Titelbild Osteuropa 6/2018

Aus Osteuropa 6/2018

Aufruhr um einen Partisanen
Eine litauische Erinnerungsdebatte

Alvydas Nikžentaitis, Joachim Tauber

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Abstract in English

Abstract

Ende 2017 erschütterte eine heftige Debatte die litauische Öffentlichkeit. Anlass waren Vorwürfe der Publizistin Rūta Vanagaitė, der Partisanenführer Adolfas Ramanauskas habe an der Ermordung der litauischen Juden mitgewirkt und später für den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet. Die Vorwürfe erwiesen sich als unhaltbar. Die Schärfe der Auseinandersetzung ist ein Indikator dafür, wie stark der Partisanenkampf als nationaler Mythos verankert ist und jede Infragestellung dieses Mythos als Angriff auf das litauische heroische Selbstbild einer um Freiheit kämpfenden Nation verstanden wird.

(Osteuropa 6/2018, S. 83–90)

Volltext

Im Spätherbst 2017 erschütterte eine heftige Debatte Litauen. Anlass war eine Äußerung der Publizistin Rūta Vanagaitė, in der sie erhebliche Vorwürfe gegen Adolfas Ramanauskas erhob. Dieser hatte als Partisan gegen die sowjetische Besatzungsmacht gekämpft, war 1957 hingerichtet worden und spielt bis heute für das Selbstverständnis der Litauer eine zentrale Rolle. Auf den Sturm der Entrüstung über Vanagaitės Äußerungen reagierte ihr Verlag mit der Entscheidung, alle ihre Bücher aus dem Sortiment zu nehmen. Der in den USA aufgewachsene Schriftsteller und Philosoph Kėstutis Girnius prognostizierte, dass diese Verlagsentscheidung in Westeuropa mit der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten verglichen werden würde.[1] Tatsächlich wurde die litauische Debatte in Teilen der westeuropäischen Öffentlichkeit als nationalistisch-populistische Erregung wahrgenommen.

Um zu verstehen, weshalb Vanagaitės Äußerungen in Litauen einen derartigen Skandal auslösen konnten, muss man sich die Bedeutung vergegenwärtigen, welche die Geschichte der litauischen Partisanen für die litauische Erinnerungskultur hat. Die Partisanen erfüllen hierin die Funktion eines nationalen Mythos:

Nationen und Staaten brauchen, um eigene politische Identität zu entwickeln, historische Mythen, bei denen der Sinngehalt oft wichtiger ist als das rein Faktische … Und diese Mythen müssen nicht zwangsläufig Erfolgsgeschichten sein, man findet auch Erzählungen von langen Irrwegen und einer dann doch noch erfolgten Rettung.[1]

Die Geschichte der litauischen Partisanen, die von 1944 bis 1954 gegen die Sowjetmacht gekämpft hatten und während der litauischen Sowjetrepublik als Banditen und Faschisten diffamiert wurden und der damnatio memoriae anheimgegeben werden sollten, erfüllt die Kriterien idealtypisch, die nach Ronald G. Asch erfüllt sein müssen, um von einem historischen Mythos sprechen zu können. Die „Waldbrüder“ stehen pars pro toto für den Freiheitskampf Litauens gegen die widerrechtliche sowjetische Okkupation der selbständigen Republik im Juni 1940. Dieser „Irrweg“ endete mit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit („Rettung“) 1989/91; die friedliche und demokratische Nationalbewegung konnte nur erfolgreich sein, weil sich die litauische Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg ihre eigene Identität bewahrt hatte. Jetzt wurden die „Waldbrüder“ und die nach Sibirien Deportierten, deren Zahl in die Hunderttausende ging, zum Mythos; sie verkörperten und verkörpern in besonderer Weise die Kontinuität des Strebens nach Unabhängigkeit zwischen 1940 und 1989.

