Titelbild Osteuropa Edition Osteuropa 2/2017

Aus Edition Osteuropa 2

Lev Gudkov oder die Stunde der Soziologen

Karl Schlögel

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(Edition Osteuropa 2, S. 289–294)

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Gesellschaftliche Umbrüche sind Orte privilegierter Erkenntnis. Es geht turbulent zu im Stakkato historischer Augenblicke und dramatischer Verwerfungen, wenn eine Formation, alt geworden, von der Bühne abtritt, und eine neue Wirklichkeit über die Zeitgenossen hereinbricht. Es kann einem schwindlig werden in der Beschleunigung der Ereignisse, man verliert leicht die Übersicht, aber wer mitten drin ist, dessen Wirklichkeitssinn ist geschärft, man sieht und hört genauer. Was ewig schien, ist auf einmal zerfallen und mit bloßem Auge zu erkennen; woran man sich gewöhnt hatte, hat aufgehört, das Gewohnte und Gewöhnliche zu sein, das Selbstverständliche ist auf einmal fragwürdig geworden und wird der Rede für Wert befunden. Eine Gesellschaft, ein Staatswesen, eine Lebensform zerlegt sich in seine Bestandteile. Hoch-Zeit für Analytiker. Dies gilt erst recht, wenn es sich um ein grandioses Imperium handelt oder eine Formation, die angetreten war, im 20. Jahrhundert die bessere der besten aller Welten zu sein – und dies entgegen allen Erwartungen und Prognosen auch ein ganzes Jahrhundert durchhielt: das sowjetische Imperium, der Sozialismus sowjetischen Typs.

Aber aus der Zeitgenossenschaft und Augenzeugenschaft konnte nur etwas machen, wer darauf vorbereitet war, dass ein historischer Augenblick herangereift war – gedanklich, lebensgeschichtlich, mental – wie jene russischen Soziologen und Intellektuellen, die sich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre im Umkreis des Soziologen Jurij Levada – Jahrgang 1930 – gefunden hatten.

In meiner Studienzeit Anfang der 1970er Jahre hatte ich in Seminaren René Ahlbergs an der Freien Universität Berlin von der Wiederbegründung der Soziologie in der Sowjetunion gehört – es waren die Namen von Rutkevič, Jovčuk, Jadov oder Zdravomyslov. Levada, der originelle Kopf und charismatische Einzelkämpfer, war nicht darunter. Ihm war gerade das Institut für empirische Sozialforschung geschlossen worden.

Levada und seine Schüler – Boris Dubin, Lev Gudkov, Aleksej Levinson, Natalija Zorkaja vor allem – haben aus der Situation, die sich Ende der 1980er Jahre abzeichnete, etwas gemacht. Das ist im Abstand von einem Vierteljahrhundert zum Ende der Sowjetunion noch deutlicher. Das angesehenste und zugleich bedrohte Meinungsforschungsinstitut des heutigen Russland trägt den Namen Levadas, seine Schüler sind längst Forschungspersönlichkeiten mit eigenem Profil, ihre Namen tauchen international immer dann auf, wenn es darum geht, Fragen zum Stand der Dinge in Russland heute zu beantworten. Der Erklärungsnotstand ist groß und die Expertise ist gefragt. Sie sind zu Repräsentanten dessen geworden, was dem Stand der Soziologen in modernen Gesellschaften zufällt: Organon der gesellschaftlichen Selbstaufklärung zu sein, zu analysieren, wie Gesellschaft funktioniert, wie sie tickt – mit allen Risiken, die damit auch verbunden sind, äußeren Pressionen ausgesetzt, aber auch den Gefahren von Illusion und Selbsttäuschung, die auch den skeptischsten Vertretern der „denkenden Gesellschaft“ nicht fremd sind. Sie hatten am Anfang wohl kaum den Ehrgeiz, eine eigene Schule zu begründen, eher fiel ihnen diese Rolle zu dank ihrer nicht nachlassenden Neugier, den sozialen Entwicklungen im Lande auf der Spur zu bleiben und sich darauf einen Reim zu machen.

