Titelbild Osteuropa 3-5/2018

Aus Osteuropa 3-5/2018

Editorial
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Abstract in English

(Osteuropa 3-5/2018, S. 5–6)

Volltext

In Ungarn hat der nationalkonservative Fidesz am 8. April 2018 zum dritten Mal in Folge die Parlamentswahlen gewonnen. Im Parlament verfügt die Regierung unter Viktor Orbán über eine Zweidrittelmehrheit. Der Fidesz kontrolliert alle staatlichen Institutionen des Landes; Leute der Partei besetzen seit Jahren Schlüsselpositionen in Ministerien, Ämtern und Gerichten, an Universitäten, im Rundfunk und im Fernsehen. Günstlinge des Ministerpräsidenten kontrollieren die Regionalpresse und wichtige Branchen der ungarischen Wirtschaft. Neue Gesetze engen den Spielraum der Zivilgesellschaft ein. Das System Orbán ist fest verankert.
In Polen baut die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) seit ihrem Erfolg bei den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen im Jahr 2015 das politische System um. Das Ziel der PiS unter Jarosław Kaczyński ist es, die Macht der Exekutive zu erweitern, um in der Politik durchgreifen und auf Wirtschaft und Gesellschaft zugreifen zu können. Die PiS hat das Verfassungsgericht entmachtet, die Unabhängigkeit der Justiz aufgehoben, die öffentlich-rechtlichen Medien auf Kurs gebracht und in Ministerien, Ämtern, Gerichten und Kultureinrichtungen einen systematischen Elitenaustausch in Gang gesetzt.
Handelt es sich um illiberale Demokratien? Nein. Ungarn ist nach acht Jahren Fidesz-Herrschaft eine liberale Autokratie – eine Autokratie, in der noch die Bürgerrechte gelten. Polens Regierung hat die Weichen in diese Richtung gestellt. Der Begriff der „illiberalen Demokratie“, den sich Orbáns Politstrategen ausgedacht haben, führt in die Irre. Er reduziert Demokratie auf Mehrheitsherrschaft und suggeriert, „liberal“ sei die Bezeichnung für ein System mit schrankenlosen Rechten des Individuums zulasten des Kollektivs. Gewiss, die vom Rechtsstaat verbürgten Rechte des Einzelnen stehen in einem Spannungsverhältnis zu dem Anspruch der in Wahlen ermittelten Repräsentanten der Mehrheit auf Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch die rechtsstaatliche Beschränkung der Macht ist Kern jeder Demokratie. Nicht umsonst steht die Furcht vor der Tyrannei der Mehrheit am Anfang des demokratischen Zeitalters. Nirgendwo ist dies klarer formuliert als in dem vor fast 200 Jahren geschriebenen Buch Über die Demokratie in Amerika.
Mehr noch: Wo die Gewaltenteilung aufgehoben ist, wo Kontrollinstanzen und institutionelle Gegengewichte beseitigt sind, wo das Recht nicht die Herrschaft beschränkt, sondern Instrument der Machtausübung ist, da verändert sich auch der Charakter der Wahlen. Zweifellos ist der Fidesz 2010 ebenso in freien Wahlen an die Macht gekommen wie 2015 die PiS. Doch bei den Wahlen in Ungarn 2018 traten der Fidesz als Partei der Macht und die Oppositionsparteien nicht zu gleichen Bedingungen an. Die Regierung setzte in großem Maßstab administrative Ressourcen ein und hat die Medienmacht des staatlichen Fernsehens und Rundfunks sowie der Sender und Zeitungen parteinaher Magnaten hinter sich. Die Oppositionsparteien verfügten nicht über vergleichbare Mittel. Nicht von ungefähr hat die OSZE davon gesprochen, dass die Wahlen zwar frei, aber nicht fair gewesen seien.
Sicher, in Ungarn wie in Polen sind elementare Freiheitsrechte des Individuums weiter in Kraft. Dies ist vor allem ihrer Einbindung in die Europäische Union zu verdanken. Es unterscheidet die beiden Staaten von den autoritär regierten Ländern im Osten der EU: Russland, Belarus, Aserbaidschan und der Türkei. Aber Ungarns Führung betrachtet autoritäre Staaten wie Russland, China oder die Türkei als taktische Verbündete in einem Abwehrkampf gegen die Europäische Union und ist bestrebt, mit ihnen ein taktisches Bündnis gegen die vermeintliche Brüsseler Kolonialherrschaft zu schmieden.