Ein Teil dieses kollektiven Narrativs verdichtet sich in der Person Adolfas Ramanauskas. Unter dem Decknamen Vanagas (dt. Habicht) symbolisiert er wie kein anderer die Bedeutung des bewaffneten Widerstandes und steht für eine erinnerungspolitische Interpretation des Geschehens. Ramanauskas ging 1945 in die Wälder, war ab 1951 Anführer des bewaffneten Widerstands, geriet 1956 in die Hände des KGB und wurde 1957 erschossen.[1] Seine Autobiographie Daugel krito sūnų … (So viele gefallene Söhne) erschien 1991 und zählt zu den meistgelesenen Publikationen über die „Waldbrüder“.[2] In dem Büchlein schildert Ramanauskas sein Leben bis Anfang 1952; seine Aufzeichnungen widmete er seiner Tochter Auksutė, der er wünscht, es möge ihr vergönnt sein, eines Tages in einem demokratischen Litauen zu leben.[3]

Es ist wenig verwunderlich, dass das litauische Parlament anlässlich des 100. Geburtstages des Partisanenführers plante, das Jahr 2018 zum Gedenkjahr an Ramanauskas zu erklären, um an den Widerstand gegen die sowjetische Okkupation zu erinnern.[4]

In dieser Situation gab Rūta Vanagaitė am 25. Oktober 2017 ein Interview für das Internetportal des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das Gespräch war als Werbung für ihre am folgenden Tag erscheinende Autobiographie gedacht. Als Vanagaitė auf das Ramanauskas-Gedenkjahr angesprochen wurde, meldete sie massive Zweifel an der Entscheidung des Parlaments an. Ihre eigenen Forschungen hätten ergeben, dass Ramanauskas Agent des sowjetischen Geheimdienstes gewesen sei. Er habe nach seiner Festnahme 27 Mitkämpfer verraten, sei in der Haft keineswegs gefoltert worden und habe in den Verhören gar die Sowjetmacht verherrlicht. Außerdem behauptete Vanagaitė, ihr Lebensgefährte Efraim Zuroff, Leiter des Jerusalemer Büros des Simon-Wiesenthal-Centrums, verfüge über Belege, dass Ramanauskas sich während der deutschen Besatzung an der Ermordung litauischer Juden beteiligt habe. Obwohl sie diese Dokumente nicht in den Händen gehalten habe, gehe aus ihnen hervor, dass Ramanauskas während der Morde Anführer einer Einheit der Baltaraiščiai, der prodeutschen litauischen Aufständischen, gewesen sei.[5] Wörtlich sagte Vanagaitė: „Vielleicht hat er selbst nicht geschossen und es nicht organisiert, dennoch war er Teil dieses Prozesses“[6]

Die meisten Stimmen in der sofort einsetzenden Debatte setzten sich nicht mit einer Beteiligung von Ramanauskas am Holocaust auseinander, sondern konzentrierten sich auf sein Verhalten in sowjetischer Gefangenschaft. Bereits in dieser Phase beendete Vanagaitės Verlag Alma littera die Zusammenarbeit mit der Autorin, nahm alle ihre Bücher aus dem Verkauf und strich sie aus dem Sortiment.[7]

Bereits kurz nach Vanagaitės Interview wurde klar, dass ihre Vorwürfe unhaltbar waren. Litauische Historiker brachten ihre Kenntnisse in die Diskussion ein:

 

 

Nach dieser Klarstellung durch litauische Historiker äußerte Vanagaitė ihr Bedauern „über ihre anmaßenden und voreiligen Kommentare“.[9]

Wie ist der Auftritt der Schriftstellerin zu erklären? Rūta Vanagaitė (*1955) ist eine Theaterwissenschaftlerin, die sich als Quereinsteigerin der litauischen Geschichte zuwandte. Sie war in den 1990er Jahren als künstlerische Direktorin für Kunstfestivals verantwortlich. Politisch engagierte sie sich in zwei liberalen Parteien, ehe sie der breiten Öffentlichkeit als Publizistin bekannt wurde.[10]