Das lässt sich insbesondere am Œuvre von Lev Gudkov zeigen, das einem nicht nur von seinem monumentalen Umfang her Respekt und Bewunderung abverlangt – große Monographien sind darunter, systematische Theoriearbeiten und mit größter Disziplin angelegte Forschungsberichte, Auswertungen umfangreicher Meinungsumfragen, Interventionen und Kommentare zu aktuellen Ereignissen, und dies nun schon ein halbes Jahrhundert lang mit nicht nachlassender Sorgfalt, nicht zu reden von dem Arbeitspensum, das er als Direktor des Levada-Zentrums tagaus, tagein zu bewältigen hat. Gudkov war mit der Studie „Die Sowjetmenschen. Soziogramm eines Zerfalls“, die er gemeinsam mit Kollegen verfasst hatte, einer größeren, auch internationalen Öffentlichkeit, bekannt geworden.[1] Darin wird versucht, die Züge des Homo Sovieticus, des Sowjetmenschen herauszupräparieren, der eingefügt in den Rahmen sowjetischer Institutionen ist, als wahrhaftes „Ensemble“ gesellschaftlich-politischer Verhältnisse, geprägt von staatlicher Aufsicht und Fürsorge, staatlichem Paternalismus und einer die Generationen übergreifenden Gewalterfahrung. Es ist viel von einem „anthropologischen Typus“ des Sowjetmenschen die Rede, doch in Wahrheit ist es, wie leicht nachzulesen ist, nicht eine essentialistische Abart der menschlichen Spezies, sondern das Porträt, die Physiognomie eines von einer spezifischen Geschichte und Erfahrung nachhaltig geprägten Menschentypus. Man könnte das Buch mit all seinen Facetten viel eher eine Studie zur Lebenswelt, zum way of life, byt, Alltag nennen, der ihm dauerhafte Verhaltensweisen nahegelegt und aufgeprägt hat. Das literarisch-ästhetische Äquivalent etwa findet sich in Svetlana Aleksievičs Studien. Dieser Typus gibt sich im Augenblick der Erosion, ja des Zerfalls der institutionellen Umgebung in aller Deutlichkeit zu erkennen, in seiner Fragilität ebenso wie in seiner tiefer gegründeten Stabilität und in seiner in der longue durée verankerten Struktur und Konstitution. Der „einfache“, der „normale“ Sowjetbürger wird herauspräpariert nicht als Entlarvung eines Propagandabildes, sondern als Beschreibung eines Typus, der eine Genese, einen Reifungsprozess hinter sich hat und nun offensichtlich an ein Ende gekommen ist. Was an dieser Studie so eindrucksvoll war, war die Komplexität der Wahrnehmung, der Reichtum der analytischen Register, die Kühnheit des Zugriffs, der mitunter das Anekdotische bemüht, das nicht bloß illustrativ ist, sondern eine charakteristische Lebens- oder Verhaltensform maximal verdichtet. Die Entdeckung des „einfachen“ und „gewöhnlichen“ Menschen öffnete das Tor zur Lebenswirklichkeit und gab in Gestalt der Auswertung von Meinungsumfragen Erfahrungen eine Stimme, die bis dahin ausgeschlossen oder in andere Medien abgedrängt waren – vor allem in die Literatur. Zu diesen emblematischen Situationen, lieux de mémoire und common places gehören Rituale des Alltags wie die Namensgebung, Formen der Arbeitsdisziplin, der Privatheit, aber auch die Bedeutung von Mutterflüchen, die Demütigung in der Armee oder der Neid auf andere, wenn diese nur die Chance haben, dem Unglück, in dem alle gleich sind, zu entgehen.