Alle Elemente dieses Denkens sind in dem Beitrag versammelt, den der Europaparlamentarier des Fidesz, György Schöpflin, für diesen Band verfasst hat. Eine supranationale Elite versuche mit Hilfe eines deterministischen Geschichtsbilds und der „sogenannten Menschenrechte“ einen quasifundamentalistischen Liberalismus durchzusetzen. Wie seit Jahrhunderten seien die Nationen Ostmitteleuropas auch heute wieder Opfer von Unterdrückung und erzwungener Modernisierung.
Doch niemandem wurde die Mitgliedschaft in der EU oktroyiert. Ungarn und Polen strebten, unter Beteiligung und zeitweise unter der Führung der Repräsentanten der heutigen Regime, selbst in die Union. Und es waren ihren damaligen Worten zufolge nicht nur sicherheitspolitische und ökonomische Erwägungen, die sie leiteten. Sie wollten einem Verbund demokratischer Rechtsstaaten angehören, auf dass dies ihren Gesellschaften mehr Freiheit ermögliche.
Heute hat in Ungarn der Angriff auf die offene Gesellschaft bereits begonnen. Das System Putin und das System Orbán ähneln sich in dieser Hinsicht immer mehr. Ein zentrales Element ist die Produktion von Feindbildern, die permanente negative Mobilisierung der Bevölkerung. Eine der Technologien der Macht sind suggestive Pseudovolksbefragungen. Zunächst zog Orbán gegen innenpolitische Gegner ins Feld, seit 2015 führt er eine xenophobe Kampagne gegen Migranten und gegen die EU unter dem Motto „Stoppen wir Brüssel!“. 2017 überzog die Fidesz-Regierung ganz Ungarn mit einer Plakatkampagne gegen den ungarischstämmigen Investor und Philantropen George Soros, die sich antisemitischer Stereotype bedient.
Es ist an der Zeit zu sagen, was Sache ist: Weder Ungarn noch Polen könnten in ihrer heutigen Verfassung noch Mitglied der EU werden. Sie erfüllen die Kopenhagener Kriterien nicht. Doch während Aspiranten aus diesem Grunde die Aufnahme in die EU verwehrt wird, können Polen und Ungarn nicht aus der EU ausgeschlossen werden. Gegen Polen hat die Europäische Kommission immerhin ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren eingeleitet. Im Falle Ungarns ist dies in den Jahren des Staatsumbaus in eine liberale Autokratie auch deshalb nicht geschehen, weil die Europäische Volkspartei, der der Fidesz angehört, es verhinderte. Dies könnte sich nun ändern. Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren kann in letzter Konsequenz zum Entzug des Stimmrechts oder zur Einstellung der Zahlungen aus den Struktur- und Investitionsfonds führen. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Nicht nur die rechtlichen Hürden sind hoch. In vielen Staaten Europas erodiert die liberale Demokratie. Ungarn und Polen sind Ausdruck dieses Trends, sie verschärfen ihn und tragen ihn in andere Staaten. Dies verschafft ihnen Schützenhilfe. Doch auch jene, die sich bewusst sind, dass die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und die Aufhebung der Gewaltenteilung die Grundlagen der EU angreifen, stehen vor einer schwierigen Aufgabe. Sie müssen stets so handeln, dass eindeutig erkennbar ist, dass ein Vorgehen gegen die Regime in Polen und Ungarn kein Selbstzweck ist. Stets geht es vor allem um eines: Jenen Menschen in Ungarn und Polen zur Seite zu stehen, die die Prinzipien der Offenen Gesellschaft und des liberalen Verfassungsstaats verteidigen und dafür von den Regierenden als „Söldner“, „Fremdherzige“, „Fünfte Kolonne“ oder „Polen der schlechten Sorte“ diffamiert werden.

Manfred Sapper, Volker Weichsel