Berühmtheit erlangte sie durch ihre Holocaust-Spurensuche in Litauen. Das vielbeachtete und außerhalb Litauens teilweise euphorisch besprochene Buch Mūsiškiai (Die Unsrigen) erzielte eine große Resonanz. In sehr persönlicher Form nähert sie sich der Ermordung der litauischen Juden. Sie schildert ihre gemeinsam mit Efraim Zuroff unternommene Reise an die Tatorte des Holocaust in Litauen.[11] Der vermeintlich spektakuläre Plot des Buches, dass die Litauer aktiv am Judenmord mitgewirkt hätten, war jedoch alles andere als eine Neuigkeit. Das Thema ist seit Jahren breit erforscht und auch in der Gesellschaft kein Tabu mehr – selbst wenn der eine oder andere westliche Autor gerne noch das Gegenteil behauptet.[12] Es gibt zu dem Thema eine breite akademische und nichtakademische Literatur, und seit Jahren führt die internationale Kommission zur Erforschung der nationalsozialistischen und sowjetischen Verbrechen ein Holocaust-Fortbildungsprogramm für litauische Geschichtslehrer durch.[13] Vielleicht kann man die Wirkung von Mūsiškiai mit der Fernsehserie Holocaust vergleichen, die bei ihrer Ausstrahlung in der Bundesrepublik Deutschland 1979 ebenfalls eine breite gesellschaftliche Wirkung entfaltete, auch wenn die Fakten über die Geschichte der Ermordung der europäischen Juden weitgehend bekannt waren.

Es ist offensichtlich, dass der Erfolg ihres Buches Mūsiškiai Rūta Vanagaitė davon überzeugte, dass sie in der Lage sei, historische Dokumente zu verstehen und zu analysieren. Was Historiker als Quellenkritik bezeichnen, also die Interpretation der vorgefundenen Informationen, eine differenzierte Herangehensweise und eine umfassende Inaugenscheinnahme des Quellenkorpus, wendete die Schriftstellerin offenkundig nicht an. Dies hatte nun fatale Folgen: Nach ihren Aussagen sah sie nur einen Teil des KGB-Aktenbestandes zu Ramanauskas während ihrer Arbeit an Mušiskiai ein.[14] Die Quellen, die ihr vorlagen, stammen aus den Verhören der stalinistischen Staatssicherheit, sie wurden unter Folter erpresst und zählen damit zur schwierigsten Quellengattung, die Historiker einer Kritik zu unterziehen haben.[15] Schließlich unterließ es die Autorin, die in großem Umfang vorhandene wissenschaftliche Literatur zu Ramanauskas und der litauischen Partisanenbewegung zu Rate zu ziehen. Seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre liegen zahlreiche Arbeiten vor. Die Forschung ist höchst differenziert: Neben Monographien,[16] Darstellungen der Kämpfe der Partisanen,[17] Täterbiographien,[18] Flugblättern und Zeitungen der Waldbrüder[19] erscheint seit 1997 die wissenschaftliche Zeitschrift Genocidas ir Rezistencija. Das Gros der Beiträge ist der sowjetischen Besatzung und den verschiedenen Formen des Widerstands gewidmet.[20]

Die öffentliche Reaktion in Litauen war von Beginn an hochgradig erregt; sie zeichnete sich nicht durch Differenzierung und Gelassenheit aus, sondern zielte auf persönliche Verunglimpfung. Dies hatte natürlich damit zu tun, dass sich der Angriff gegen einen nationalen Mythos richtete. Rūta Vanagaitė bezichtigte Ramanauskas als Symbol der gesamten Gesellschaft all jener Untaten, derer sich Litauer im 20. Jahrhundert schuldig machen konnten: der Beteiligung am Holocaust, der Kollaboration mit den Sowjets und des Verrats von Landsleuten an den NKVD.