Man kann an diesem Versuch einer Diagnose des sowjetischen Menschen ermessen, was es bedeutet hat, dass die Gesellschaft nach langer Zeit des Schweigens und der Unterdrückung des freien Gesprächs sich selbst wieder zum Objekt wissenschaftlicher Reflexion gemacht hat. Fast konnte es so scheinen, als sei Russland an einen Punkt zurückgekehrt, an dem es schon einmal gewesen war – an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als Russland eine ganze Plejade von Demographen, Ethnographen, Statistikern und Soziologen hervorgebracht hatte, einen intellektuellen Reichtum, von dem spätestens nach Stalins Machtantritt nichts mehr übriggeblieben war. Die Elite, die einmal das Großunternehmen der Volkszählung von 1897 organisiert hatte, war verschwunden, ein Pitirim Sorokin war 1922 des Landes verwiesen worden und machte später in Harvard Karriere, ein origineller marxistischer Kopf wie Aleksandr Bogdanov, der Theoretiker der Organisationswissenschaft, starb, bevor der Terror, dem zahllose Talente zum Opfer fielen, ihn vernichten konnte. Für mindestens zwei Generationen gab es keine Möglichkeit der soziologischen Analyse jenseits der Axiome des Stalinschen „Kurzen Lehrgangs“ mit seinen Gesetzmäßigkeiten, Kollektiv­identitäten und Entwicklungsimperativen. Die Folge war, dass die Gesellschaft von sich selbst kein Bild mehr erzeugen konnte und sich alles Wissen über die Gesellschaft in den Dossiers der Geheimpolizei konzentrierte. Am Ende der Stalinzeit hatte die Zerstörung der Öffentlichkeit durch Kontrolle, Einschüchterung und Verdacht eine verwüstete geistige Landschaft hinterlassen, in der Wissensgebiete und Disziplinen neu begründet werden mussten. Von der Dimension dieses Prozesses konnte man sich in offenen Gesellschaften und selbst in totalitär gleichgeschalteten Regimen wie dem der Nazis, das zwölf Jahre gedauert hatte, kaum eine Vorstellung machen.

Vor diesem Hintergrund erst wird die Leistung der spätsowjetischen und postsowjetischen russischen Soziologie, also auch Lev Gudkovs und seiner Mitstreiter begreiflich. Sie hatte sich frei zu machen vom Prokrustesbett und den Simplifikationen des Historischen Materialismus Stalinscher Machart. Sie hatte die Brücke zu schlagen zu den vor- und nichtsowjetischen soziologischen Schulen in Russland wie im westlichen Ausland, wo die Zeit nicht stehen geblieben war Sie hatte einen intellektuellen Aneignungs- und Übersetzungsprozess zu bewerkstelligen, der die tödliche Isolation, das Herausfallen aus der internationalen Diskussion und die dadurch verursachten Langzeitschäden überwinden und heilen konnte. Vor allem aber mussten sie den Erfahrungsschatz der eigenen lebensweltlichen und geschichtlichen Erfahrung heben – es hatte für wenigstens zwei Generationen eben keine Sozialwissenschaft gegeben, die den Namen verdient hätte –, eine analytische und reflektierte Sprache finden für das, was bis dahin – ebenfalls nicht ohne Risiko – meist nur in der Sphäre der Kunst und Literatur verhandelt und öffentlich gemacht werden konnte: Soziologie als Organon des Nachdenkens der Gesellschaft über sich selbst. Die Neugründung der Soziologie als einer eigenen Disziplin war und ist ein komplizierter, mitunter dramatischer Prozess, wie an der Disziplinierung und den Berufsverboten von selbständigen Denkern wie Jurij Levada oder am Vorgehen des Putin-Regimes gegen das Levada-Zentrum als „ausländischem Agenten“ deutlich wird.

