch die Gesellschaft zeigt ab und an Empathie für die Opfer der politischen Repressionen, um sich dann ihnen gegenüber wieder gleichgültig zu zeigen.

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel, Berlin

 


[1]   Genauere Angaben sind nicht möglich, da etwa die Zahl der Menschen, die ohne Gerichtsurteil dem roten und weißen Terror zum Opfer fielen, nicht statistisch erfasst wurde. Seriöse Schätzungen liefert Vadim Ėrlichman: Poteri narodonaselenija v XX. veke. Spravočnik. Moskva 2004. – Die mit offiziellen Quellen belegbaren Zahlen, auf die wir uns hier stützen, liegen deutlich niedriger (s.u.)

[2]   So das Ergebnis der Untersuchungen einer beim Präsidenten angesiedelten Kommission zur Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen aus dem Jahr 2000. Doklad Komissii pri Prezidente RF po reabilitacii žertv političeskich repressij, <www.alexanderyakovlev.org/personal-archive/articles/7141>.

[3]   Der Begriff bezeichnete in den ersten Jahren der Sowjetmacht Personen, die wegen ihrer militärischen Kenntnisse und Fähigkeiten aus der Armee des Zarenreichs in die Rote Armee übernommen worden waren.

[4]   Doklad Komissii [Fn. 2].

[5]   Am 6. Oktober 1991 beschloss der Präsident der RSFSR Boris El’cin per Ukaz die Auflösung der KPdSU und ein Verbot ihrer militärischen und industriellen Unterorganisationen, womit juristisch der Zerfall jener Partei verankert wurde, die 70 Jahre die Alleinherrschaft über das Land hatte.

[6]   Viktor Luneev: Političeskaja prestupnost’, in: Moskva, 7/1994, S. 107–127.

[7]   Zitiert nach Grigorij Pomeranc: Sledstvie vedet kartožanka. Mosvka 2004, S. 151. Pomeranc gibt hier die Erinnerungen von Ol’ga Šatunovskaja wieder, die Mitglied der Partei gewesen war, 1937 verhaftet und zu langjähriger Lagerhaft verurteilt und erst unter Chruščev freigelassen wurde und dann in einer Rehabilitierungskommission arbeitete.

[8]   Reabilitacija: kak ėto bylo. Dokumenty Politbjuro CK KPSS, stenogrammy zasedanija Komissii Politbjuro CK KPSS po dopol’nitel’nomu izučeniju materialov, svjazannych s repressijami, imevšie mesto v period 30-40-x i načala 50-x gg., i drugie materialy. Bd. 3. Moskva 2004, S. 77.

[9]   Jakovlev war seit Oktober 1988 Vorsitzender der Kommission zur ergänzenden Untersuchung von Materialien zu den Repressionen der 1930er bis frühen 1950er Jahre beim Politbüro des ZK – Red.

[10]  Reabilitacija: kak ėto bylo [Fn. 8], S. 142.

[11]  Ebd., S. 197–198.

[12]  Ebd., S. 345.

[13]  Beide Gesetzesänderungen wurden aufgrund von Entscheidungen des Verfassungsgerichts von 1995 respektive 2000 verabschiedet. Eine kuriose Nebenwirkung war, dass die Zahl der rehabilitierten Opfer von Repressionen in Russland um die Jahrtausendwende sprunghaft anstieg.

[14]  Postanovlenie Soveta Ministrov SSSR Nr. 1655 ot 8.9.1955 „O trudovom staže, trudo­ustrojstve i pensionnom obespečenii graždan, neobosnovanno privlečennych k ugolovnoj otvetstvennosti i vposledstvii reabilitirovannych.“ Abgedruckt in: Sbornik zakonodatel’nych i normativnych aktov o repressijach i reabilitacii žertv političeskich repressij. Moskva 1993.

[15]  Die Angaben in Euro sind zum Wechselkurs im Jahr 2000 bzw. Anfang 2018 gerechnet. An der Kaufkraft orientiert liegen die Beträge in Euro etwa doppelt so hoch, allerdings mit erheblichen regionalen Schwankungen – Red.

[16]  Zahlen nach dem Bericht der Kommission für die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen beim Präsidenten der RF aus dem Jahr 2011. – <https://minjust.gov-murman.ru/files/reab.pdf>.

[17]  Ju. Kantor: Živye i mertvye. Rossijskaja gazeta, 28.5.2013.

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