Editorial
Ecce homo
(Osteuropa 1-2/2018, S. 3)
Volltext
Der Befund ist eindeutig. Es gibt keine Biographie über sie, keine populäre Monographie, keine Doktorarbeit. Nicht auf Russisch, nicht auf Englisch und nicht auf Deutsch. Dabei erhielt Svetlana Aleksievič 1996 den Tucholsky-Preis des schwedischen PEN, 1998 den Leipziger Buchpreis, 2011 den polnischen Kapuściński-Preis, 2013 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und 2015 den Nobelpreis für Literatur. Ihre Werke sind in fast 50 Sprachen übersetzt, die Auflage summiert sich zu Millionen. Anderen Autoren, die die Schwedische Akademie in den vergangenen Jahren ehrte, hat sich die Literaturwissenschaft durchaus zugewandt, Kazuo Ishiguro etwa oder Patrick Modiano. Warum nicht Svetlana Aleksievič? Die Suche nach einer Antwort führt ins Zentrum ihres Schaffens.
Svetlana Aleksievič hat mit ihren fünf zentralen Werken eine Geschichte der Nachkriegssowjetunion geschrieben und sie hat ein Porträt des Menschen als leidendes Wesen gezeichnet. Ihre Bücher übernahmen in der Sowjetunion die Funktion, die in anderen Gesellschaften kritische Sozialforschung und Geschichtswissenschaft innehaben. Doch die Historiker und Gesellschaftswissenschaftler fremdeln mit Aleksievičs Texten. Gewiss, sie gab ihnen immer wieder Anstoß, neue Fragen zu stellen. Wenn Aleksievič Menschen nach ihren Erfahrungen befragt, so betreibt sie Oral History. Und sie schreibt bereits mit ihrem ersten, 1985 erschienenen Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht auf der Höhe der Zeit Geschichte von unten. Auch sind ihre Texte eine Emotionsgeschichte avant la lettre. Ihr Umgang mit den Quellen jedoch – den Tonbandaufzeichnungen der Gespräche, die sie seit drei Jahrzehnten mit Menschen in Russland, Belarus und der Ukraine führt – entspricht nicht den Maßstäben des durch und durch rationalen wissenschaftlichen Arbeitens. Sie belässt nicht die Quelle in unbedingt unveränderter Form, um den in ihr enthaltenen Sinn auf einen sachlichen Begriff zu bringen. Sie bringt die Quellen – sprechende Menschen – zum Sprechen, indem sie sie arrangiert.
Aber Aleksievič versteht sich auch nicht als Historikerin, geschweige denn als Journalistin, wie es mancher Verlag nahegelegt hat, um sie auf dem Markt zu plazieren. Sie sieht sich vielmehr als Schriftstellerin. Zugleich bietet der dokumentarische Charakter ihrer Prosa wenig Ansatz für die Analyse mit den Mitteln der Philologie. Angesichts der erschütternden Zeugnisse der letzten Zeugen des Zweiten Weltkriegs oder der Frauen der Liquidatoren von Tschernobyl scheint sich die Frage nach Verfahren der Verfremdung oder nach intertextuellen Bezügen zu verbieten. Natürlich hat sie Vorläufer in der sowjetischen dokumentarischen Prosa – Aleksandr Solženicyn etwa, den sie jedoch nicht als solchen verstanden wissen will, oder Alesʼ Adamovič, der sie förderte. Und die vergleichende Lektüre kann auch zeigen, was das Besondere ist, das ihre Texte ausmacht: Dass sie anders als Solženicyn oder Adamovič die auktoriale Stimme zum Verschwinden bringt, dass sie nicht kommentiert, sondern montiert – ein höchst modernes Verfahren in jeder Kunst. Und doch schreibt Svetlana Aleksievič eine Literatur, bei der es schwer fällt zu fragen, wie sie gemacht ist.
… Die letzten zwei Tage im Krankenhaus … Teile der Lunge und der Leber kamen ihm aus dem Mund heraus … Er erstickte fast an den eigenen Innereien … Ich wickelte eine Binde um die Hand, um das alles aus seinem Mund herauszuholen … Das kann man nicht erzählen! Das kann man doch nicht schreiben!
Svetlana Aleksievič hat den Bann des Schweigens gebrochen und den Menschen weit über den Tag des Erzählens hinaus eine Stimme verliehen.
Manfred Sapper, Anja Tippner, Volker Weichsel