In Litauen sind Reaktionen wie diese keine Seltenheit, wenn es um die Zeitgeschichte geht. Einen ähnlichen Aufruhr hatte vor geraumer Zeit der ehemalige sozialistische Politiker Algirdas Paleckis, seines Zeichens Enkel des ex-sowjetlitauischen Politikers Justas Paleckis, verursacht. Bei dem Versuch, in der Spätphase der Sowjetunion eine friedliche Demonstration für die Freiheit und Unabhängigkeit Litauens vor dem Fernsehturm in Vilnius aufzulösen, hatte ein sowjetisches Sondereinsatzkommando am 13. Januar 1991 mehrere Litauer getötet. Paleckis behauptete gut zwei Jahrzehnte später, es gebe Hinweise, dass litauische Scharfschützen auf die eigenen Landsleute geschossen hätten. Paleckis wurde 2012 zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er die sowjetische Aggression gegen Litauen geleugnet habe.[21] Ähnlich hitzige Debatten in der Öffentlichkeit gab es über die Frage, ob Litauen 50 Jahre lang von der Sowjetunion okkupiert gewesen sei und die gesamte Geschichte der Litauischen Sowjetrepublik ausschließlich als Fremdherrschaft interpretiert werden könne.[22]

Die litauische Öffentlichkeit reagiert insbesondere dann besonders emotional, wenn es darum geht, Aussagen zurückzuweisen, die dem herrschenden Erinnerungsnarrativ und dem litauischen Selbstverständnis widersprechen. Das gilt umso mehr, wenn diese Behauptungen einer faktischen Grundlage entbehren.

Überspitzt formuliert schlägt die herrschende erinnerungspolitische Erzählung einen Bogen vom mittelalterlichen Großfürstentum Litauen mit den heroischen Höhepunkten der Königskrönung von Mindaugas und der Regierungszeit des Großfürsten Vytautas des Großen zur erfolgreichen Integration Litauens in die Europäische Union. Der Sieg, den Vytautas mit den Polen – und einem russischen Kontingent – gegen den Deutschen Orden bei Tannenberg 1410 errang, gilt als historisches Beispiel für die Richtigkeit des litauischen Eintritts in die NATO als internationales Militärbündnis. Das Leitmotiv dieser Geschichtsinterpretation ist das Ringen um staatliche Selbst­bestimmung und Eigenständigkeit.

Das Motiv des „Freiheitskampfes“ wurde nach 1990 keineswegs zufällig zum zentralen Element der litauischen Erinnerungskultur. Er löste das bisher gültige Symbol des mittelalterlichen Großfürstentums als Goldenes Zeitalter Litauens ab. Dazu trug auch das öffentliche Gedenken an die „Waldbrüder“ bei. Aufgrund der nun zugänglichen Akten gelang es zu ermitteln, wo die Sowjetmacht die menschlichen Überreste der Partisanen verscharrt hatte. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurden die Leichen der Partisanen exhumiert und auf Friedhöfen umliegender Dörfer oder in Gedenkstätten bestattet.

In den letzten Jahren ist eine Akzentverschiebung auf den Zweiten Weltkrieg und die sowjetische Besatzung festzustellen. Ein großer Teil der im Winter 2017/2018 aufflammenden Diskussion war bereits im Jahr 2005 Thema gewesen, als Präsident Valdas Adamkus Russlands Einladung absagte, an der Gedenkveranstaltung in Moskau zum 60. Jahrestag der deutschen Kapitulation teilzunehmen. Zu schwer wogen für die meisten Litauer die Massendeportation von Litauern nach Sibirien, der bewaffnete Widerstand gegen die Sowjets, der dramatische Freiheitskampf der litauischen Nationalbewegung Sąjūdis in der späten Sowjetunion sowie die Morde vom 13. Januar 1991, als dass das Staatsoberhaupt der Republik Litauen den Sieg der Sowjetunion hätte feiern können.[23] In der Tat: Im kollektiven Gedächtnis der Litauer hat der 9. Mai 1945 keine Bedeutung, wohl aber der 23. August 1939 als Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes. Die Abmachungen der beiden Diktatoren bedeuteten den Verlust der litauischen Unabhängigkeit und werden als Auftakt der dunkelsten Periode der litauischen Geschichte verstanden. Das Wort Pokaris (Nachkrieg) steht in Litauen in geradezu paradoxer Begriffsumkehr für die eigentlichen Gewalterfahrungen der litauischen Bevölkerung und die gnadenlose stalinistische Machtausübung. Für viele Menschen in Litauen begann der Krieg in ihrem Lande mit der Rückeroberung der Sowjetrepublik im Sommer und Herbst 1944 und nach der deutschen Niederlage, da das Regime nun die benötigten Kapazitäten zur „Befriedung“ des Landes zur Verfügung hatte. Die kollektive Erfahrung der Litauer – so gut wie keine Familie blieb von Deportation, Verhaftung oder Repression verschont – führte zu einer weiteren Idealisierung des Partisanenkampfes.