Doch zuweilen erweisen sich äußerlich verhängte Beschränkungen als Stimulans: Sie verweisen die Disziplin von vornherein auf andere Disziplinen, auf eine durch äußeren Eingriff provozierte Transdisziplinarität; sie lassen nie die Illusion aufkommen, Sozialwissenschaften seien eine aparte, jenseits des politischen Geschehens angesiedelte Aktivität; den Beteiligten ist immer klar: Wer sich der „Wissenschaft als Beruf“ verpflichtet, weiß um das Risiko. Was aber das Wichtigste ist: die spätsowjetische und postsowjetische russische Soziologie hat den Heimvorteil auf ihrer Seite, sie ist mit den Verhältnissen vertraut und ist zugleich durch die Reintegration in die internationale scientific community vor Betriebsblindheit und Provinzialität geschützt. Sie kennt die Diskurse über Totalitarismen, multiple modernities und postmoderne Subjektivität. Ihre Analyse ist Selbstanalyse, sie kommt nicht ohne theoretische Grundlagen aus, aber nicht um der Demonstration eines Modells, eines Paradigmas oder „turns“ wegen, sondern um sich einer überwältigenden Wirklichkeit zu stellen, für die es noch keine analytische Sprache gibt, die eben noch nicht „auf den Begriff“ gebracht worden ist: die sowjetische und die postsowjetische Realität. Die Verbundenheit mit dem Stoff, dem Material vor Ort macht die russische Soziologie vielleicht um einige Facetten auf dem Feld des Wissenschaftsbetriebs ärmer, macht sie aber wohl resistenter, wenn nicht sogar immun gegen diverse von außen herangetragene Normativismen und Projektionen. Das Paradigma der „Übergangsgesellschaft“ und des „Transformationsprozesses“, mit dem lange Zeit westliche Soziologen wie Wirtschaftsberater und thinks tanks der Wirklichkeit des postsowjetischen Russland zu Leibe rückten, hat sich als das Rückzugsgebiet einer Theorie erwiesen, die sich den Wunschtraum einer folgerichtigen Fortschrittsgeschichte nicht nehmen lassen will. Das letzte Reservat einer im Grunde teleologischen Weltwahrnehmung trifft auf die Forderung von Soziologen, es bei der empirischen Bestandsaufnahme, beim Konstatieren von Befunden und Befindlichkeiten zu belassen. Lev Gudkov versah schon vor langer Zeit das Narrativ von der Übergangsgesellschaft mit einem Fragezeichen und sprach von der „stationären Gesellschaft“ – mit allem, was dazugehört: der Primitivisierung und dem Zerfall der schon einmal erreichten institutionellen Formen und Strukturen, dem Zutagetreten archaischer Bewusstseinsformen und der Flucht in mythologische Weltbilder, der Resignation und der Erschöpfung einer Gesellschaft, die ihr Selbstverständnis und ihren Zusammenhalt weniger über ein forderndes und konstruktives Programm der Modernisierung des Landes gewinnt, als vielmehr aus der Abwehr eines vermeintlichen äußeren wie inneren Feindes. „Negative Identität“, „negative Mobilisierung“, „negative Integration“ – das sind Gudkovs immer wiederkehrende Termini – werden dann zur trügerischen Ressource für die Aufrechterhaltung einer wenigstens vorübergehenden Stabilität. Doch sie ändert nichts an der Stagnation, sondern treibt das Land immer weiter in die Sackgasse der Regression – mit unabsehbaren Konsequenzen der Destabilisierung, des Zerfalls und einer nach innen, aber auch nach außen abgeleiteten Aggressivität.

Gudkov ist der ebenso distanziert-kaltblütigen wie teilnehmend-engagierten Analyse der geistigen Befindlichkeit einer Bevölkerung unter den Bedingungen tektonischer Verschiebungen treu geblieben. Er hat keine frohen Botschaften, aber die hat die Sozialwissenschaft, die uns über den Zustand der Welt aufklären soll, in Zeiten der Krisen noch nie verkündet, das war nie ihr Beruf. Gudkov hat uns, gestützt auf die unter bedrohlichen Verhältnissen durchgeführten Umfragen, aufschlussreiche Analysen geliefert.

Wir können ermessen, was es bedeutet, wenn die Selbstreflexion der Gesellschaft, die sich das Levada-Zentrum und Lev Gudkov zur Aufgabe gemacht haben, umschlägt in die Sorge um die schiere Aufrechterhaltung der Bedingungen freier wissenschaftlicher Arbeit. Es besteht die Gefahr, dass sich in anderer Form wiederholt, was Russland vor 100 Jahren schon einmal um einige seiner besten Köpfe gebracht hat. In Gefahr ist die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Selbstdiagnose, ohne die Russland nicht auskommen wird.

 


[1]   Jurij Levada (Hg.): Sovetskij prostoj čelovek. Moskva 1993. Zuerst Deutsch: Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls. Berlin 1992.

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