Vor diesem Hintergrund wurde Adolfas Ramanauskas nach 1990 zur Verkörperung des litauischen Freiheitsnarrativs; es ging daher nie nur um die Person eines noch so hochberühmten Partisanenführers, sondern um das mit ihm verbundene Geschichtsbild. Das Thema erhitzte nun immer wieder die Gemüter. Im Sommer 2017 löste ein kurzer Dokumentarfilm Die Waldbrüder kämpfen für das Baltikum auf dem offiziellen Youtube-Kanal der NATO eine Reaktion des russländischen Außenministeriums (MID) aus.[24] Die Pressesprecherin Maria Zacharova bezeichnete die baltischen Partisanen als Faschisten, die ihrer Strafe entkommen seien, weil sie während des Holocausts friedliche Bürger ermordet hätten.[25] Daraufhin richtete der litauische Journalist Andrius Tapinis die Facebook-Seite ein „Kreml, Du wirst unsere Geschichte nicht schreiben“, die mehr als 13 000 Follower hatte.

Vanagaitės Bemerkungen im Oktober 2017, in denen sie Ramanauskas mit den Massenmorden an den Juden während der deutschen Besatzung in Verbindung brachte und ihn als NKVD-Zuträger zu entlarven glaubte, gingen in die Richtung von Maria Zacharovas Vorwürfe, die ihrerseits die jahrzehntelange sowjetlitauische Propaganda wiederholt hatte, bei den Partisanen handle es sich um Banditen und Faschisten. Mehr als das: Bereits einige Wochen zuvor hatte sie in St. Petersburg auf die Frage nach der Zukunft Litauens, Europas und Russlands geantwortet, ganz Litauen reise nach Westen (eine Anspielung auf die nach dem EU-Beitritt große Mobilität junger gebildeter Litauer), die Häuser, die die Litauer einst von den Juden übernommen hätten, nachdem sie diese erschossen hätten, stünden jetzt leer. Nur Vladimir Putin könne die Abwanderung stoppen, indem er die baltischen Staaten erneut okkupiere. Diesen Sarkasmus goutierten nicht alle Litauer: Die teilweise vehemente Ablehnung dieser Aussagen bereitete den Boden für die noch schärfere Kritik an Vanagaitė nach ihren Äußerungen zu Ramanauskas.[26]

Die litauische Diskussion erregte auch international Aufsehen. Viele Beobachter reagierten vorschnell. Der „Kongress europäischer Juden“ warf Litauen vor, Menschen zu verehren, die mit den Nationalsozialisten kollaboriert und aktiv an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen seien. Die Jewish Telegraphic Agency (JTA) glaubte, eine Verschwörung zu erkennen und behauptete, der Verlag Alma Littera habe den Stab über Rūta Vanagaitė gebrochen, als bekannt wurde, dass Efraim Zuroff ihr Lebens­gefährte sei. Dies, so die JTA, sei litauischer Antisemitismus.[27] In Deutschland veröffentlichte Spiegel-Online am 2. November eine Schilderung des „Skandals“.[28] Der Autor Keno Verseck erweckte den Anschein, es werde vor allem die litauische und Ramanauskasʼ Beteiligung am Holocaust diskutiert. Entgegen der eindeutigen historischen Sachlage schrieb er: „Ob Ramanauskas sich an der Ermordung von Juden, etwa in der Kleinstadt Druskininkai, beteiligt hat, wird diskutiert. Doch es gibt keine Beweise.“ Der Artikel stand unter dem Titel: „Judenmörder, Kollaborateure, KGB-Agenten“. Polnische Medien wiederum glaubten, in ihrem litauischen Nachbarstaat ein kollektives Schweigegebot ausmachen zu können: „Worüber man in Litauen nicht sprechen darf.“[29]

Beim Umgang mit der Vergangenheit ist Vorsicht geboten. Das hätte Rūta Vanagaitė bedenken sollen, als sie ohne empirisch fundierte Argumente ein Symbol der litauischen Partisanenbewegung angriff. Aber auch die litauische Öffentlichkeit sollte bedenken, dass die eigene Identität nichts sein kann, was ehern festgeschrieben und unveränderbar ist. Die letzten Diskussionen um den Aufstand vom Juni 1941 und die Bewertung von Kazys Škirpa geben zu dieser Hoffnung Anlass. Damals war es im Moment des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion zu einem weitgehend spontanen Aufstand gegen die Sowjetmacht gekommen. In Berlin hatte der ehemalige litauische Gesandte Kazys Škirpa 1940 die Litauische Aktivistenfront gegründet, die mit Wehrmacht und SD kollaborierte. Teile der Aufständischen beteiligten sich an den Pogromen und der Ermordung der Juden, Škirpas Aktivistenfront übernahm eindeutig nationalsozialistisches und antisemitisches Gedankengut. Alle Versuche, den Aufstand von 1941 als Teil des litauischen nationalen Gedenkens zu verankern, scheiterten bis heute an einer kritischen Gesellschaft und den offenen Diskussionen über den Sachverhalt. [30]

Die Debatte über Rūta Vanagaitė hinterließ ein zwiespältiges Echo. Einerseits neigt ein Teil der litauischen Gesellschaft noch stärker den heroischen Geschichtsnarrativen zu und glaubt, diese „verteidigen“ zu sollen, andererseits entwickelte sich aus der emotionalen Zurückweisung der Behauptungen Vanagaitės auch eine Initiative, die auf große positive Resonanz in der litauischen Öffentlichkeit stieß: Der Vorsitzende der litauischen Christdemokraten Gabrielius Landsbergis und der Abgeordnete Mantas Adomėnas brachten in den Seimas einen Antrag ein, das Jahr 2019 zum Gedenkjahr für die litauischen Juden zu machen. Es folgten Vorschläge, das Jahr 2020 aufzugreifen, denn dann könne auch der 300. Geburtstag des berühmten Gaon von Vilnius begangen werden. So bleibt als Ergebnis einer völlig unnötigen Diskussion festzuhalten, dass die erinnerungspolitischen Debatten an Schärfe zugenommen haben und der Umgang mit der Vergangenheit wieder stärker unter antagonistischen und politisierten Vorzeichen steht.

 


[1]   Vgl. hierzu den Beitrag von Arūnas Bubnys in diesem Band, S. 115–126.

[2]   Adolfas Ramanauskas (Vanagas): Daugel krito sūnų. Vilnius 1991.

[3]   Auksutė ist die Koseform des Vornamens Auksė. Ebd., S. 3.

[4]   Das beschloss der Seimas am 16.11.2017 einstimmig. Daneben beschloss das Parlament, 2018 auch des 30. Jahrestages der Gründung der Initiativgruppe der Nationalbewegung Sąjūdis und des hundertjährigen Geburtstages von Vater Stanislovas, Algirdas Mykolas Dobrovolskis, zu gedenken. <www.lrs.lt/sip/portal.show?p_r=119&p_k=1&p_t=252744>.

[5]   Wörtlich „Weißarmbindler“. Die Bezeichnung entstand wegen des weißen Armbandes der Aufständischen. Für viele Juden waren die Aufständischen ein Symbol des Terrors, denn vom ersten Tag der deutschen Besatzung kam es zu Gewalt und Mord durch Baltaraiščiai.

[6]   <www.lrt.lt/naujienos/lietuvoje/2/ 191164/ r-vanagaite-pries-istorikus-kuri-puse-nemato-parti zano-vanago-veiksmu-visumos>, <www.lrt.lt/naujienos/lietuvoje/2/191164/r-vanagaite-pries-istorikus-kuri-puse-nemato-partizano-vanago-veiksmu-visumos>. – Dazu auch Alvydas Nikžentaitis: Kto mordował Żydów na Litwie? Jak nasi sąsiedzi walczą z mitami narodowymi. Gazeta Wyborcza. Magazyn Świąteczny, 20.1.2018, <http://wyborcza.pl/ magazyn/7,124059,22921007,kto-mordowal-zydow-na-litwie-jak-nasi-sasiedzi-walcza-z.html>.

[7]   Dagegen klagte die Autorin. Anfang 2018 einigte sie sich mit dem Verlag auf einen Vergleich. Die Autorin erhielt die gesamte Auflage ihrer Bücher (über 26 000 Exemplare) als Kompensation. <www.lrt.lt/naujienos/lietuvoje/2/201846/r-vanagaite-atgaus-is-alma-littera-visas-savo-knygas>.

[8]   Siehe dazu den Beitrag von Arūnas Bubnys in diesem Heft, S. 115–126.

[9]   <www.15min.lt/naujiena/aktualu/lietuva/rutos-vanagaites-atsiprasymas-del-a-ramanausko-vanago-as-to-nezinojau-56-876482>.

[10] <https://lt.wikipedia.org/wiki/Rūta_Vanagaitė>.

[11] Rūta Vanagaitė: Mūsiškiai. Vilnius 2016. Teilweise werden die Gespräche als direkte Dialoge wiedergegeben. Bei der polnischen Ausgabe des Buches firmiert Efraim Zuroff als Ko-Autor. Rūta Vanagaitė, Efraim Zuroff: Nasi. Podróżuja̜c z wrogiem. Warszawa 2017.

[12] Felix Ackermann: Hätten Sie kollaboriert? FAZ, 21.11.2017. – Dazu die Replik: Joachim Tauber: Pauschale Vorwürfe. FAZ, 25.11.2017.

[13] Zur Kommission <www.komisja.lt>. Saulius Sužiedėlis: The International Commission for the Evaluation of the Crimes of the Nazi and Soviet Occupation Regimes in Lithuania: Successes, Challenges, Perspectives, in: Journal of Baltic Studies, 1/2018, S. 103–116.

[14] <www.alfa.lt/straipsnis/50230745/istorikas-dauzo-r-vanagaites-teiginius-ka-ji-nuslepe>.

[15] Ähnlich schwierig ist der historiographische Umgang mit den Vernehmungsprotokollen deutscher Staatsanwälte im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Verbrechen: Zum einen suchten die Staatsanwälte nach Beweisen für Strafverfahren, nicht nach der historischen Wahrheit, zum anderen war den Angeklagten und einem Teil der Zeugen bei den Vernehmungen nicht daran gelegen, die eigene Rolle wahrheitsgemäß zu beschreiben.

[16] Arvydas Anušauskas (Hg.): Lietuva 1940–1990. Okupuotos Lietuvos istorija. Vilnius 2005. – Izidorius Ignatavičius (Hg.): Lietuvos naikinimas ir tautos kova. 1940–1998. Vilnius 1999. – Eugenijus Grunskis: Lietuvos gyventojų trėmimai 1940–1941, 1945–1953 metais. Kaišiadorys 1996. – Außerdem sei verwiesen auf die mit einer umfangreichen Einführung versehenen Dokumentenbände der Internationalen Kommission zur Erforschung der nationalsozialistischen und sowjetischen Verbrechen in Litauen. <www.komisija.lt>.

[17] Nijolė Gaškaitė: Lietuvos partizanai 1944–1953 m. Kaunas 1996. – Kęstutis Kasparas: Lietuvos karas. Antroji Sovietų Sąjungos agresija. Pasipriešinimas. Ofenzyvinės gynybos tarpsnis 1994 m.–1946 m. Pavasari. Kaunas 1996. – Dalia Kuodytė: Laisvės kovos 1944–1953 metais. Kaunas 1996. – Mindaugas Pocius: Kita menuelio pusė. Lietuvos partizanų kova su kolaboravimu 1944–1953 metais. Vilnius 2009.

[18] Liudas Truska u.a.: Sovietinis saugumas Lietuvoje 1940–1943 metais. Vilnius 1999 – Juozas Starkauskas: Čekistinė kairiuomenė Lietuvoje 1944–1953 metais. Vilnius 1998. – Juozas Starkauskas: Stribai. Ginkluotieji kolaborantai Lietuvoje partizaninio lkaro laikotarpiu (1944–1953). Vilnius 2001.

[19]  Nijolė Gaškaitė-Žemaitienė: Partizanai apie pasaulį politiką ir save. 1944–1956 m. Partizanų spaudos publikacijos. Vilnius 1998.

[20] <http://genocid.lt/centras/lt/1199/a/>. Seit Ende der 1990er Jahre erscheinen auch Beiträge zur deutschen Besatzung und insbesondere zum Holocaust in der Zeitschrift.

[21] Gegen Rūta Vanagaitė wurde kein Verfahren eingeleitet, wie das Bezirksgericht Vilnius im Dezember 2017 und trotz einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft mitteilte, es liege keine strafbare Handlung vor.

[22] Beispiele dieser Diskussion unter <www.delfi.lt/news/ringas/lit/vlandsbergis-lietuva-nera-atsakinga-uz-okupantu-valdzios-veiksmus.d?id=16596396> und <www.delfi.lt/news/ringas/ lit/tbaranauskas-kur-veda-anikzentaicio-lietuvos-istorijos-revizija.d?id=16772414>.

[23] Einladung aus Moskau verwirrt die Balten. NZZ, 11.2.2005, <www.nzz.ch/articleCL8EQ-1.91676>. Die litauische Diskussion unter: <www.delfi.lt/news/daily/lithuania/vadamkus-nevyks-i-iskilmes-maskvoje.d?id=6195199>.

[24] The Forest Brothers – Fight for the Baltics. <www.youtube.com/watch? v=h5rQFp7FF9c>. – Dazu auch: Rudolf Hermann: Die Nato sticht in ein historisches Wespennest. Ein eindimensionaler Film über baltische Partisanen erhitzt die Gemüter. NZZ, 3.8.2017.

[25] Zitiert nach: <www.delfi.lt/news/daily/medijos-karas-propaganda/rusija-isiutino-nato-filmas-apie-baltijos-saliu-istorija-partizanus-isvadino-paniekinamais-zodziais.d?id=75214796>. – Dazu auch das kremlnahe Internetportal: <https://sputniknews.lt/russia/20170713/ 3431954/zacharova-facebook-kritikuoja-nato-vaizdo-irasa-apie-misko-brolius.html>.

[26] <www.delfi.lt/news/daily/medijos-karas-propaganda/r-vanagaites-sarkazmas-vienintelis-budas-isgelbeti-lietuva-jei-ja-okupuotu-v-putinas.d?id=76177405>.

[27] Zit nach: Jerzy Hasczynski: Czego nie można mówić na Litwie. <www.rp.pl/Polityka/3110 39955-Czego-nie-mozna-mowic-na-Litwie.html>.

[28]  Keno Verseck: Judenmörder, Kollaborateure, KGB-Agenten. Litauische Autorin löst Geschichtsstreit aus. Spiegel-Online, 2.11.2017, <www.spiegel.de/politik/ausland/ litauen-bestseller-autorin-ruta-vanagaite-kratzt-am-nationalmythos -a-1175646.html>.

[29] Ebd.

[30] <www.15min.lt/naujiena/aktualu/lietuva/bus-viesa-diskusija-ar-vilniui-reikia-zydu-zudymu-itariamo-k-skirpos-alejos-56-654971>.


[1]   Ronald G. Asch: Das Selbstbild des Unbelehrten. FAZ, 3.1.2018, S. 9.


[1]   Kėstutis Girnius: Vanagaitė ir Murza. 7.11.2017, <www.delfi.lt/news/ringas/lit/k-girnius-vanagaite-ir-murza.d?id=76277537>.

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